Auch wenn es nun mit der Opéra de Paris nichts geworden ist, Peter de Caluwe, der seit 2007 ziemlich fest im Intendantensessel der Brüsseler Monnaie-Oper sitzt, kann sich entspannt zurücklehnen. Er hat Kürzungen und nicht enden wollende Haussanierungen im Ersatzquartier weggesteckt. Mit Alain Altinoglu als Musikchef und Antonello Manacorda als fester Gastdirigent, der bald einen Mozart/da-Ponte-Zyklus in drei Tagen, einem Bühnenbild und sich überlappenden Sängerbesetzungen wuppt, ist man im Graben bestens positioniert. De Caluwe hat immer wieder spannende Premierenteams am Haus, eben hat er Buch geschrieben und außerdem hat er das ehrgeizige Vorhaben, künftig jede Saison mit zwei Uraufführungen zu eröffnen. Beim ersten Mal hat das geklappt, sogar mit zwei atmosphärisch verwandten Werken, aber er selbst gibt schon zu, dass sich das Unterfangen zumindest nicht als Auftakt-Whopper fortsetzen lassen wird. Zu launisch sind die finanziellen Verhältnisse und die Arbeitsfreude der Komponisten. Trotzdem: ein Anfang ist gemacht, mutig, deutlich, und ganz anders als an vielen Häusern, die zur Rückkehr aus der Sommerpause eher auf Nummer sicher gehen. Wie war das nochmal? Hatte die Deutsche Oper nicht auch einst ein zeitgenössisches Ausrufzeichen an den Spielzeitbeginn gestellt? Tempi passati. Heute behilft man sich dort lieber mit unlustigem Castorf-Verdi. In Brüssel aber gibt man den Franzosen die Bühne: Lokalmatador Pascal Dusapin überrascht mit seiner fast schamlos zugänglichen Shakespeare-Paraphrase „Macbeth Underworld“, und der jüngere Benjamin Attahir beweist mit seiner Maeterlinck-Trilogie „Le Silcence des Ombres“ zumindest, dass er eine eigene, durchaus wieder erzählerische Musiksprache hat und suggestiv orchestrieren kann.
Unterwelt und Schatten. Das weist schon den Weg auf eher düstere Settings. Und so kommt es auch. Den Dusapin hat der französische Theaterregisseur Thomas Jolly in Dunkelheit getaucht, die von hartweißen Diskolichtern durchzuckt wird, so wie in seinen beiden vorangegangenen Operninszenierungen auch. Ineinander verschlungenes kahles Geäst fügt sich zum undurchdringlichen Wald von Birnam; später erhellen ihn Neoninstallationen in Rot und Weiß nur schummrig; das Bett der Lady, in dem sie am Ende schuldhaft versinkt, wirkt wie von einem Neondiadem umfasst.
Schick sieht das aus, und mit einer gehörigen Portion Musical-Ironie würzt Jolly (aber auch Dusapin) das an sich todtraurige Geschehen zum schottischen Operntanz der Vampire. Zu Anfang spricht der mit 77 Jahren immer noch muntere Graham Clark als rotbeschopfte Hecate/Queen Elizabeth I. im karierten Rock einen Prolog, der uns in einen Spiegel der (Alb-)Träume einlädt. Später kehrt er als fies-komischer Pförtner wieder. Die Hexenbrigade mit drei Solozauberinnen, sieht aus wie durch die Mangel genommenen Nymphen. Und Mr. wie Mrs. Macbeth, die wunderbaren Charaktervokalkomikertragöden Georg Nigl und Magdalena Kozena, schlurfen als bleiche Mördergespenster durch die Szene, die sich auf der Drehbühne auftut.
Um die eigene Achse wirbeln da Bäume, Bett, eine Olgemäldewand und ein teuflisch verziertes Renaissance-Portal (installative Bühne: Bruno de Lavenère). Rote Latexleichen winden sich im brillanten Lichtdunkel von Antoine Travert. Ein Schaukelpferdchen auf halber Höhe kündet von der Lady unerfülltem Kinderwunsch. Und als ihren Schatten werden sie den schon zu Anfangs gemordeten Banco (unauffällig: Kristinn Sigmundsson) nicht mehr los. Der hat das Messer noch im Rücken, und das Paillettenblut auf Hemd und Haaren. Beim Bankett erschreckt er alle als sich unter dem Tischtuch erhebendes Nachtgespenst.
Das ist so komisch grotesk, wie tragisch burlesk. Und eben voller Unterwelt-Schatten. Und so gibt sich auch Pascal Dusapins erstaunlich eklektisch anmutende Partitur, die Alain Altinoglu genüsslich auskostet und zart dirigierpinselt. Da wummert gleich zu Beginn die Elektroorgel wie im ollen Hammer-Gruselfilm, das Licht blitzt und alle genießen die liebevoll ausgestellten Gothic-Horror-Versatzstücke. Doch die Musik, die im pausenlos 110-minütigen Schnelldurchlauf durch das Originalstück eiert, kann auch wirklich traurig und ergreifend irr, wenn die beiden Königsschlachter nicht mehr weiter wissen, das Gewissen zum Wurm wird. Ein Kindchen (Naomi Tapiola) beerbt sie gleich schon zu Beginn, der Rest ist Rückblende, Bruchstück, Fragment des allbekannten „Macbeth“-Mosaiks.
