Das traurige Ende eine gloriosen Künstlerkarriere: Obwohl es vor zwei Tagen dort noch anders gelautet hatte, ist der seit August von der renommierten Nachrichtenagentur AP mit MeToo-Vorwürfen von über zwanzig Frauen konfrontierte Plácido Domingo einen Abend vor seinen Auftritten als Verdis „Macbeth“ an der New Yorker Metropolitan Opera zurückgetreten. Das Haus, dessen Management bis zuletzt dem dort seit 51 Jahren gastierenden Star und Kassenfüller die Treue zu halten versucht hatte, musste sich dem Druck nicht zuletzt der eigenen Belegschaft beugen. Nachdem man hier vor einem Jahr den langjährigen Musikdirektor James Levine gefeuert hatte, dem die Belästigung junger Männer vorgeworfen wurde, und zudem den altgedienten Regisseur John Copley wegen lasziver Bemerkungen auf Proben entfernt hatte, konnte man nun doch nicht mit zwei Maß messen. Geld, Macht und Ruhm langten nicht, genauso wenig, dass Domingo hier 21 Saison-Eröffnungen absolviert hat – nach ihm liegt Enrico Caruso mit 17. Und damit haben die Met sowie drei weitere Musikinstitutionen in den USA, das Philadelphia Orchestra sowie die Opernhäuser von San Francisco und Dallas, die den 78-jährigen, inzwischen zum Bariton mutierten Spanier ausgeladen hatten, ein Zeichen gesetzt: Dessen einzigartige Laufbahn dürfte jetzt wohl zu einem unerwarteten Stopp kommen.
Bisher hatten freilich die Musikinstitutionen in Europa, wo die MeToo-Debatte weniger scharf gesehen wird, vor allem ohne Anklage und juristische Maßnahmen, stur an ihren Domingo-Verträgen festgehalten. In Salzburg wurden, befeuert durch ein positives Statement der Direktion sowie die frenetische Feier vorwiegend spanischer Fans, dessen Auftritte zu einem Pro-Domingo-Fanal. Wie überhaupt in Spanien keiner die Vorwürfe gegen das nationale Idol glauben mag. Auch weil bis auf zwei Frauen alle Anklägerinnen anonym blieben, weil sie nach wie vor im Musikbetrieb arbeiten und mit Nachteilen rechneten (der „Spiegel“ machte jüngst noch den Fall einer ehemaligen Sony-Mitarbeiterin publik). Nur die Verleihung des Europäischen Kulturpreises an Domingo am 20. Oktober in der Wiener Staatsoper wurde vom Veranstalter für den Tenor auf nächstes Jahr in Bonn „verschoben“. Fraglich, ob es jetzt noch dazu kommt…
In den USA ist man nämlich rigider. In Los Angeles, wo Domingo bis heute als Operndirektor fungiert, hat man eine Untersuchung eingeleitet, bei der für die Sponsoren wichtigen Saisoneröffnung war er nicht anwesend. Und an der Met, wo man das kalifornische Prozedere abwarten wollte, versuchte zwar der schon länger angeschlagene Manager Peter Gelb seinen (wohl auch von den Geldgebern gestützten) Star zu halten. Aber als jetzt nach den Proben verschiedene Angestellte ihr Unwohlsein neben Domingo auf der Bühne bekundeten, konnte wohl auch der neue Musikchef Yannick Nézet-Séguin, der ihn in Philadelphia mitausgeladen hat, Domingo nicht mehr beistehen. Nur sein Ko-Star Anna Netrebko verteidigte ihn auf Instagram. Auch gab es wohl politischen Druck.
„Ich weise die Anschuldigungen gegen mich entschieden zurück und mache mir Sorgen um ein Klima, in dem Menschen ohne angemessene Untersuchungen verurteilt werden, aber nach einigem Nachdenken glaube ich, dass mein Auftritt in der „Macbeth“-Inszenierung von der harten Arbeit meiner Kollegen auf und hinter der Bühne ablenken würde“, schrieb Domingo an die „New York Times“.
Domingo verkauft jetzt zwar seinen überstürzten Rücktritt als eigene Entscheidung, die dürfte es aber nicht gewesen sein. Denn der Star, der sich zwar allgemein entschuldigt hat, aber keine weiteren Worte des Bedauerns für sein mögliches Fehlverhalten findet, das bis in die Achtzigerjahre zurückreicht, das aber auch noch vor acht Jahren Frauen verstört haben will, war einfach nicht mehr zu halten. Man sei übereingekommen, „dass er zurücktreten muss“, hieß es in einer Erklärung. Und zwar final. Immerhin freute er sich, dass er – als inoffiziellen Abschied – noch die „Macbeth“-Generalprobe habe singen können und dürfen.
