Und dann ist es auch schon wieder vorbei. Für dieses Jahr. Man glaubt es kaum, vom 18. Juli bis zum 6. September stemmten sie da im Berner Oberland mit dem Gstaad Menuhin Festival über sieben Wochen lang eines der größten Klassikmusikfeste überhaupt. zum 63. Mal. Doch jetzt ganz früh morgens, ist alles ruhig. Der letzte Orchesterton ist schon lange verklungen. Waldeinsamkeit am Bahnhof Schönried, nur die Kühe auf den Weiden klingeln. Auch hier steht eine Klapptafel, die auf den Zweck meines Besuches hinweist: Gstaad Baroque Academy, natürlich mit dem Konterfei ihres Chefs und ihrer Seele – Blockflötist Maurice Steger. Und allerpünktlichst rattert um 4:24 der Zug der Montreux-Berner Oberland-Bahn heran, um mich und die drei ähnlich unausgeschlafenen Abreisenden aufzunehmen. Noch ist es dunkel, nichts von dem herrlichen Gebirgspanorama ist auf der Fahrt nach Oeschseite (Halt auf Verlangen), Saanenmöser usw. den Genfer See hinunter zu sehen, das sich die letzten zwei Tage freilich hinter Wolken versteckt hat. Der Herbst, er ist da.
Macht aber hier gar nichts. Umso reueloser lässt sich die Zeit indoor verbringen, im so arg individuellen Ermitage Hotel, dessen Besitzerpaar nicht nur das Festival sponsert, sondern mit der Beherbergung der der Baroque Academy einen aktiven Beitrag leistet. Denn das Gstaad Menuhin Festival ist ja längst mehr als die sieben großen Konzerte und inzwischen auch konzertanten Opern (dafür gibt es eine ganz besondere, auf die großen Namen abonnierte Förderin) im Zelt. Da gibt es die vielen, oft liebevoll individuellen Konzerten in den insgesamt neun stimmungsvollen Kirchen des Saanenlands, wovon die größte, die Mauritiuskirche in Saanen mit ihren Fresken aus dem 15. Jahrhundert, bis zu 800 Besucher fasst. Es gibt die Preisträgerkonzerte mit spannendem Nachwuchs, die fünfmal wiederkehrenden Menuhin’s Heritage Artists und eben das riesige Academy Projekt, Fortbildung war dem Namenspatron ja immer schon ein Anliegen: mit der Conducting Academy samt Profi-Festivalorchester, in diesem Jahr unter Manfred Honeck, der Piano Academy von András Schiff, dem Amateur- und Jugendorchester als Play@ Gstaad Menuhin Festival, der Geigenakademie unter dem festen Strich von Ana Chumachenko, der Gesangsklasse von Cecilia Bartolis Mama Silvana Bazzoni (die Tochter schaute auch für ein Vivaldi-Konzert vorbei) sowie den Barockis.
300 Anmeldungen gab es dieses Jahr allein für die einzigartige Dirigentenakademie, nach der der Neeme-Järvi-Preisträger dann mit Schweizer Orchestern konzertieren darf. Das ist genauso einmalig wie vieles andere, womit der gewiefte Schweizer Orchestermanager Christoph Müller seit 2002 das einst ein wenig dümpelnde Festival fit für das 21. Jahrhundert und vor allem wieder finanziell stark gemacht hat. Seither haben sich die Zuschauerzahlen verdreifacht. Der Umsatz ist von 2 Millionen Schweizerfranken auf knapp 7 Millionen gestiegen. Und langsam kommt sogar der ersehnte Konzertsaal (100 Millionen Franken soll er kosten) in greifbarer Nähe.
Nostalgie pur verströmt hingegen das Menuhin Center im putzigen Puppendorf Saanen. In einer bis zur kleinen Küche mit Memorabilia gefüllten Wohnung im alten Salzhüsi aus dem 18. Jahrhundert sammelt der Festivalveteran Rolf P. Steiger Erinnerungen an den Gründer. Mit einigen seiner Kinder ist man noch in regem Kontakt, auch eine seiner Geigen, ein Geschenk chinesischer Bauart mit geschnitztem Menuhin-Portätkopf, hütet man hier. Menuhin grüßt zudem als Bronzemaske oder in Yogastellung. Sehr sympathisch – und immer Donnerstag nachmittags sowie nach Vereinbarung offen.
Zwischen den nahen Dörfern Saanen und Rougemont liegen nur wenige Kilometer, doch beide gehören unterschiedlichen Kantonen an – und die Sprachgrenze verläuft hier. Ein Grund mehr für Müller als Festivalmotto 2019 „Paris“ auszugeben. Das mag in der Großstadt nicht weiter aufregend sein, doch erstens lassen sich damit gerade in der Kammermusik aufregende Entdeckungen machen. Und für das hiesige Publikum aus Einheimischen, Chalet-Besitzern und Wochenendtouristen sind selbst Programm mit Berlioz, Strawinsky oder Ravel schon ein gewisses Risiko. Zudem ist auch der Pianist Bertrand Chamayou als Artist-in-Residence (noch) kein Superstar. Aber ein klasse Klassikkünstler.
