Bei Wagner dürfen die Nibelungen, die in den Grüften Nibelheims das Rheingold schmieden, nur unartikuliert jaulen. Bei Hector Berlioz haben die Gießarbeiter eine Stimme, ja mehr noch: sie revoltieren sogar. Soviel zur sozialen Komponente beim einstigen Dresdner Barrikadenerrichter und beim Pariser Dandy und avantgardistischen Antistar, der keine Häuser für seine allzu kühnen Opernpläne fand und deshalb – Glück für die Nachwelt – sich sein Geld mit beißenden Musikkritiken und herrlichen Feuilletons erschreiben musste.
Für vier richtige Musiktheaterprojekte hat es doch gereicht. Berlioz bediente sich anlässlich der Stoffwahl zuallererst bei Benvenuto Cellini. Aus dessen Memoiren eines außerhalb von Gesellschaft und Gesetz stehenden Künstlers destillierte sich der 31-Jährige, angeheizt von zwei Jahren Romaufenthalt, von 1834 an seinen persönlichen Traum von Renaissance, Romantik, Rausch und Revolte: als gleisnerisch strahlendes und hektisch dahinjagendes Stück über Genie, Kult und Wahn; ein wenig antiklerikal (die Zensur verbot den Auftritt von Papst Clemens VII.), voller Feste, tönend bewegten Massen, Maskenzügen, mit einem Mord und als Apotheose des Künstlers im Guss der Perseus-Statue gipfelnd. Doch gegenüber dem Original immer noch abgemildert. Cellinis sexuelle Ambivalenz beispielsweise ersetzte Berlioz durch eine züchtige Liebesgeschichte, die er einer E.T.A. Hoffmann-Novelle entnahm.
„Ein Bandit von einem Helden“, nennt Berlioz seinen „Cellini“, der sich mit diesem wilden Künstler natürlich auch selbst meinte. 1838 erblickte er das Licht der Opernwelt und wurde bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts nie in seiner Originalgestalt gegeben, dann aber immerhin auch von Colin Davis mit Nicolai Gedda endlich aufgenommen: ein seiner Zeit weit vorauseilendes Kunstopus und ewiges Work in Progress. Wie spießig muten dagegen die „Meistersinger“ oder „Palestrina“ als Künstleropern an, wie vehement verteidigt Berlioz bei allen genretypischen Zugeständnissen (die er aufbricht) das Recht des bürgerlichen Subjekts auf selbstbestimmtes Leben und unumschränkten Ausdruck seiner artistischen Begabung. Leider hat Berlioz nie haushalten können, und so gehören die Sängerrollen, der Chorpart sowie der Instrumentalbeitrag des fast beständig auf der Stuhlkante agierenden Orchesters mit ihren horrenden Anforderungen zu den Klippen des Opernrepertoires. Einzig deshalb ist diese vitale, herrlich moussierende Opéra semi-seria so selten zu erleben.
2002 hat damit schon früh John Eliot Gardiner am Opernhaus Zürich das letzte Berlioz-Jahr 2003 (200. Geburtstag) eingeläutet), bevor er sich in Paris erstmals auf historischen Instrumenten Berlioz’ monumentalem Meisterwerk „Les Troyens“ zuwandte. Frankreich, wo man eigentlich nur die opiatischen Dünste und Hexenorgien der Symphonie fantastique und den faulig-sinistren Zauber des Gaultier-Liederzyklus‘ „Nuits d’été“ schätzt, hält sich bei seinem bedeutendsten Komponisten der Romantik nach wie vor vornehm zurück. Das hat sich 2019, dem 150. Todestag des großen Hector etwas geändert. Philippe Jordan hat an der Opéra Paris in den letzten Jahren alle Opern präsentiert , und vor allem das wunderfeine Berlioz Festival an dessen ländlich nettem Geburtsort La Côte-Sainte-André zwischen, Lyon und Grenoble im Departement Isère gelegen (wo es auch das sehr schöne Museum im umgestalteten Geburtshaus (der Vater war Arzt) feierte den größten Sohn des Ort gebührlich.
„Le Roi Hector“ heißt dieses Jahr der Akt II der Geburtstagsfeierlichkeiten, der erste hat schon im letzten Sommer begonnen. Schließlich gibt es immer mehr Berlioz-fanatische Dirigenten und Orchester, die sich in der überdachten Plein-Air-Arena atmosphärischen Château Louis XI ein musikalisches Stelldichein erster Güte geben. Das Orchestre national de Lyon, das Jeune Orchestre Européen Hector Berlioz und das Orchestre Les Siècles unter François-Xavier Roth, das Mariinsky Orchester unter Valery Gergiev, das Orchestre national du Capitole du Toulouse unter Tugan Sokhiev – alle da. Wie früher in Salzburg sind die Straßen mit Wimpeln und Fahnen geschmückt, die Geschäfte wetteifern mit Berlioz-Fenstern und in Sichtweite des stählernen Scherenschnitts im Blumenbett gibt es jetzt auch ein hauswandfüllendes neues Berlioz-Graffiti gleich gegenüber dem Likör-Museum in der ehemaligen Destille Cherry Rouge.
