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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Zu neuen Ufern – am Zürichsee: Paavo Järvi startet beim Tonhalle-Orchester. Und hat viel vor. Er will den Klangkörper zu einem der besten Mitteleuropas machen         

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„Alles super, ich bin sehr, sehr begeistert!“ und dann gibt es via Skype ein Prost mit dem Rotweinglas vom Swimmingpool samt Sonnenuntergang in Palm Beach, Florida. Paavo Järvi hat gesprochen, und der sagt für gewöhnlich nicht viel. Was er aber sagt, das sitzt, so wie jetzt. „Die Zürcher Tonhalle-Orchester hat ein ungeheures Potenzial, da ist so viel Flexibilität, Können und Wollen, ich bin total überrascht. Wenn wir mögen, dann können wir wirklich fliegen. Und ich mag!“ Das war vor einigen Monaten. Jetzt wurde es Realität mit dem Chef. Und gar nicht so unpassend, im Ausweichquartier der Tonhalle Maag, im neuen shabby schicken, so gar nicht nach Zürichsee, Bahnhofstraße und Baur au Lac aussehenden Quartier an der Hardbrücke – und doch nur eine S-Bahn-Station vom Hauptbahnhof entfernt. Da passt der Este sehr gut hin, zwischen Sphinx und Poker Face wird der Kahlkopf gern charakterisiert, dabei kann er doch so herzlich lachen. Und jetzt ist schon klar: Nach der desaströsen Zeit mit dem Fehlschlag Lionel Bringuier wird das gut werden, sehr gut. Und wenn dann erst der (natürlich verspätete) Umzug in die renovierte Tonhalle erfolgt, dann wird es noch besser.

Die mögen sich. Man hörte es bei dem wohlüberlegten Antrittsabend. Der mixte Estnisches mit Finnischem, Neues mit Rarem. Pausenlos. Ganz auf die Musik und das Programm konzentriert. Schwerblütig und ungewohnt. Dabei spätromantisch auf einer Linie mit dem anvisierten Tschaikowsky-Zyklus, den Paavo Järvi in den kommenden Monaten mit seinem neuen Orchester quasi als Honeymoon einspielen will. „Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte…“, so wispert und brummelt es gleich zu Anfang mit einer alten Arvo-Pärt-Komposition, die das anwesende estnische Nationalheiligtum eigens neu orchestriert hatte. Barock und Insektenflug mischen zu üblichen Pärt-Mischung aus Meditation und Ironie, mit Klavierklong und Percussionsbäng – und nach nur sechs Minuten hat es sich auch schon wieder ausgesummt. Der Schöpfer wird freundlich beklatscht

Substanzreicher ist da die selten zu hörende, fast 80 Minuten lange, nationalromantisch dräuende Chorkantate „Kullervo“. Ein Frühwerk (1892) von Jean Sibelius über den größten Rabauken aus dem für Finnlands Identität so wichtige „Kalevala“-Epos. Natürlich wurde das bombastische Ding auch in Zürich noch nie gespielt. Und das Tonhalle-Orchester, dessen DNA glücklicherweise immer noch vom schlanken Beethoven-Ideal David Zinmans geprägt ist, geht hier, bewusst mit dem anderen Extrem gefordert, in die Vollen. Zäh und breit wälzt sich der Tonstrom, nimmt freilich Fahrt auf als es mit dem Schlitten zur wilden Jagd geht.

Die zentrale, Wälsungen-ähnliche Vergewaltigungs- und Inzestszene zwischen Bruder und Schwester (pikanterweise hier mit vokalen Flammenstößen perfekt von ebensolchen gesungen – Johanna und Ville Rusanen) ist ganz große nordische Oper. „Es gibt hier eine Situation“, hatte Intendantin Ilona Schmiel, das vorher bei der Begrüßung noch damenhaft umschrieben, während Martin Vollenwyder, der Präsident der Tonhalle-Gesellschaft sich als sehr witziger, schlagfertig-verschmitzter Swiss-Animator erwies. Schön schmiegen sich später die Melodien, krachend geht’s in den Kampf, ein wuchtiges farbensattes Moritatenpanorama spannt sich so bis zum verdämmernden Tod Kullervos.

