Das Spiel der Mächtigen. So nannte Giorgio Strehler 1973 in Salzburg eine Shakespeare-Kompilation um König Heinrich IV. Und unter diesen Titel stellte später Jürgen Flimm sogar mal einen ganzen Salzburg-Sommer. Und jetzt soll die Macht mit dem Lucerne Festival sein. Denn irgendwie muss man sich aus dem gewaltig überquellenden Festspiele-Katalog abheben, vor allem, wenn man „nur“ ein Orchesterfest ist. Am Vierwaldstätter See stehen nun also „Macht“-Plakate herum. Darauf zu sehen sind eine militärische Schirmmütze, ein Diadem und ein bischofslila Pileolus. Die Macht der Armeen, der Könige und der Kirche. So, so. Die Macht der Dirigenten, überhaupt der alten weißen Männer im Musikbetrieb, sie bleibt sorgsam ausgespart. Auch #MeToo. In der Schweiz, da geht es nur um die Macht der Musik und um Musik der Macht, Beethoven, Schostakowitsch, Rachmaninow und was hier noch so gespielt wird, sie alle hatten sich Auftraggebern und politischem Umständen zu unterwerfen. Mächtig viel Musik wird zudem gespielt. Ein Gemeinplatz. Vor zwei Jahren lautete das Luzern-Motto „Frau“. Es gab sogar einen – eigentlich diskriminierenden – Frauentag der dirigierenden Damen. Ein Feigenblättchen. Dieses Jahr darf genau eine, die eher unbekannte Ruth Reinhardt, bei zwei Lucerne Academy Konzerten ans Pult. Ansonsten stehen bei den drei hauseigenen Klangkörpern, den gastierenden zwölf Großorchestern und den vier Kammertruppen die Herren vorn; immerhin gehören neun davon der älteren und elf der jüngeren Dirigentengeneration an. Wenigstens hier verändert sich was! Einer von diesen neun, der läutete nun eben in Luzern, wo er auch wohnt (so wie seine Kollegen Herbert Blomstedt und Vladimir Ashkenazy), seinen gar nicht langen, sondern sehr kompakt genommenen Abschied vom Pult, also das Ende seiner Laufbahn ein: der am 4. März 90 Jahre alt gewordene Bernard Haitink.
Im Juni hatte er bei Interview in der niederländischen Zeitung „De Volkskrant“ das Ende seiner aktiven Laufbahn angekündigt. Damals dirigierte er zum letzten Mal im Amsterdamer Concertgebouw, wo er 27 Jahre lang Chefdirigent war. Bereits Anfang des Jahres hatte er anlässlich seines Geburtstages angekündigt, er wolle ein Sabbat-Jahr nehmen. Wobei die Eingeweihten sich schon denken konnte, was das meine. Schließlich war Haitik in den Jahren davo mehrmals gestürzt oder musste aus gesundheitlichen Gründen absagen. „Ich bin 90“, sagte er in dem Interview. „Wenn ich sage, dass ich ein Sabbatical nehme, dann ist das, weil ich nicht sagen will: ich höre auf. Ich habe keine Lust zu all den offiziellen Abschiedssachen, aber es ist eine Tatsache, dass ich nicht mehr dirigieren werde.“ Der Abschied schmerze auch, sagte er, aber die Gefühle behalte er für sich. „Wenn ich eine Träne vergieße, dann weine ich privat.“
Daran hat er sich gehalten. Es folgen jetzt noch vier allerletzte Konzerte am Pult der Wiener Philharmoniker mit Beethovens 4. Klavierkonzert (Solist: Emanuel Ax) und Bruckners 7. Sinfonie, einem schönen Weltabschiedswerk ab Ende August in Salzburg, bei den Proms in London und – wieder in Luzern. Zunächst aber hat sich Bernhard Haitink in Luzern vom Chamber Orchestra of Europe verabschiedet, mit dem er auch schon sehr lange gearbeitet hat. In Luzern debütierte er übrigens 1966 mit dem damaligen Festspielorchester mit Werken von Schubert, Martin und Mahler. Schubert und Mahler lagen auch jetzt auf den Pulten. Vom einen die 5., vom anderen die 4. Sinfonie.
Langsam am Stock tippelte Bernard Haitink in die festlich gestimmte Salle blanche. Ein Helfer leistete diskrete Unterstützung, auf den bereitstehenden Stuhl setzte sich der freundlich lächelnde Greis nur satzweise. Seine Bewegungen waren zunächst minimalistisch, kaum eine Miene verzog sich, doch das steigerte sich im Lauf des Abends zur bisweilen auch fordernden Geste. Am Ende ließ er sich bereitwillig von der führsorglichen Sopranistin Anna Lucia Richter hinein- und herausführen. Die junge Frau und der nun gelöst blickende alte Mann, der begeistert dankbar bejubelt wurde, das hatte etwas freundlich Anrührendes. Ein Zyklus hatte sich geschlossen. So ist das Leben. Alle, die dabei waren, werden den Abend in heiterer Erinnerung bewahren.
Schuberts Fünfte schnurrte beweglich innig herunter, ein längeres Einspielstück, um sich warmzugroven. Das Orchester spielte weich und zart, das geht heute aufgerauter, kontrastreicher. Doch Hauptsache, Bernard Haitink kam auf Betriebstemperatur.
Das war er dann in einer entspannt diesseitigen, die durchaus ambivalenten Stellen der janusköpfigen Mahler-Vierten nicht weiter betonenden Interpretation. Schnell war vor allem der dritte Satz, distinguiert gelangen ihm die Schlusswendungen, das Rubato und die Beschleunigung im zweiten etwa. Das Orchester, nun von 47 Spielern auf 66 aufgestockt, produzierte einen vollen Klang, mit einer 12er-Streicherbesetzung ohne die Üppigkeit der großen sinfonischen Ensembles, dafür wendiger, geschlossener. Sehr idyllisch „Das himmlische Leben“, seraphisch deutlich und glockenklar beschworen von Richter.
Hier wollte einer keine neuen Interpretationspflöcke einrammen, wobei Haitink sich immer in den Dienst des Werkes und des Komponisten gestellt hatte, nie den großen Egoshooter heraushängen ließ. Und so auch an diesem Abend. Mit Freunden noch einmal gepflegt musizieren, zur Freude aller. Ohne großen Aufwand, ohne Geschrei. Kann man schöner Ade sagen als mit diesem leisen Mahler-Servus?
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