Das Lucerne Festival, das ist zum Glück schon länger mehr als die Summe seiner hochkarätigen Orchestergastspiele – deren Programm man sich freilich mit diversen anderen Festspielen zu dieser Zeit teilen muss. Mit dem 2003 von Claudio Abbado neuinitiierten Lucerne Festival Orchestra und der ein Jahr darauf erstmals unter Pierre Boulez angetretenen Lucerne Festival Academy, die sich der Moderne verschrieben hat, stehen zwei wirklich originäre, als Alleinstellungsmerkmal wirkende Klangkörper vor Ort bereit, die auch auf Gastspiele gehen. Zudem gibt es ein Netzwerk von über eintausend, inzwischen bis zu 40-jährigen Alumni der Academy, die sich ebenfalls zu einem Orchester auf Zeit formieren. Dieses Ensemble wird dieses Jahr erstmals auch am 8. September vom LFO-Chef Riccardo Chailly dirigiert (und kostenlos gestreamt), der wiederum hat einerseits Rachmaninow zu einem Themenschwerpunkt erklärt, zum anderen aber auch Mahlers 6. Sinfonie. Und es gibt erstmals ein weiteres LFO-Programm für einen Gastdirigenten, der künftig wechseln soll, diesmal aber mit Yannick Nézet-Séguin einen guten, von Publikum wie Orchester gleichermaßen begeistert aufgenommenen ersten Exponenten hatte. In einem beziehungsreichen Programm der „Macht“-Werke: Beethovens Violinkonzert mit dem artist étoile Leonidas Kavakos und – passend vor dem Mahler – Schostakowitschs 4. Sinfonie.
So originell wie bunt war diese Konstellation schon optisch. Die beiden Herren kamen in ungewöhnlichem Aufzug. Kavakos, der die Farbe Petrol liebt, erschien in einem ebensolchen leichten Seidenkittel zu schwarzchangierenden Seidenhosen und schwarzen Samtslippern. Die hatten bei dem 44-jährigen Kanadier in sehr körperbetont sportiver Funktionskleidung noch ein Brokatprint, rote Sohlen und glittersilbrige Absätze – hinsehenswert!
Aber auch zu hören gab es Erfreuliches. Ein Schwelgen in manchmal fast selbstzweckhaft auf weit über 50 Minuten gedehnter, groß besetzter Schönheit. Leonidas Kavakos spielt ein eher kontemplatives, die ruhige Lyrik der Komposition voll auskostendes Beethoven-Konzert mit ausladend-üppigen, dabei leuchtend geschmackigen Kadenzen. Nézet-Séguin ließ ihn generös gewähren, folgte mit lockerer, luxuriös ausschwingender Akkuratesse. Die Farben der Stradivari „Willemotte“ aus dem Jahr 1734 brachen sich in immer neuen Facetten. Als große Kadenz erklang die von Beethoven, von Kavakos als reizvolles Wechselspiel mit der Pauke bearbeitet. Als zarte Zugabe das Andante aus der zweiten Bach-Sonate.
Dann aber krachte es gewaltig, bei der bruitistisch krawalligen 4. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, 1936 im Stalinismus verboten, verloren, rekonstruiert und erst 1961 uraufgeführt. Nézet-Séguin zeigte nicht nur Muskeln, er ließ das wie befreit um sich schlagende und schmetternde Orchester klar kontrolliert von der Leine. Das bäumte sich störrisch auf, die einzelnen Gruppe zeigten formidabel ihre Qualitäten, betören schön und melancholisch klar war das kräftig zum Einsatz kommende Solofagott.
Das Laute und das Leise standen sich in schärfstem Kampfkontrast gegenüber. Der Saal schien nachzuvibrieren, war wieder eine Fortefortissimo-Entladung verpufft. Yannick Nézet-Séguin hatte viel Spaß, die Luxusklangkarosse LFO durch die Kurven zu jagen, er dirigierte ohne Taktstock, mit klarer nie selbstzweckhafter Zeichengebung, er geleite, fing liebevoll auf, blieb immer souverän auch Herr im größten Instrumentalchaos. Das spukhaft fahle Scherzo huschet dahin, im Rondo-Finale mischte sich Explosives, Banales, Anrührendes, Nachdenkliches. Ein perfektes Abbild des zerrissenen 20. Jahrhunderts, eingefangen von einem der prägenden, auch durch die Zeitläufe gezeichneten Tonsetzers.
Das war denkwürdig. Denkwürdig war auch der Beifall, schon nach dem ersten Satz schrie einer begeistert Bravo. Und hinterher wollten selbst die Musiker gar nicht mehr von dem charismatischen Nézet-Séguin lassen. Dieser Mann ist Musik pur. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo er eben für den wiedermal kranken Mariss Jansons in Salzburg eingesprungen war, hätte ihn gern als nächsten Chef. So viele anderen auch, doch der kleine Mann hat auch nicht mehr Zeit als andere, und ist mit dem Philadelphia Orchestra und der Metropolitan Opera (zudem seinem Orchester in Montréal) mehr als ausgelastet.