Dem noch ein ebenso auftrumpfendes Chorlied aus Sibelius’ „Lemminkäinen“-Zyklus als Zugabe folgt. Einmal mehr kann sich da die virile Durchschlagkraft des Estnischen Nationalen Männerchors RAM sowie der Herren der Zürcher Sing-Akademie voluminös beweisen. Danach gibt es Bier aus Körben – natürlich estnisches, mit einem weißen Hai auf dem Etikett. Gebissen wurde freilich an diesem verheißungsvollen Abend niemand. Und am nächsten Morgen, Papa Neeme und Mama Liilia sind auch da, es war wohl spät geworden, blinzelt Paavo  Järvi schon wieder vergnügt ins Frühstücksraum-Sonnenlicht. Gleich geht es zum Fototermin mit dem ganzen Orchester für die nächste Saison: Nach dem Auftakt ist vor dem Auftakt.

Und der neue Chef birst vor Enthusiasmus und Ideen. Neben seinem NHK Symphony Orchestra in Japan und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ist das jetzt für den  55-Jährigen der perfekte Match: Hier sind Moneten, Aufbruch und Wollen. Seine Intendantin, deren Loblied er anstimmt, liefert das ebenso perfekte Backup. Gemeinsam hat man die ersten zwölf Monaten klug geplant: „Unsere erste Saison ist meinen nordischen Wurzeln gewidmet. Als neuen Inhaber des Creative Chairs konnte der Estnische Komponist Erkki-Sven Tüür gewonnen werden, ein alter Freund und Weggefährte. Auch in der Reihe Im Fokus setze ich auf nordisches Können: Martin Fröst, Pekka Kuusisto und Ksenija Sidorova besuchen uns.” 

 Lange war gerade der eher ruhige Paavo Järvi ein stiller Star der Branche, ein fleißiger Arbeiter im musikalischen Weinberg des Herren. Geschätzt im Klassikbetrieb als zuverlässig, zupackend und effizient. Sein Orchesterimperium umfasste zu Beginn der Zehnerjahre die Bremer, das Estnische Nationalorchester (das er berät), das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks, das Cincinnati Symphony Orchestra, den immerhin fünftältesten Klangkörper der USA, und das Orchestre de Paris. Inzwischen sind die USA, die Frankfurter und die Franzosen Vergangenheit, obwohl er überall immer noch ein gern gesehener Gast ist. Dafür werden sich die Zürcher ihren Paavo weiterhin mit Tokio teilen müssen. Und das flexible norddeutsche Kammerorchester war und ist ihm eine Herzensangelegenheit. 

Denn gerade die brachte er ebenfalls zum Fliegen – wie sie ihn. Mühelos an die Spitze ähnlicher freier Formationen geschoben hat sich die Deutsche Kammerphilharmonie unter Paavo Järvi mit ihrem sinfonischen Beethoven-Zyklus, der kurz nach dem bahnbrechenden Neuner-Bündel der Zürcher unter David Zinman entstanden ist. Die waren die ersten, die nach den Noten der neuen Beethoven-Ausgabe von Norman de Mar musizierten. Und die Deutschen taten es ihnen nach: Furios, frisch und unverbraucht, wie auf einem Atmen, taugt der Komponist ihnen als Lehrmeister und Spielzeug, als Identifikationsobjekt und Mahner oder einfach als Quelle sich nie verbrauchender orchestraler Freude. Und daran will Paavo Järvi jetzt auch am Zürichsee wiederanknüpfen. 

