Groß, größer, Tobias Kratzer! Unser Mann für die Monster. Zumindest in der Oper. Und spätestens nach dem allgemein begeistert aufgenommenen Bayreuther „Tannhäuser“. Aber er und seine Truppe, die können auch kleine Opernbrötchen backen, haben sie zuletzt in Halle und sogar an der Deutschen Oper Berlin bewiesen. Aber jetzt trieb es sie schon wieder zum nächsten Gebirge, metaphorisch wie opernwirklich. An der Opéra de Lyon (und nächste Spielzeit auch im koproduzierenden Karlsruhe) war – Hollerädulliö – Gioachino Rossinis neuerdings wieder viel gespielter Pariser älpischer Schwanengesang „Guillaume Tell“ dran. Allein 17 Produktionen sind in den letzten drei Jahren weltweit verzeichnet, aber keine war so radikal wie dieser, zudem rhythmisch beklatschte Abend. Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier erlauben uns zwar zu Anfangs einen fast ungetrübten, leicht Wolken verhangenen Bergblick als hochästhetisch gerahmte Schwarzweißfotographie. Aber dieses Zitat wird von einem anderen Zitat schnell ausgelöscht. Denn wenn hier auf einem neutral weißen Spielpodest ein einsames Cello (in der berühmten, vom Lyoneser Musikchef Daniele Rustioni zu schönem Atmen animierten Ouvertürenauftaktstelle sind es freilich fünfe) ein manierliches Tanzpaar vor dem Bildpanorama begleitet, dann wird das – schnell naht das Gewitter musikalisch – von einer Schlägertruppe in Weiß, samt Lendenschutz, Baseballkeule und Melone zertrümmert. Ja, genauso wie von Alex und seiner Hooligangang in Stanley Kubricks „Clockwork Orange“-Verfilmung, während auch dort die „Tell“-Ouvertüre brutal schmettert. Als bürgerliches Zitat, das hier rückverwandelt und zu seinen Ursprüngen geführt wird.
In Lyon läuft jetzt bald schwarze Schmiere über die bühnenhohe Fototapete, dann nämlich, wenn, der rote Vorhang hat sich zwischenzeitlich über der Schlussfanfare des Vorspiels geschlossen, das folgende Tableau wohlgesetzter (Schweizer?) Bürgerlichkeit auf der Bühne durch (Habsburger?) Hörnerrufe gestört wird. Die nahende Jagdgesellschaft hetzt nämlich bald diese schwarzgekleidete Dorfordnung auseinander, die rund um den Tellschen Sonntagssuppentisch sitzend ihre guten Lieder mit Notenkladden absingen. Und eint sie doch im Kampf.
Denn Kratzer mag keinen Eidgenossen-Klischees vorführen und auch keine Mittelalter-Revolte abliefern. Nur einmal, beim Altdorfer Apfelschuss, da werden alle noch zusätzlich gedemütigt, indem sie sich in rustikalen Faschingskostümen vorführen und quälen lassen müssen – was auch Rossinis dummerweise oft gestrichene Ballettmusik in Demis Volpis tänzerisch präziser Zurichtung noch eindrücklich verschärft. Kratzer interessiert das große, kaum eingestrichene, als kontinuierliches, nur von einer Pause unterbrochenes Opernabstraktum. Ein Volk, dem Schöngeistiges wichtig ist (sogar der hier von einem blondsüßen Steppke samt der flackernden Stimme von Jennifer Courcier verdoppelte Tell-Sohn Jemmy spielt auf der Geige vor), das statt Bogenschießwettbewerb die friedliche Instrumentekonkurrenz pflegt, wie reagiert das auf Gewalt von außen?
Das führt, nach dem wunderfeinen Trio zwischen Tell (bewährte Baritongemütlichkeit: Nicola Alaimo), Arnold (metallglänzend, aber nicht mit allen Tenorspitzen: John Osborn) und Fürst (prächtiger Sekundant: Patrick Bolleire) die souveräne Regie zum Rütlischwur vor dem fast schon gänzlich farbüberlaufenen Bergfoto zwischen umgestürzten Stühlen vor: Die Mannen aus Unterwalden kommen als Streichertrupp, die Brigade aus Schwyz stapft als Holzbläser auf die Szene und der Kanton Uri schickt seine Blechkapelle. Sie alle formieren sich zum Orchester, das freilich nicht mehr spielt, sondern Instrumente zu Waffen mutieren lässt – als einig Volk von Musizierbründern. Ein Violinboden samt Hals mutiert zur Streitaxt, der Cellodeckel ist das Schild; eine Zarge samt Klarinette wird zur Tell-Armbrust, geschossen wird mit dem Geigenbogen. Das ist so rührend naiv wie operneffektiv – weil hochsymbolisch.
Tobias Kratzer mit seinen hochmögenden Solisten – Jane Archibald koloratiert routiniert die die hier zur Gessler-Schwester nahgerückte Habsburgerprinzessin Mathilde; Jean Teitgen ist der bassböse Usurpator; Enkelejda Shkoza brustet die Hedwige als Urmutter Helvetia) – führt hier eine ganz konzentrierte Versuchsanordnung zu ihrem folgerichtigen Schluss, zu dem ihn, durchaus deutlich, die bewährte Peter-Konwitschny-Dramaturgin Bettina Barz geführt hat: Böse Menschen haben keine Lieder, aber die guten müssen sich ihrer trotzdem erwehren. Und selbst der Liebessang kann so nur ein Duett vor dem Notenständer sein, die silberschimmernde Konzertrobe mutiert zum Fetisch der Erinnerung. Wenn dabei die wie stets tränentreibenden – und hier von Daniele Rustioni und dem nie schwächelnden Orchester samt Chor besonders klar ausgebreiten – harmonischen Finalrückungen triangelglitzernd wie naturumarmend ihr „Liberté“ umspielen, dann haben sich eben doch auch die Guten blutig und schmutzig gemacht.
Zwischen den bösen Toten kann das Mittagessen eben nicht mehr einfach unschuldsvoll am neuerlich hereingetragenen Tell-Tisch fortgesetzt werden. Die Suppe hat jetzt einen bitteren Beigeschmack. Und der schwer traumatisierte Jemmy setzt sich schon mal einen Schlägerhut auf. Was wächst da also heran? Rossini hat sich nach diesem Opernbrocken erschöpft zur Ruhe und – ja, eben – zum Essen gesetzt. Tobias Kratzer aber, der hier ein allzu gerne als gefälliges Gesangsstück missachtetes Meisterwerk, zu einem musikalisch seinen analytischen Tugenden ausspielenden, ungemein klugen Kammerspiel in strengem Schwarzweiß reduziert hat, schließt brillant mit einem berechtigten Fragezeichen. Und die Operá de Lyon hat wieder mal eine tolle Premiere mehr gewuppt.
Der Beitrag Clockwork Tell: Tobias Kratzer verwandelt in Lyon Rossinis Grand Opéra in ein einig kulturkämpfendes Volk von Musikantenbrüdern erschien zuerst auf Brugs Klassiker.