Ein Glanzpunkt des Lucerne Festivals – mit den eigenen Kräften. Das LFO wird vom Ruhme des Orchestertreffens in der Zentralschweiz im Herbst neuerlich auf China-Tournee künden, die Academy hat längst, auch die sind per Konzert integriert, selbstständige Kammerensemble wie das JACK oder das Mivos Quartet. Akademisten geben einen Tangonacht mit dem tanzenden Dirigenten Mariano Chiacchiarini. Neben dem Starangebot gibt es die stolzen, auch beliebten Debütantenkonzerte, der gern mit Elektronik arbeitende Schweizer Thomas Kessler ist 2019 composer in residence.
Ganz besonders spannend ist die Academy dieses Jahr, weil zu dem bewährten Duo Wolfgang Rihm und Dieter Ammann, die im Komponistenseminar in großer Runde der Neuvorstellungen der sehr divers ausgewählten, sich lustig präsentierenden Teilnehmer („ich zeige jetzt meinen Zweifel und Ängste als Diaschau, etwa traditionelle und moderne Schweizer Architektur, auch das Jodeln“) zerlegen und auch Einzelsitzungen geben, der mit Rihm befreundete George Benjamin dazustößt. Der ist ein versierter Dirigent, es macht Riesenspaß, zu erleben, wie er konstruktiv im Academy-Probenhaus „Südpol“ in einem eigenen Frühwerk für 14 Instrumentalisten klanglich die Leviten liest. „Spielen sie Vibrato?“ – „Yes“ – „Aber vielleicht nicht die ganze Zeit…oder besser gar nicht.“
Er tut das in „At First Light“ von 1982, einem Stück, das sich auf ein Gemälde von William Turner bezieht. Und dazu wiederum kann man sich eine ergiebige Ausstellung über „Turner. Das Meer und die Alpen“ im ebenfalls im KKL beheimatete Kunstmuseum zu Gemüte führen. Ein Bild mit der Rigi im Sonnendunst kann sogar für eine sechsteilige Summe für den Luzernen Dauerverbleib erworben werden. Und auch hier spielt das Festival Kammermusik. Fantasieanregend sind auch andere Titel, die auf dem Probenplan im „Südpol“ stehen: „Jagden und Formen“, „Said the Shotgun“, „Utopia III“, „Concordanza“, „Jauchzende Bögen“.
Das Lucerne Festival ist wieder mal an einem Wendepunkt. Im Frühjahr wurde bekannt, dass man das Osterfestival und das Pianofestival im Herbst einstellen wird. Das hat Geldgründe (auch wenn für den abspringenden Sponsor Nestle Ersatz gefunden wurde), man will sich aber auch konzentrieren. Der Frühjahrssatellit mit Geistlicher Musik um die Residenz des BR-Orchesters wird mit der Ouverture spirituelle der Salzburger Festspiele besser bedient, Pianisten kann man konzentriert auch anderswo hören.
Im Herbst kooperiert man ein erstes Mal für ein verlängertes Wochenende mit dem neuen Konzertsaal im Touristikressort Andermatt, mal sehen, was das für Synergien mit der Region bringt. Außerdem sollen je ein Wochenende am Jahresanfang und Ende das LFO und die Academy noch stärker in den Fokus nehmen. Es wird sich zeigen, ob das auf Stars und Spitzenorchester bei Spitzenpreisen bis zu 320 Franken geeichte Publikum da mitzieht.
Und zum 100. Geburtstag seines Vaters, des nicht nur in der Schweiz immer noch sehr geschätzten Tenors Ernst Haefliger haben Festivalchef Michael Haefliger und seine beiden Geschwister Christina und Andreas gemeinsam mit seinem alten Stammlabel Deutsche Grammophon eine sehr feine Erinnerungsbox mit 12 CDs herausgebracht. Die umfasst die großen Schubert-Liedzyklen (besonders die „Schöne Müllerin“ des Vierzigjährigen begeistert mit ihrem sanft lasierten obertonreichen Duktus), die heute etwas fern klingende, aber immer noch hörenswerte Bach-Arbeit mit Karl Richter, Renaissance-Musik, ein superbes „Tagebuch eines Verschollenen“ von Janacek mit Rafael Kubelik sowie eine Fülle teilweise erstveröffentlichter Opernarien, oftmals mit Ferenc Fricsay. Zwischen 1943 und 1970 gastierte Haefliger zwanzigmal bei den damaligen Luzerner Festwochen. Da passt die Tenorkiste sehr gut zu weiteren Eigenveröffentlichungen des Festivals, Liedern mit Edith Mathis (audite) und zwei Bruckner-Sinfonien mit Claudio Abbado (Accentus Music), darunter sein allerletztes Konzert mit der Neunten von 2013. Und mit Riccardo Chailly am Pult gibt es auf DVD (Accentus Music) dessen klangluxurierenden Ravel-Abend mit dem LFO von 2018.
Da hat man schon wieder Lust auf Lucerne Festival 2020!
Der Beitrag Lucerne Festival III: Yannicks Glitzerabsätze steuern sicher auch durch das größte Schostakowitsch-Klangchaos erschien zuerst auf Brugs Klassiker.