Järvis rasant individuelle Rhetorik, das instrumentale Können des Orchesters, das gemeinsame Wollen, das von traumsicherer Übereinstimmung mit dem Chefdirigenten kündet – man kann solches durchaus als gute Vorboten für die Zürcher Partnerschaft deuten. „Ich spüre bei meinen Schweizer Musikern Enthusiasmus, Wollen, die Energie des Aufbruchs“, schwärmt Järvi. „Da höre ich noch viel Zinman, das Orchester hat diese Identität behalten. Hier ist Geld und Energie und es gibt ein gutes Management. Das alles habe ich gespürt, als ich dort vor drei Jahren erstmals dirigiert habe, dann nochmal. Und dann waren wir im Grunde schon verpartnert“, erinnert er sich genießerisch. „Oftmals stimmen zwei von vier Voraussetzungen, hier aber war alles fein.“ 

Und weiter lobt er, man mag es nicht nur als Kuschel-Rhetorik abtun: „Das Orchester steht  für Aufbruch. Ich freue mich auf die renovierte Tonhalle, aber auch das Tonhalle-Maag-Ersatzquartier hat sich hervorragend bewährt, neue Hörer gebracht und die Musiker zusammengeschweißt. Das möchte ich fortführen. Wir müssen vor allem in Sache soziale Medien noch besser werden, und wir müssen audiovisuell präsent sein. So wie die Berliner Philharmoniker mit ihrer Digital Concert Hall. Sponsoren dafür müssten sich vor Ort doch finden lassen. Das Internet ist ein wunderbares Kommunikationsinstrument. Darin sind die Esten sehr fit. Unsere Konzerte dürfen keine einseitige Angelegenheit bleiben. Musik ist Austausch.“ 

Deshalb auch hat Paavo Järvi schon bisher fleißig CDs eingespielt. Mit seinen Silberschieben bei Telarc, Virgin, Erato und Sony ist er auf dem Tonträger-Markt präsent wie neben Simon Rattle kaum einer seiner Generation. Eben, auch das ist natürlich Programm, erschien bei Alpha die erste CD des Tonhalle-Orchesters unter Paavo Järvi – mit Musik von Olivier Messiaen, live mitgeschnitten. „Ich wollte überraschen, die Musiker auch ein wenig herausfordern. Das haben sie glänzend bestanden. Messiaen klingt sinnlich und wach, genau richtig für uns. Als nächstes bereiten wir aber den Tschaikowsky-Zyklus vor, denn das Orchester soll seine spätromanischen Qualitäten ausspielen können. Und auch über Bruckner denke ich nach. Dazu werden Mahler, Berlioz und Moderne verstärkt auf dem Speiseplan stehen. Auch soll regelmäßige Beschäftigung mit Haydn – den mache ich auch mit den Bremern – Mozart und wieder mal Beethoven das Zusammenspiel, das gemeinsame Hören optimieren.“ 

Man hätte für den Plattenmarkt natürlich mit Jean Sibelius anfangen können, mit Estnischem, mit Spätromantik, alles Musik, die dieser neuen Partnerschaft im Blut liegt. Aber man hat sich doch für ein ungewöhnliches Programm mit nur einem zeitgenössischen Komponisten entschieden. Im letzten Jahr wurde ein Anteil repräsentativer Orchestermusik des so katholisch gläubigen wie die Vögel liebenden und erforschenden französischen Olivier Messaien eingespielt. Und schon die sprechenden Titel weisen auf diesen Hintergrund:  L’ascension – die Himmelfahrt;  Le tombeau resplendissant – das prächtige Grab; Les offrandes oubliées – die vergessenen Opfergaben; und das späte Un sourire – ein Lächeln. Das ist rauschhaft irisierende Klangtänzelei, nervös und narkotisch.

 Kein Zweifel, dieser manchmal ein wenig unterkühlt wirkende, technokratisch agierende, gar nicht viel Kunstsums machende Dirigent, er hat goldene Hände.  Und er nutzt sie auch. Was sagt Paavo Järvi sonst noch so über seine Zürcher? „Sie können viel, gehen die Dinge aber entspannt an.” So wie augenblicklich ihr künftiger Chef. Der nächste Woche übrigens schon wieder bei den Berliner Philharmonikern am Pult steht. Dirigieradel verpflichtet eben.

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