Am Schluss, nach charmanten, flamboyanten zwei Stunden leuchtet hinten das, ein wenig an eine venezianische Palastfassade erinnernde dicke B golden auf und alle huldigen ihm mit Freude: „Evoé, Madame Bru!“ Und die sinkt bescheiden noch mehr in ihrem Balkonsessel während das volle Auditorium im Pariser Théâtre du Champs-Élysées sich zur Standing Ovation erhebt. Schließlich hat diese so zurückhaltend-elegante Dame das alles durch ihre großzügige Stiftung Palazzetto Bru Zane – Centre de Musique Romantique Française möglich gemacht. Dass es für uns wieder ganz alltäglich ist, unbekannte Musik von Victorin Joncières und sogar von Charles Gounod, von Lecocq oder Audran auf der anderen, der bunter dekorierten Operettenseite zu hören, die am Rand des Bühnenrahmens schon durch die Plakate bezeichnet wurde. Und so muss man sich längst mich mehr fragen: Was haben eine Aufführung von Charles-Simon Catels Oper „Les Bayadères“ in Sofia mit Noverre-Balletten in der Königlichen Oper Versailles, ein Kammerkonzert des Trio Arcardi mit Musik von Gouvry in Shanghai, ein Fauré-Abend der Gebrüder Capuçon in Wien und eine konzertante Berliner Gegenüberstellung von Wagners „Fliegendem Holländer“ in des Komponisten eigener Version und der von Pierre-Louis Dietsch miteinander zu tun? Denn längst wissen nicht nur die Eingeweihten: Sie alle wurden inspiriert, betreut und bisweilen auch finanziell unterstützt von einer Stiftung, die seit 2009 in einem kleinen, feinen Palazzetto von 1695 in Venedig residiert, in dem schon Mozart aufgetreten sein soll.
Dessen Name ist Programm. Das sich inzwischen in der europäischen Musikwelt verästelt hat, auch im deutschsprachigen Raum Fuß gefasst und längst auch seine Kontakte nach Asien und Übersee knüpft. Während der große Palazzo nebenan längst in ein Gymnasium umgewandelt wurde und nun im Garten eine Sporthalle steht, hat im ehemaligen Ballhaus der Familie Zane die Ärztin und studierte Chemikerin Nicole Bru, als Erbin und ehemalige Mitgeschäftsführerin des Pharmazieunternehmen Labaratoires UPSA eine der zehn reichsten Frauen Frankreichs, diskret, aber effektiv ein Zentrum eingerichtet, dass die Förderung der französischen Musik des 19. Jahrhunderts beflügeln soll.
Denn jenseits der großen Opernkomponisten, im Schatten von Auber und Massenet, Bizet und Saint-Saens, Offenbach und Ravel gibt es noch jede Menge Komponistennamen und verloren gegangene Werke der Romantik zu entdecken. Während die zurückhaltende, sich nie in Konzertrampenlicht stellende Madame Bru auch Wissenschaft und Soziales fördert, wollte sie, Kunstliebhaberin, aber mitnichten Expertin, Geld geben, wo noch keines fließt. Und das ist genau bei der wissenschaftlichen Erschließung der Epoche zwischen dem Beginn der Revolution und dem Ende des ersten Weltkriegs der Fall.
