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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Lucerne Festival II: Immer sollst du mich befragen: Igor Levit startet seine weltweiten Zyklus aller Beethoven-Sonaten

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Der eine hört auf, der andere fängt an. Früher hieß es mal, „in Linz beginnt’s“, für Igor Levit ist das aber das KKL am Vierwaldstätter See. Einen Abend nachdem der 90-jährige Bernhard Haitink beim Lucerne Festival seinen kurzen Abschied vom Dirigieren mit dem Chamber Orchestra of Europe eingeläutet hat, folgt der 32-Jährige Deutsch-Russe mit dem offiziellen Start seines ihn vielerorts beschäftigenden Zyklus aller Beethoven-Sonaten. Das ist im Angesicht des 250. Komponisten-Geburtstags zugeben nicht sonderlich originell, aber das muss Levit nicht kümmern, jetzt war es an der Zeit, Mitte September kommt auch die CD-Veröffentlichung auf neun CDs bei Sony. Alfred Brendel war gleichalt, als er seinen ersten Sonaten-Zyklus Anfang der Sechzigerjahre veröffentlichte. Anders als Brendel ist Levit aber ungemein virtuoser. Was er gern versteckt. Und furchtlos scheint er sowieso, wie könnte man sonst als erste CD die drei letzten Beethoven-Sonaten herausbringen? Ausgerechnet.

Jetzt aber alles auf Anfang. Fadendünn, bachartig geradlinig, so geht er die erste Sonate in f-moll an, ein Rückschau, kompositorisch ist Haydn, der Widmungsträger, noch nicht erreicht. Ein Anfänger vergleicht sich mit der damals schon versunkenen Vergangenheit. Levit startet von hier aus mit Siebenmeilenschritten. Er hat es gern statccatohaft, wenig Pedalgebrauch. Ganz konzentriert, in lichter Strenge arbeitet er sich voran. Lehrbuchhaftes alla breve wechselt sich mit individuellen Gedanken ab. Levit hält immer wieder inne, legt bewusste Pausen ein, stört den Fluss, variiert sanft die Tempi, setzt schroffe Dynamikkontraste, dann wieder dezidiert weiche Übergänge. So wird man zum Zuhören verführt und gezwungen. Und Ende – fortissimokurz. Nach der emotionalen Überspannung folgt die liedhafte Gelöstheit des Adagios, die beständige Figuration und punktuelle Erregung, sie weicht längeren Linien. Schön klingt der Steinway in der Weite der Salle blanche. Mustergültig ziseliert wird das Allegretto samt Trio. Wie stets gern attacca, so wirbelt das Prestissimo los. Plötzlich hört es einfach auf. Schroff.  Levit zelebriert nicht, er stellt zur Diskussion.

Zweimal zwei Sonaten offeriert dieser erste Abend. Frühes geht einem Duo aus mittlerer Beethoven-Zeit voraus. Von der ersten folgt ein großer stilistischer Sprung zur 12. Sonate in As-Dur. Jetzt ist Beethoven Beethoven – und experimentiert mit Sinn und Form. Größer ist die Fraktur, länger gehalten wird die Spannung von Igor Levit. Klangfarben mischen sich in den Vortrag, der förmliche Zwang zum leisen, suggestiven Zuhören. Doch wieder belebt Levit das mit sehr eigenen Akzenten, ganz besonders im ersten Satz, einem Andante con variazioni samt punktiert flirrendem Thema. Dessen fünf Abwandlungen wechseln sich mal wie gemeißelt, dann vorbeihuschend ab, die artikulatorische wie kolorierende Fantasie scheint grenzenlos. Bis die Zweiunddsreisigstel losrasen. Das Scherzo beschleunigt machtvoll in seinen Sforzandi zum Allegro molto, der Andante-Satz erweist sich als sehr reflektierte, gar nicht heldisch auftrumpfende Marcia funebre sulla morte d’un eroe.  Im Allegro werden die Terz-Sexten-Wechsel in Sechzehntelketten licht und freudig genommen. Pause. Ebenso freundlicher Beifall. Dazwischen hat sich der Pianist nur einmal kurz im Rund verbeugt ohne den Saal zu verlassen.

Nach der Pause ein weiterer Sprung nach vorn, Sonate Nr. 25 G-Dur op. 79, das zehn Minuten kurze „Sonatinen“-Ding. Igor nutzt es als Steinhaufen, bisweilen als Geröllhalde von Ideen, ein Abenteuerparcours, der vieles anreißt, nichts ausführt, im Zickzacklauf. Der Künstler und der Komponist in der Werkstatt, hier ein augenzwinkerndes presto alla tedesca mit gustiösem Übergreifen der linken Hand, sehr zart endend. Da ein kühl-kühnes Andante. Man wird auch körperlich hingezogen von diesem tief über die Tastatur gebeugten, die Arme kraftvoll aus dem Rücken Zupackenden. Chronologisch kurz rückwärts gegriffen, das Eigentliche dieser zweiten Konzerthälfte – und fast ein Prinzip auch in den kommenden Abenden – ist eine der berühmten Sonaten, die Eckpunkte, die Namentliche: diesmal Sonate Nr. 21 op. 53 „Waldstein“, gewidmet dem Freund und Gönner Graf Waldstein. „Fidelio“ klingt hier durch, streng, schwer und virtuos ist sie, dicht, ja orchestral, man nennt sie auch „Klavierkonzert ohne Orchester“.

Igor Levit startet fast mathematisch strengt, zeigt Struktur als laborhafte, klinisch kalte Vivisektion. Durch die schnell warmes Blut pulst, die Finger laufen leicht. Zärtlich sogar? Wieder so ein Kontrast, der die Wahrnehmung beim Zuhören schärft, der wach hält. Schön und überlegen kostet er das aus. Fragend ausgestellt kommt die Introduzione des Adagio molto, das sich immer mehr verflicht, dichter wird, mit raffiniert gekonnt verschattetem Farbenspiel schwelgend in das Final-Rondo übergeht. Das Levit neuerlich wie zum Diskurs ausstellt, auffächert, fast nachbuchstabiert und doch sehr eigenwillige Betonungen setzt, wenn die Fingerfertigkeitsnummer aufblitzt. Ich kann’s und jetzt will ich auch. Triller, Oktavläufe. Am Anschlag, es geht in die Zielgerade. Jubel. Und doch ein Abend der bewusst gesetzten Fragezeichen.

Als passende, gern gegebene Zugabe noch die leis verhuschte „Valse humoresque“ von Schostakowitsch. Beethoven – der Zeitgenosse. Mögen die begonnen Spiele auf diesem Niveau weiterklingen. Am Sonntag folgen im KKL Luzern schon die nächsten fünf Sonaten. Im Herbst, beim letzten Piano Festival, geht es weiter. Und anderswo fängt es erst an.

https://www.youtube.com/watch?v=fau_hHNh5ng&list=RDfau_hHNh5ng&start_radio=1&t=36

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