Die Kunst des Kammermusikfestival-Kuratierens: viel Musik, aber nicht überfordern; Wechsel der Konzertsäle und Formate, variable Längen, gute Künstlerdurchmischung, ein spannendes Thema. Alles das hat Leif Ove Andsnes auch bei der vierten, diesmal Dmitri Schostakowitsch & Friends gewidmeten Ausgabe seines Rosendal Chamber Music Festivals berücksichtigt. Wobei die schöne, doch intensive Atmosphäre in der Scheune des intimen Schlösschen am Hardangefjord geographisch wie ästhetische das Ihrige tut, um dieses verlängerte Wochenende zu einem eindrücklichen Ohr- und Augeerlebnis werden zu lassen. Zwischen der Musik gibt es Gespräche und Diskurse darüber, es ist genügend Essenzeit, aber auch Muse für Spaziergänge zum Wasserfall oder zwischen den Bergen Melderskin und Malmangernuten zum Hochtal wandern, über dem der Folgefonna-Gletscher züngelt.
Wie also sieht nun so ein Work/Festival Flow in Norwegen aus? Wir starten den zweiten Festival-Tag in der Kvinnherad-Steinkirche von 1250, die sich trotzig über der Küste erhebt. Und natürlich schweift der Blick erst einmal über die sonnige Meerlandschaft. Wie Kirchgänger ziehen auch die Konzertbesucher ein. Drinnen ist der blaue Holzhimmel mit Sternen bemalt, ein Schiffsmodell hängt im Raum. Hier ist die Stimmung noch konzentrierter. Trotzdem gibt es erst bessere, durchaus auch ambivalente Unterhaltungs- und Gelegenheitsmusik von Schostakowitsch & Co in kleiner Besetzung. Jugendwerke zumeist, die von seinem vielfältigen Stilspektrum künden.
Das eminent festivalwichtige, ungemein dicht musizierende Quatuor Danel setzt mit zwei Stücke für Streichquartett von 1931 den Anfang. Aus Balletten und Filmmusiken wurden 1955 die fünf Stücke für zwei Violinen und Klavier kompiliert, die Veriko Tchumburidze und Sonoko Miriam Welde, zwei echte Entdeckungen, mit makellos reinem Ton seinsvergessen klar, aber auch nachdenklich spielen; der vielbeschäftigte Sasha Grynyuk ist ihr distinguierter Klavierbegleiter. Er und die ebenfalls so versatile wie anschlaggewandte Pianistin Marianna Shirinyan sind anschließend mit den drei Stücken der originalen 2. Jazz Suite von 1938 zu hören, Annäherungen an Populärmusik, aber eben mit einem schrägen Schostakowitsch-Touch.
Dazu passend krönt vor der Pause Tabea Zimmermann, sekundiert von Shiriniyan, mit ihrem sämig-zarten, runden, aber nie fetten Ton ein Bratschenarrangement von fünf Tänzen aus Sergej Prokofiews Ballett „Romeo und Julia“. Der zweite, dunklere Konzertteil konzentriert sich auf zwei Werke, drei verstörende Klavierlieder Alexander Vustins – auch er eine aufregende Festival-Überraschung als Composer in Residence –, gespielt von Sasha Grynyuk, sowie die verloren depressive, sich aber immer wieder hoffnungsaufraffende Cellosonate Schostakowitschs, hervorragend klangsensibel und schön ausgewogen gespielt von Clemens Hagen und Marc-André Hamelin. Danach müssen die Musikfreunde hinaus ins Offene, die Natur lockt unaufhaltsam.
Freitag ist der Marathontag. Vier Hörstationen sind zu absolvieren, aber das empfindet keiner als Pflicht, eher als konzentrierte Lust. Oben in der Baronie erfüllt zudem Instrumentalnachwuchs aus der örtlichen Musikschule die Salons und Zimmer mit ihren Biedermeiermöbeln, eisernen Öfen (einer in Gestalt einer griechischen Göttin) und nationalromantischen Bildern. Unterdessen sprechen Leif Ove Andses und sein Berater Gerard McBurney über die schillernden Schostakowitsch-Facetten dieses Programm-Kaleidoskops.
Und um vier Uhr geht es weiter in der großen Scheunenhalle, wo an den Wänden Bildschirme eine virtuelle Ausstellung mit sowjetischer Propagandakunst zeigen, während die bisweilen mit musikalischen Themen aufwartenden Bilder von Svein Johansen, die an die stimmungssteigernd an die Podiumsrückwand projiziert werden, im Original an den Wänden von Schlossküche und –keller prangen. Zunächst sind Zeitgenossen und lokale Komponisten zu hören, das kulminiert nach der Pause im drängenden 13. Schostakowitsch-Streichquartett, natürlich wieder mit den Danels.