Ganz sachlich stellt die Romantikerin Nicole Bru, die am meisten der Barockmusik zugeneigt ist, fest: „Ich liebe Musik seit meiner Kindheit, und eine Erinnerung ist mir bis heute besonders verhaftet: Als ich in der Schule zum ersten Mal Borodins ,Steppenskizze aus Zentralasiens’ hörte, ein wirklich starkes Erlebnis. Seither war ein Leben ohne Musik für mich nicht vorstellbar, genau wie für meinen Mann: Schallplatten, Konzerte, Oper… und daher auch meine Begegnung mit Hervé Niquet als er sein Concert Spirituel im Jahre 1987 gründete, ein Barockensemble, dass wir nachhaltig unterstützten, bis die Fondation Bru diese Rolle übernahm.“
Nachdem sie nach dem Tod ihres Mannes und weitere florierender Firmenjahre das Unternehmen schließlich verkauft hatte, erwarb sie 2006 den äußerlich unauffälligen Palazzetto, der im Schatten der Frari-Kirche nur noch ein kümmerliches, kaum mehr von Spaß und Unterhaltung vergangener Jahrhunderte kündenden Gebäudedasein führte. Dafür waren acht Millionen Euro fällig, für weitere vier ließ sie ihn renovieren. Längst also strahlen wieder seine von Antonio Gaspari entworfenen Fassaden – ockerfarben verwaschen sich in Ensemble zum kleinen Canale hin einfügend, wo man direkt vom Boot ins nüchtern-moderne Entree kommt (auf diesem Weg erreichen auch die Flügel den Saal) und kalksteinwarm zum lauschigen Garten mit seinem efeuüberwucherten Brunnen.
Und mit knapp dreieinhalb Millionen Euro finanziert Madame Bru seither jährlich das Centre in Venedig. Als künstlerische Chef und Herr der Konzerte und Kolloquien, Kurse und Kammerabende fungiert der agile, freudvoll von echter Leidenschaft getriebene Alexandre Dratwicki, dessen Zwillingbruder Benoit sinnigerweise für das Centre de la Musique Baroque in Versailles die Besetzungen zusammenstellt. So arbeitet man verwandtschaftlich Hand in Hand.
Die Stiftung unternimmt selbst Recherchen, veranstaltet im eigenen, von Sebastiano Ricci entzückend ausgemalten, mit witzigen Engelstuckaturen versehene Musiksalon und in anderen historischen, zum Teil freskierten Räumen des Palazzetto sowie Venedigs Konzerte und ediert Partituren für andere. Jährlich entwickelt man selbst in Venedig zwei Themenfestivals. Die Stiftung Palazzetto Bru Zane (PZB) beteiligt sich weltweit an Aufführungen, sucht Koproduzenten für Platteneinspielungen, und gibt eine Buchreihe für Wissenschaftler wie Laien heraus. Außerdem fördert sie junge Musiker, die sich auf Spiel- und Singweisen des 19. Jahrhunderts spezialisieren wollen. Beim eigenen Label sind bisher 22 (!) Operneinspielungen herausgekommen, immer sehr hübsch aufgemacht, dazu sechs CD-Bände mit Prix-de-Rome-Werken und vier Porträt-Bücher.
Was bisher seine konzentrischen Kreise von Venedig aus zog – wo die größeren Konzerte in der herrlichen sonst nicht zugänglichen Scuola Grande Giovanni Evangelista, die gleich nebenan liegt, abgehalten werden – entwickelt sich mit Riesenschritten zur musikhistorischen, dabei äußerst sympathisch wie clever vorgehenden Weltmacht der französischen Romantik-Lobbyistik.