So wird Pascal Dusapins neuntes, wieder große Literatur aufgreifendes Musiktheater, das dritte für La Monnaie, heftig bejubelt. Eben ist seine achte Oper, ebenfalls 2015 hier uraufgeführt, „Penthesilea“ in einer packenden CD-Aufnahme (Cyprès) erschienen. Doch da war er noch abstrakter und atonaler, melismatisch hysterischer. In der aktuellen, sicher bühnenerfolgreichen Shakespeare-Adaption, deren Libretto er mit Frédéric Boyer kompiliert hat, komponiert er publikumsnäher, schräger, altersentspannter. Ja, er hat endlich Humor! Ausgerechnet hier. Und schöpft die filmmusikalisch Effekte aus vom Dröhnen bis zum zarten Lautengezirp. Und sein Lieblingsprotagonist Nigl schmeißt sowieso den Schreckensladen. So ist man schnell, drin, bleibt dran und erfreut sich an einer weiteren, facettenreichen „Macbeth“-Variante. Es muss ja nicht immer Verdi, Ernest Bloch oder Salvatore Sciarrino sein.
Weniger geglückt ist die zweite Opernaufführung, „Le Silence des Ombres“, wofür die Monnaie im schmucken, außen historistischen, innen als modernes Ranghaus entkernten Königlich flämischen Theater gastiert. Der 40-jährige Benjamin Attahir (mit dem man auch in Aix Einiges vorhat) suchte sich für seine erste Oper als Vorlage gleich drei Marionettenstücke des belgischen Literaturheiligen Maurice Maeterlinck aus; der freilich trotz Nobelpreis nur noch in der Oper herumwest. Vor allem natürlich dank Debussys „Pelléas“, aber auch Dukas’ „Arianne et Barbe-Bleue“ geht auf ihn zurück, oder Aribert Reimanns letzte Oper „L’invisible“.
An die muss man an diesem überlangen Abend oft denken, nutzt Reimann doch auch für seine 2017 uraufgeführte Trilogie zwei der drei von Attahir verwendeten Werklein. Aber er ist nach überzeugenden 110 Minuten durch, Attahir braucht viel zu dröge 180 Minuten! Da sollte nicht zimperlich gekürzt werden, auch weil die düster-verblasene, melancholisch-starre Stimmung viel zu ähnlich bleibt. Die Schere sollte möglichst schon vor der Übersiedelung zu den Koproduzenten Queen Elisabeth Music Chapel in Waterloo, Les Théâtres de la ville de Luxembourg, und dem Theatr Wielki in Warschau angesetzt werden!
Attahir, der auch selbst dirigiert, kann orchestrieren. Ihm gelingt ein fast tonal anmutender Orchestersatz für die Kammertruppe der Monnaie, mit Akkordeon aufgehübscht, durchsichtig, in vielen Schattierungen ein gruftiges Geschehen beschreibend. Der nur 20 Minuten kurze Mitteilteil wird weitgehend zu Blechuntermalung gesprochen; im Französischen aber eben auch mit Melodie. Den dritten Teil dominieren die Celli.
„Le mort de Titangiles“ erzählt eine schräge Sterbegeschichte eines minderjährigen Königs und seiner bösen Mutter, die Schwestern Ygraine (Raquel Camarinha) und Bellangère (Clémence Poussin) stehen im Mittelpunkt. „Interieur“ ist eine Außenschau von zwei Sendeboten mit schlechter Nachricht, die eine harmonische Familie überraschen müssen. „Alladine et Palomides“ ist eine ebenfalls in einer Grotte zwischengelagerte Liebesgeschichte mit Nicht-Bekommen und Sterben in einem Adelshaus, ähnlich wie „Pelléas et Mélisande“. König Ablamore ist Renaud Delaigue, der die Sklavin Alladine (Julia Szproch) begehrt. Die wiederum hat sich in Palomides (Pierre Derhet), den Verlobten seiner Tochter Astolaine (Raquel Chamarinha) verguckt. Und so lässt Benjamin Attahir die sehr guten Nachwuchssänger sehr debussyig parlieren, etwas gleichförmig, aber textklar, nervös worttänzelnd, leicht erregbar.
Der in der Barockmusik und als Cavalli-Biograf versierte Regisseur Olivier Lexa hat für das leicht wandelbare Einheitsbühnenbild einer gotisch anmutende Halle mit Säulen und Treppenhaus aus rohen Betonplatten Studierende der Szenografie an der Nationalen Designschule in La Cambre ausgesucht, in der das kaum vorhandene Geschehen wohlgesetzt zum Tableaux arrangiert ist. Als durchgängiger Gimmick in diesem oft wie geistliche Spiele anmutenden Triptychon mi seiner hären Mittelalteroptik (auch in den Kostümen) taucht ein oft beschriebenes, als Schatten projiziertes und in seiner Version des Genter Eyck-Altars in einem Krankenzimmer-Video reproduzierten Lamm Gottes auf; auch Lichtgehänge schweben weihnachtsmarktgleich auf und ab. Schwestern und Ärzte unterstreichen die Krankenpflege-Atmosphäre, aber sind zu wenig kontrastiv, um den dann doch blutleeren Abend zu infusionieren.
Der Beitrag Opernnacht und Albträume: mit zwei Uraufführungen von Dusapin und Attahir startet die Brüsseler Monnaie mutig ihre Spielzeit erschien zuerst auf Brugs Klassiker.