Und jetzt kam sogar der französische Kulturminister Franck Riester zum Museums- und Konzertbesuch vorbei, hielt in den Schlossgärten eine launige Ansprache, während um die Ecke sich das Volk mit Cruditées-Platten und lokalem Rosé neben einem hölzernen trojanische Pferd auf den Konzertgenuss einstimmte: denn natürlich ist auch der La-Côte-Saint-André-Dauergast John Eliot Gardiner als regierend-dirigierender Berlioz-Stellvertreter auf Erden mit seinem Orchestre Révolutionnaire et Romantique sowie dem glänzend beweglichen Monteverdi Choir mit von der Festivalpartie. Diesmal mit einer kleinen Europa-Tournee, die eben den „Benvenuto Cellini“ in einer halbszenischen Version mitführt. Damit kann sich auch das Musikfest Berlin am Samstag eines ersten Höhepunktes sicher sein. Zumal der frisch geschiedene Sir vecchio John ungewohnt locker inszeniert hat.
„Das Leben ist ein Roman, der mich sehr interessiert“, wird Hector Berlioz auf Taschen, Broschüren, Handtüchern und Foulards zitiert. Der Lebensroman des Florentiner Goldschmieds Benvenuto Cellini, melodramatisch, auch komisch-satirisch-sentimental übersteigert, er wurde ihm auch höchst gelungener Opernanlass.
Dessen Feuer und Furor, Gefühl und Gezeter jetzt John Eliot Gardiner mit den Seinen gar köstlich entfacht. Hell lodert die Berlioz-Flamme schon bei der stehend servierten Ouvertüre im mit zeittypischem Instrumentarium ausgestattete Orchester. Vier Harfen, vier wunderbar charaktervolle Fagotte, fettes Schlagwerkinstrumentarium mit allein drei Kesselpaukern, zwei Gitarren, Cornette und das Ophikleide. Dessen Spieler muss später im römischen Karneval auch noch einen Esel geben – gelingt formvollendet.
Vom Dirigierpult aus (später sitzt der Sir) zündelt und funkelt John Gardiner mit hippeliger Mutwilligkeit. Farbig, transparent ind höchst beweglich. Alles ist hier beständig im Fluss. Das nervöse Flirren dieser Musik, ihre erotische Unrast, die spöttischen Grenzüberschreitungen, schrägen Genreparodien fügten sich zu einem faszinierenden Pandämonium südlich-sinnlichen Außersichseins. Und alles gipfelt im halbstündigen, kaleidoskopisch sich zersplitternden Finale des römischen Karnevals als einem perfekt choreografierten Chorwirbel. Bravo!
Die Sänger spielen in historisch andeutenden Kostümen, es gibt sogar Kleiderwechsel, man läuft durch die Musiker und rennt über Podien, der Chor als Mönchen, Werkstattmitarbeiter, keifende Nachbarinnen immer bewegt mit dabei. Nur der senile, einzig auf seine künftige Perseus-Statue geile Papst Clemens VII des bassschlank salbadernden und segnende Tareq Nazmi schlurft allein, ohne Gefolge und in zu kurzem Habit herum. So machte ihn freilich schon Berlioz lächerlich.
Der Künstler als Grenzgänger, ja Paria wird kaum thematisiert. Cellini, das ist das Genie, das trinkt, rauft und mordet und seinem päpstlichen Auftraggeber mit der Zerstörung der bestellten Skulptur droht, das ist der Künstler, der sich und sein Werk absolut setzt und am Schluss alles gewinnt, Absolution, Ruhm und die Hand seiner Geliebten. Doch anders als spätere Künstleropern bewegt sich „Benvenuto Cellini“ nicht in metaphysischen Dimensionen, hier geht es um pure Schöpferkraft und Lebenslust. Hier gib es pralle Commedia, Intrige und kurz auch mal mörderische Spannung, doch meist ist das eine knallbunte, abwechslungsreich rhythmisierte, mit leichter Hand hochvirtuos hingepinselte römische Klangfreske. Dafür singt Michael Spyres den Benvenuto höhentrittsicher charmant, mit gut gelagertem baritonalen Tenor und nie nachlassender Kraft. Eine absolute Spitzenleistung.
Sophia Burgos hat für seine geliebte Teresa zarte Spitzentöne und Temperament. Maurizio Muraro gibt als ihr Vater Giacomo Balducci dem Ensemble komisches Bassfundament, Adèle Charvet ist Bevenutos kantilenensüchtiger Lehrling Ascanio. Lionel Lhote ist hoch amüsant als immer zu kurz kommender Intrigant und Nebenbuhler Fieramosca, Er fungiert als Baritonbuffo im animierenden Spiel, zu dem in den Nebenrollen auch Vincent Delhoume und Ashley Riches hinzukommen. Am glücklichen Ende erhebt sich gülden glänzend nach erfolgtem Statuenguss zwischen letzten Rauchschwaden als Perseus der Schauspieler Duncan Meadows, der seit Jahren am Royal Opera House mit seiner Muskelmasse als Salomes Henker beeindruckt. Wunderbar, dieser beswingte Berlioz!
Nächste „Cellini“-Stationen: am 31. Beim Musikfest Berlin in der Philharmonie (vorher mit dem Quartett der Kritiker des Preises der deutschen Schallplattenkritik), am 2. bei den BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall und am 8. in der Opéra Royal de Versailles
Der Beitrag Berlioz beswingt: John Eliot Gardiner startet beim Festival im Geburtsort La Côte-Saint-André eine grandiose europäische Tour mit „Benvenuto Cellini“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.