Mit Olivier Latry, dem Organisten von Notre Dame, dem Cembalisten Christophe Rousset, dem Orchestre philharmonique de Radio France, dem Cellisten Gautier Capuçon, dem Orchestre National de Lyon sowie Bizets „Carmen“ mit Gaëlle Arquez war zudem für ausreichend französisches Flair gesorgt. Die jährliche Uraufführung wurde bei Tristan Murail bestellt, der sich prompt von der Aura der Berge anregen ließ. Und einen patenten „Karneval der Tiere“ auf Schwyzerdütsch samt Papp-Eifelturm und im Schwarzlicht neonleuchtendem Kinderpantomimentheater gab es auch.
Man strömt schließlich gern zum Abschlusskonzert, zu dem sich – ganz parislos – die durchreisende Dresdner Staatskapelle die Ehre gibt. Die liefert unter dem zartfühlenden Myung-Whun Chung ein klangseidiges Ruhekissen, auf dem Klavier-Darling Yuja Wang (diese Saison schon zum zweiten Mal da) ihre stählernen Finger so nervös wie wohlig, so technisch zupackend wie sensitiv streichelnd ausbreiten kann. Sie kommt sogar in bodenlangem Kleid, freilich wider hauchdünn und seeehr transparent. Rachmaninows 3. Klavierkonzert wird so zur feintönenden Studie über Spätromantik und mechanisch hurtigen Finalaufbruch, aufmerksam den davonfliegenden Tönen nachlauschend und dann beherzt in die Tastenvollen gehend. Als Zugaben gibt es die Vokalise und eine rhythmisch gehärtete „Tea for Two“-Variation; danach schmecken der Pausenchampagner und der Alpenkaviar umso besser.
In der zweiten Konzerthälfte gelingt Chung dann eine freudig strahlende, dabei langsam und weich anhebende zweite Brahms-Sinfonie, mit raffiniert federndem Allegretto grazioso und einem nie lauten, gar schmettersatten Finale. Die Sachsen haben dabei mal wieder ihre Akkuratesse und Noblesse unter Beweis gestellt, und ja, das klingt durchaus französisch elegant, gar nicht deutsch hintergründig. Als Zugabe der 1. Ungarische Tanz.
Die Besucher genießen das hier oben. Sie sind aber auch, in kleiner, konzentrierter, dabei sehr treuer Zahl in den diversen Eremitage-Salons bei der Baroque Academy zu finden, wo man, zum inzwischen siebten Mal, nicht nur die Flötentöne lernt. Man bestaunt aber auch neben dem Aufzug die Alpenkräuter, die hier als Lehrsammlung in Wassergläsern stecken, freut sich am skurrilen Cortina d’Ampezzo-Touch des One Million Stars-Swarovski-Bartresen, den schrägen Kuhbildern in der Halle, dem Neonwasserfall im Souterrain vor den Salonfenstern. Ein eigenwilliges Sammelsurium, sehr wohnlich, mit liebevollem Personal bestückt und gut geführt.
Was sich auch auf die Akademie auswirkt. Da geht es entspannt zu, die knapp 30 handverlesenen Teilnehmer, vorwiegend Flöten- und Gambenvirtuosen, aber auch eine Cellistin und eine Geigerin, die jüngsten 13 Jahre alt, arbeiten trotzdem so konzentriert wie enthusiastisch. Ein paar Schritte über die Gleise sind es nur, wo im Chalet Sandra, dem Winterdomizil für die weiblichen Schüler eines der teuersten Schweizer Internate, die gute Akademieseele Eliza mit ihrem Team aufkocht und weitere Unterrichtsräume bereitstehen. Von hier aus wird zudem livegestreamt.
Dieses Jahr kann noch abwechslungsreicher am Repertoire gearbeitet werden, weil Maurice Steger neben seiner Gambenfreundin Hille Perl auch Meister am Cembalo, der Geige, Harfe, Aufführungspraxis, Theorbe und sogar historischer Tänze eingeladen hat. Spannend, was da so im Diskurs der Künste alles über Tempi und Rhythmusgefühl herauskommt. Und auch die Konzerte werden bunter im Repertoire, sei es in der Hotelhalle im kleinen Saal oder in der schön verziert atmosphärischen Kirche von Rougemont. Und zwischendurch trifft man alle in den acht Saunen oder dem neuen, einen wie auf Wolken dahingleiten lassenden Solebad in der großzügigen Spa-Abteilung des Ermitage.
Eigentlich will hier keiner zurück in den Alltag der Schulen, Hochschulen und der Konzertsaison. Denn wie sagte es Maurice Steger zwischen Musik von Detri und Purcell, Hotteterre le Romain, Händel und Giovanni Battista Fontana so schön? „Es war ein Privileg, mit diesen Menschen erneut auf einer Reise des Lernens wie der Emotionen unterwegs gewesen zu sein“. Und man hat zudem festgestellt, dass sich auch bei Herren türkise Fingernägel sehr gut als individuelle Farbe an der Blockflöte einsetzen lassen.
Da mag doch Gstaad 2021 unter dem vorwiegend WIEN-erisch geprägten Motto mit ganz vielen Beethoven-Variationen (und einem „Fidelio“ mit Jonas Kaufmann und Anja Kampe) nur kommen.
Der Beitrag Gstaad Menuhin Festival II: Pianistinnenkleider zur Durchsicht und türkise Herrenfingernägel erschien zuerst auf Brugs Klassiker.