Ein trauriges Tenor-Finale. In Zürich steht als nächstes im Oktober ein „Nabzcco“ an. Wirklich mit ihm? Die Gesellschaft ist weniger tolerant geworden, feuchte Küsse, Griffe an den Busen, Eindringen in Garderoben und Ähnliches war auch damals nicht gentlemanlike. Fast jeder, der früher mit Domingo zu tun gehabt hatte, erinnert sich hinter vorgehaltener Hand an Vorfälle; an manchen Opernhäusern solle es eigene Maßnahmenkataloge gegeben haben, den Star von bestimmten Frauen fernzuhalten.
Selbst die Sängerin Brigitte Fassbaender, wahrlich keine Klatschbase, berichtet in ihren Mitte Oktober erscheinenden und vor den August-Anschuldigungen fertiggestellten Memoiren, wie Plácido Domingo 1977 bei einer Münchner „Werther“-Premiere zudringlich geworden sei. Sie habe das zwar souverän abgewehrt, aber auf der Bühne sah sie sich doch seinen nicht nur rollenkonformen Küssen ausgesetzt.
Plácido Domingos angeprangertes Verhalten, von weiteren 30 Zeugen gegenüber AP bestätigt, mag damals mediterraner Macho-Attitüde geschuldet gewesen sein. Denn einerseits ist der seit 1962 in zweiter Ehe verheirate Superstar, der freilich einen unehelichen Sohn hat, eine der nettesten, bescheidensten Personen im internationalen Klassikkarussell. Zudem hat er so viel für junge Sänger getan und immer wieder gespendet wie kaum ein Kollege. Aber die ständige Verfügbarkeit sich ihm anbietender Frauen langte ihm womöglich nicht. Und prekär wird sein Fall, weil sich viele der Vorfälle an den Opernhäusern von Los Angeles und Washington ereignet haben sollen, an denen er als Direktor wirkte – die Frauen also seine Angestellte waren.
Die Mezzosopranistin Patricia Wulf, eine der beiden anklagenden Frauen, die ihre Identität offenbar hatte, sagte dazu: „Plácido Domingo ist ein unglaublicher Künstler, ein wunderbarer Darsteller. Aber ich habe keinerlei Respekt vor ihm als Mann.“
An der Met hätte Domingo im November auch noch in der unbedeutenden Rolle des Sharpless in Puccinis „Madama Butterfly“ debütieren sollen, das ist nun alles Makulatur. Das hässliche Ende eine schönen, eines außergewöhnlichen Sängerwegs. Es bleibt abzuwarten, ob der offiziell 78-, möglicherweise aber auch schon 82-jährige Plácido Domingo unter diesen Auspizien seine mit Gewalt als Bariton verlängerte Karriere weiter fortsetzt. Zumal auch seine Leistungen als Dirigent umstritten sind. Mal sehen, ob etwa ein ebenfalls wegen angeblichen rüden Auftretens gegenüber Untergebenen massiv in der Kritik stehende Daniel Barenboim, ein langjähriger Freund, ihm weiterhin die Treue hält und halten kann. Am Ende bleiben dann nur die Oligarchen, Araber und Chinesen.
An der Covent Garden Opera, wo im nächsten Frühjahr-Domingo-Auftritte geplant sind, wird er vermutlich nicht singen; dort folgt man gern amerikanischen Vorbildern. Zumal man auch selbst eine jüngsten MeToo-Tenorfall hat. Eben soll der italienische Star Vittorio Grigolo (42) während einer Japan-Tour des Hauses beim Verbeugen eine Chorsängerin „befummelt“ haben. Das habe zu lautstarken Auseinandersetzungen vor Publikum geführt; worauf man den als temperamentvoll bekannten Grigolo erst einmal suspendiert hat. Den letzten Tour-Auftritt sang ein anderer Tenor. So wie auch an der Met bereits ein echter Alternativ-Bariton für Domingo bereitstand. Und dort hat man jetzt gleich ebenfalls Grigolo von „Traviata“-Auftritten im Winter entbunden.
Tenor-Dämmerung? Es scheint so. Künftig müssen die Herren wohl ihren gesamten erotischen Überschwang in ihre hohen Cs stecken. Aber gesungen wird ja immer noch mit den Stimmbändern und nicht mit den Lenden.
Der Beitrag Ist halt vorbei: Das Ende an der Met dürfte auch das Karriereende für Plácido Domingo bedeuten erschien zuerst auf Brugs Klassiker.