Nein, das ist kein Schreibfehler, ich bin nicht in Schwarzenberg, sondern in Vilabertrán, genauer: in der Canònica de Santa Maria. Hier findet mit der Schubertiada das renommierteste, aber immer noch kleine und intime Liedfestival Spaniens statt. Spielort ist ein altes, wehrhaftes Augustinerkloster aus dem 11. Jahrhundert im Osten von Katalonien, zwischen dem Opernfestspieldorf Perelada und dem Dalì-Geburtsort Figueres, das den Pilgern auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella als Herberge diente. Dort setzte jetzt Joyce DiDonato die Reihe eindrucksvoller Spaniendebüts fort, die hier etwa Jonas Kaufmann (mit weniger Gage als sein Begleiter Helmut Deutsch) oder Christian Gerhaher absolvierten. Und der durchaus wählerische Matthias Goerne, der hier seine erste Auslandskonzert überhaupt sang, feierte eben mit zwei Liederabenden sein 25-jähriges Schubertiada-Jubiläum. Und wenn schon la Joyce und Schubert, dann mit etwas ganz Besonderem.
„Wintereise“! Die war schon vor einigen Jahrzehnten mal das große Klassik-Gleichstellungs/Diversitätsding. Darf, kann, muss diese ehern zu den Grundfesten abendländischer Bürgerlichkeit gehörende Sammlung 24 „schauerlicher“ Lieder von einer Frau gesungen, gar interpretiert werden? Lotte Lehmann, war die erste, die es tat und Anfang der Vierzigerjahre auch aufnahm.
Dann war lange Schweigen im Schubert-Walde ob der unerhörten Tat, die Männer verfilmten und spielten das Werk, setzten sie statt mit Klavier für Gitarre und Viola, man versuchte dem in der Schneeeinsamkeit verlassenen Wanderer als distanzierter Erzähler oder als neurotisch Zerrissener gerecht zu werden. Ian Bostridge schrieb gar ein kluges Buch über sie.
Und die Damen? Die Mutigen sangen sie und spielten sie ein, allen voran Brigitte Fassbaender und Christa Ludwig, beide um geschlechtliche Neutralität bemüht; aber auch der mütterliche Kontraalt Natalie Stutzmann und die zartweiß lasierte, schneekristallgläserne Christine Schäfer.
Und jetzt auch die elegante, doch zupackende Mezzosopranistin Joyce DiDonato. Die zwischen Barock und Belcanto, Jazz und Moderne sehr wandelbare Amerikanerin aus dem weizensatten Kansas, sie ist freilich nicht nur ein unmittelbar atmosphärisch den Raum füllenden Bühnentier, sondern auch ein Künstlerin mit sehr eigenwilligem Zugang. Und sie erfand: „Die Winterreise – The Opera“. Zweimal hat sie das Werk bereits als packende Gesangsszene und Gebet einer (vielleicht doch nicht mehr) Jungfrau in den USA aufgeführt, gemeinsam erarbeitet mit dem freundlich ihr verbundenen Multitalent Yannick Nézet-Séguin – diesmal am Flügel statt am Dirigentenpult.Und jetzt hat sie sich – weitere Auftritte sollen unbedingt folgen – auch in Europa getraut. Freilich auf vergleichsweise verwachsenem katalanischen Pfade.
Das Licht flammt auf, und dann sitzt in der Apsis, eine Madonnenstatue aus Alabaster an einem Pfeiler scheint fast sinnfälliges Requisit, „die reiche Braut“, die der trostlose Wanderer nicht bekommen konnte, auf einem Stuhl neben dem Flügel. Auf einem Tischchen liegt ein in Leder gebundenes Buch – die Aufzeichnungen des verlorenen Liebsten. „Das Mädchen sprach von Liebe“, so fand die Mezzosopranistin ihren spezifischen Zugang zu dem Zyklus. Sie ist die Frau, die Witwe in Schwarz, ausgeschnittenes Spitzenoberteil, eine Lederkorsage, die etwas leicht Fetischhaftes ausstrahlt, viele Seidenvolants. Sie erinnert sich an den Geliebten, vollzieht, erlebt mittels seines Tagebuchs dessen Schneewanderung nach.
Zum ersten, zum wiederholten Mal? Wir wissen es nicht. Als sie vom „treuen Frauenbild“ singt, springt Joyce DiDonato auf, nach dem als unwiederbringlicher Glücksmoment mit aller Emphase durchlebten „Lindenbaum“ (ähnlich später der „Frühlingstraum“) strauchelt sie, braucht sie neuerlich den Stuhl, dann reißt es sie wieder hoch. Sie drückt und quetscht als Zurückgebliebene das Buch, küsst es schlägt es vors Gesicht, gleichzeitig dient es der Sängerin als Erinnerungsstütze. Text und Anmerkungen finden sich drin, so kann sie frei agieren, in fast makellosem Deutsch. Der Franzose David Zobel begleitet eher arios als kontrastiv dialogisch.
Sie singt das so großartig, gefühlvoll und abwechslungsreich, mit voller, dann fahler Stimme. Unmittelbar muss man an ein anderes, berühmtes Schubert-Lied denken: „Gretchen am Spinnrad“ – Meine Ruh’ ist hin“. Joyce DiDonato verwandelt gekonnt, nie sentimental, auch wenn sie sie sich viel mehr Expression getraut als jeder singenden Kerl, die Männersicht in Frauenliebe und –leben. „Was passierte mit ihr?“ Das fragt sie, die das Gleiche schon als Charlotte nach Werthers Selbstmord wissen wollte. Untröstlich ist sie am Ende, den „Leiermann“ singt sie auswendig.
Ist sie jetzt ganz in die Welt des toten Mannes eingetaucht, oder sieht sie selbst Gespenster? Das Rätsel bleibt. Und die „Winterreise“ ist auch die ihre, sie ist um eine weibliche Facette reicher geworden. Und doch bei aller Verehrung – ein bischen grinsend fällt mir dann doch noch der berühmte Ann-Miller-Werbespot für Cambell’s Tomato Soup ein. „Liebling, warum musst Du aus allem immer eine so große production number machen?“ Aber bei La Joyce geht es eben kaum kleiner. Außerdem überzeugt sie…
Der Beitrag Schubertiada I: Joyce DiDonato zeigt erstmals in Europa „Winterreise – die Oper“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.