Doch als Erstes ist Schlagwerk angesagt: das norwegische Duo PERCelleh (angeblich heißt das auf Finnisch was Unanständiges) produziert sich swingend in einer sanft geklöppelten Doppelmarimba-Fassung von Prokofiews Toccata (1912). Der ist als ebenfalls von der Stalin-Repression geknüttelter Komponistenkollege neben Vustin mit vier Werken am häufigsten in Rosendal vertreten. Eher öde: die Uraufführung von Terje Vikens Movements II für Perkussionsduo. Eine folkloristischen Saitensprung präsentieren hingen die Streichersonate (1994) des Norweger Johann Kvandal mit dem spritzigen Ensemble Allegria, das auch die drei Streicherminiaturen aus dem aserbaidschanischen Ballett „7 Schönheiten“ (1948) von Kara Karayev zu Gehör bringt – Zeichen für die Förderung der sowjetischen Teilrepubliken zu Beginn der Fünfzigerjahre. Auch Valentin Silvestrov wird als Nachgeborener mit zwei seiner vier Postludes für Klavier (Marianna Shirinyan) und Streicher (Allegria) kurz fokussiert.
Für die Künstler sind zwei französische Chefs um das leibliche Wohl bemüht, und allgemein gestärkt geht es abends ins dritte Konzert. Wie immer samt jedesmal für Erheiterung sorgenden, pfiffig abgewandelten, aber obligatorischen Sicherheitsanweisungen des Backstage-Personals. Wir plädieren unbedingt für wechselnde Kostümierung der ansprechend aussehenden Damen und Herren! Diesmal herrscht in der Scheune Versenkung. Bariton Andrei Bondarenko lässt noch einmal sein vokales Farbenspiel leuchten, vor allem seine matten und düsteren Tönungen. Denn sämtliche, mit Marianna Shrinyan am Klavier sowie Klarinettist Anthony McGill, Harfenist Johannes Wik und dem Ensemble Allegria vorgetragenen Puschkin-Vertonungen Schostakowitschs sind 1936-37, 1952 und 1967 in schrecklichen, ja gefährlichen Momenten seines Komponistenlebens entstanden. Puschkin als Antidepressivum? Toll jedenfalls, die einmal so könnerisch in geballter Form zu hören. Und ganz anders sensibilisiert sind danach auch die Ohren für Alfred Schnittkes grüblerisch ausgedünntes, polystilistisches Klavierquintett, das Andsnes und das immer spielfreudiger kolorierende Quatour Danel interpretieren.
Was kann danach noch kommen? Nur ein spätnächtlicher, schräg-schriller Kehraus in einem ganz anderen Medium: Sasha Grynyuk begleitet meisterlich nimmermüd die zwischen Offenbach-Paraphrase und Marseillaise-Überschreibung pendelnde, zuckende, jugendlich unbekümmerte Filmmusik des 23-Jährigen Dmitri Schostakowitsch für das stumme Kinoepos „Das neue Babylon“, das in einem Pariser Warenhaus während der Kommune-Aufstände 1871 seinen Anfang nimmt. Danach sind dann aber selbst die Wohlmeinendsten Fjordhotell-bettschwer!
Samstag ist lange frei, wenn man das von Igor Levit krankheitshalber verwaiste, vierstündige Mammutkonzert mit den ursprünglich vorgesehene 24 Präludien und Fugen schwänzt, das jetzt verkürzt und mit gutem Werkersatz von Rachmaninow, Prokofiew und Debussy gefüllt wurde. So ist der Kopf wirklich frei für die naturgemäß gut notengefüllten Nachmittags- und Abendtermine, die einmal mehr die erstaunliche Schostakowitsch-Brillanz und sein Masekenspiel bei starker Wiedererkennbarkeit vorführen. Zunächst gibt es Klaviermusik seiner Vorläufer Samuil Feinberg und Alexander Skriabin: Für beider 4. und 7. Klaviersonate ist Marc-André Hamelin der bestmögliche Spieler. Zwei Stücke des ebenfalls versatilen Alexander Vustin umrahmen die Pause. Die Hommage an seinen Lehrer „In memorian Grigori Fried“ absolvieren Tabea Zimmermann und Marianna Shirynyan mit sprudelnder Finesse. Für das buntscheckige „Offering“, eine beweglich flirrende Komposition für Klavierquartett und Perkussion, sitzen die Pianistin, die PERCelleh-Mannen und drei Allegria-Mitglieder auf dem Podium.
Und dann hebt das Schostakowitsch-Klavierquintett wirklich ab. Veriko Tschumburize, Sonoko Miriam Welde, Tabea Zimmermann, Clemens Hagen und Marc-André-Hamelin spielen sie als wunderbar gleichwertiges Ensemble in ihrem störrischen Aufbäumen und leisem Verlöschen.
Spannenderweise ist solches steigerbar, wohl nur bei einem solchen Kammermusikfestival, wenn das Ohr offen, nicht abgelenkt und gut gefüttert nach mehr giert. Im Messingkerzenleuchterschein der nächtlichen Kirche geht es pausenlos durch einen hakenschlagenden Parcours mit Vustin (das Klavier-Lamento mit einem ergreifenden Leif Ove Andsnes, Galina Ustvostkaya (das elegisch-störrische Trio für Klarinette/McGill, Geige/Danel und Klavier/Hamelin), Strawinsky (Elegy, elegant gespielt von Tabea Zimmermann).
Das mündet und findet punktgenau sein Ziel in Schostakowitschs finaler Viola-Sonate, nuancenreich klar und schnörkelos traurig als Weltabschiedswerk evoziert von Zimmermann und Andsnes. Für viele ein besondere Höhepunkt und perfekter Tagesmusikabschluss. Denn viel reden mag danach keiner mehr…
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