Der Film noch vor den ersten, geschäftig aufrauschenden, gleich in die juvenil Frischen gehenden Puccini-Akkorden, macht alles klar. Diese Manon Lescaut ist kein unbedarftes, aber hübsches Mädchen, das auf dem Weg in die Klosterschule eher zufällig auf die schiefe Bahn gerät. Diesmal kommt sie illegal nach Frankreich, aus Osteuropa oder Vorderasien, die Schrift im Brief der Mutter, der über den Bildern aus der fiesen Kleiderfabrik und dem Durchsteigen eines zerschnittenen Drahtzaunes liegt, sieht jedenfalls sehr exotisch aus. In der Frankfurter Opernechtzeit landet sie dann in einem Transporter voller Illegaler unter dem Betondach eines unwirtlichen Busbahnhofs. Hinten deuten die Betonstützen, das nicht vollständig sichtbare Wort „LOVE“ an. Links wartet seltsamerweise der Portier eines Luxushotels auf das Gepäck der Ankommenden, rechts wuselt in einem billigen Imbiss das Unterschichtgewimmel der Gestrandeten. Manche haben noch, Hoffnung, andere haben sie fallen gelassen. Und dazwischen streckt Manon, eine billige Tussi in falschen Jeans und mit Goldtasche, ihre müden, aber abenteuerhungrigen Glieder während ihr rotziger Bruder (fleischiger Bariton mit echten Tattoos: Iurii Samoilov) schon mal die Lage checkt. Ein Mann besingt sie (tenorschön: Michael Porter); ein schmieriger Lude (genredeckend: Donato Di Stefano als Geronte de Ravoir) taxiert sie; ein offenbar unbedarfter Jüngling namens Des Grieux verliebt sich gar in sie.
Willkommen im Opernleben von heute. Hier spreizt kein zarter Rokokosperling mehr sein flügges Gefieder, lässt sich von l’amour, Juwelen und dem süßen Leben besäuseln. In dieser Zurichtung des nüchternen Regisseurs Àlex Ollé und des zupackenden Dirigenten Lorenzo Viotti geht es gleich und deutlich zur Sache. Liebe ist käuflich, so wie auch Gefühle. Nur der schmachtende Des Grieux des schön auf Tontouren kommenden Joshua Guerrero braucht etwas länger, um das zu kapieren.
Kein Wunder, das Objekt seiner dann doch nicht so schüchternen Begierde, dann Verfallenheit ist ja auch Asmik Grigorian. Die litauische Sopranistin, berühmt geworden letzten Sommer als Salzburger Salome, entwickelt sich auch hier wieder aus einer mal tussigen, dann girlie-haften Unbedarftheit zum gleißend alle Strahlen in sich brechenden Mittelpunkt dieses großartigen Opernabends. Und man kann so schwer sagen, wie sie das macht. Die dunkle, dann aber auch hell auffahrende Stimme ist nur ein Teil dieses Künstlerinnen-Gesamtkunstwerks. Dazu kommen Ausstrahlung, präzises Timing, eher kleine Gestik und eine vollkommene, katzenhaft intuitive Interaktion mit allen anderen auf der Szene.
Und so mag man diese eigentlich verletzliche, aber nicht sonderlich sympathische, nie über die nächsten zehn Minuten hinausdenke Frau irgendwann doch, schaut gebannt ihrem Schicksal auf der Absteigekurve zu. Vom „süßesten Leiden“ – „dolcissimo soffrir“ – künden die beiden so rasch im Duett vereinten Liebenden, ihren Moment höchsten Glücks zu bewahren suchend, bevor es hurtig abwärtsgeht auf dem Rad des Opernheldinnenschicksals. Symbolhaft senkt sich zum zweiten Akt vorhanglos die Betondecke herab und offenbar einen schillernden, aber eben auch eiskalt neonfarbenen Stripschuppen, in dem Manon jetzt ihr Geld verdient. Frauen als Ware, Mädchen als Objekte und Liebe als Geschäft: Schamlosigkeit vorwiegend pekuniär gesteuerter Emotionsillusion.
Eigentlich müsste sie in diesem Tabledance-Ambiente (der ebenfalls minimalistische, aber effektive Bühnenbildner Alfons Flores hat hier schon 2004 mit Calixto Bieito Massenets „Manon“ ähnlich zeitgeistig ausgestattet) „Adieu, mon petit table“ singen statt nicht vorhandene morbide Spitzen zu beklagen – wo sie doch nur einen knäpplichen Glitzerbikini als Dienstkleidung besitzt und darin ziemlich professionell die Hüften kreiseln lässt. Die Männer nehmen sie aus, aber sie nimmt es auch von den Männern. Sogar der madrigalisierende Kastraten-Musico und der die Gavotte schlagende Tanzmeister werden in dieser feinen Ancien-Règime-Musikstilkopie bruchlos stimmig ins Heute gebeamt.
Dann sind alle bunten Farben weg. Der dritte Akt düstert sich ein. Die Polizei hat Manon brutal weggeführt. Lorenzo Viotti, der einen süßen, nie verweilenden, aber auch sehr aktiv und plastisch einen vorpreschenden, vitalen, durchaus knallig harten Puccini aus dem willigen Frankfurter Museumsorchester herauskitzelt- wie peitscht, intensiviert die trostfreie Stimmung. Unter der Betonplatte vegetieren, wie etwa in Calais, die Abzuschiebenden, von Schäferhunden bewacht, wie Tiere in hasenstallartigen Käfigen. Der Laternenanzünder Puccinis ist zur Transe mutiert. Schonungslos ist das, die Asylanten von heute sind die nach Amerika Deportierten von gestern.
Im vierten Akt, Videowellen schwappen dazwischen, kreiseln nur noch die nackten, betonfleckigen „LOVE“-Buchstaben als fast schon zynische letzte Zuflucht, wo das verlorene Paar in den Bögen und Vorsprüngen sich kauert, auf der sonst leeren Drehbühne. Hier ereignet sich jetzt das Puccini-haft große Opernende: Verzweiflung, Verlassenheit, Verabschiedung. Manon und Des Grieux, Asmik Grigorian und Joshua Guerrero, laufen zu höchster, desperat-emotionssatten Form auf. Sie stirbt, er schwelgt, den Wert der wahren Gefühle entdecken sie erst beim letzten Todesschluchzer. Das ewige Opern-Paradox, sehr italienisch, sehr heutig-packend und trotzdem stückkonform, dabei sehr begeisternd in Frankfurt.
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