Madame Bru selbst ist des Lobes voll über das bisher Erreichte, will sich aber damit nicht schmücken, sondern betont die Nutzen für die Musikliebhaber allüberall: „Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, was der PBZ alles hervorbringt: Wir sind schließlich zu Beginn lediglich von einer Idee ausgegangen, die heute dank der Begeisterung der Brüder Dratwicki und der Energie des Teams in Venedig weit mehr als nur Idee ist. Ein Strauß von Talenten, Kompetenzen und persönlichem Einsatz hat diesem Projekt in Venedig erlaubt, zu wachsen und einen europaweiten Ruf aufzubauen. Es hat sich weit stärker entwickelt, als ich zu hoffen gewagt hätte, und seine Blühen und Gedeihen freut mich außerordentlich. Zu Beginn war es undenkbar, dieser Entwicklung einen Rahmen von sagen wir mal: fünf Jahren zu geben, da ihr Verlauf von verschiedenen unvorhersehbaren Faktoren abhing: der Akzeptanz seitens des Publikums oder seitens der Musikschaffenden, sei es in Venedig oder in Italien, Frankreich und in ganz Europa, aber auch vom Zusammenwachsen des Teams, die Zeit die jeder braucht, um das Projekt wirklich zu kennen. Doch das alles ist offenbar auf höchst fruchtbaren Boden gestoßen.“
Bru Zane global – im Namen der weitgehend ignorieren, oft sehr genussvollen und experimentierfreudigen französischen Musik des 19. Jahrhunderts. Eine letzte historische Lücke schließt sich so. In dieser Epoche mag es dort nicht so viele herausragende Originalgenies gegeben, die Geschichte ist durchaus gerecht, aber doch viele, kaum je gehörten Namen und kreative Geister, denen entscheiden Gelenkfunktion zukommt. Sie werden nun ins Licht gerückt, sanft aber nachhaltig. Nie gibt man das ganze Budget für eine Produktion oder Aufführungen. Man will anstoßen, anregen, heiß machen, aber auch andere, Konzertveranstalter, Intendanten, Plattenformen, Rundfunkhäuser und Interpreten, müssen ihrer Beitrag leisten.
Aus einem Geheimtipp wurde so eine Bewegung. Die besonders von Dirigenten wie Hervé Niquet, Christophe Rousset und Marc Minkowski gern aufgenommen wird. Und die im Musikbetrieb offenbar auf höchst furchtbaren Boden stößt. Und auch bei der enthusiastischen Presse. Kürzlich wurde Nicole Bru deshalb bei den erstmals in Berlin verliehenen Oper! Awards den Preis für das beste Mäzenatentum erhalten. Da sie aber just an dem Tag wegen des Jubiläums in Venedig weilte, wurde der Award jetzt zum Gala-Konzert nachgereicht.
So hat man also jetzt die erste Palazzetto Bru Zane-Dekade privatim in Venedig und öffentlich Paris gefeiert: Dass auf das lange 19. Jahrhundert, vom klassizistischen Ende der Revolution bis zum Ersten Weltkrieg und dem Tod von Massenet wie Saint-Saëns nun wieder Licht falle. Das war eigentlich nicht so schwer, an die Partituren ist dank zentraler Archivierung gut ranzukommen, aber jemand muss den Mut und die Muße habe. Im Palazzetto forscht man jedenfalls nicht fürs stille Kämmerlein, man will die Dinge auch aufgeführt sehen. Deshalb gab es eine lange, jetzt beendete Kollaboration mit der Opéra comique, und man hat nach fünf Jahren auch entdeckt, dass ins besondere das so vielfältige französischen Operettentheater auch der besonderen Förderung bedarf. Deshalb auch die zwei, sich immer mehr freundlich mischenden Programmschienen des Abends, manifestiert vom szenischen Organisator Romain Gilbert durch die düstere-tragische Sofagruppe links, während die lustigen Leute im bunten Arrangement rechts Platz nahmen.
Einige der treuesten Sängermitwirkenden dieses Unternehmens waren da, prosteten sich zu und verspeisten am Ende Geburtstagstorte; dazu der allzu gern seinen Klamauk-Senf dazugebende Hervé Niquet am Pult des Orchester de Chambre de Paris samt dem Coeur du Concert Spirituel. Mit Offenbachs „Madame Favart“-Ouverture hob es spritzig an, um dann gleich dem hohen Pathos von Jean-Baptiste Lemoynes „Phèdre“ zu huldigen, in den sich Judith van Wanroij mit Verve und Plisseeschleier warf. Da hat sie schon bei einem der Pariser Palazzetto-Festivals getan, auch wird die Oper an der Schwelle zur Romantik bald auf CD veröffentlich. So hielt sich Rück- und Vorschau programmatisch die Waage. Manches wurde auch nur mal ausprobiert.
Und dazwischen gigelte und parlierte, plapperte und juchzte immer wieder das von der leichten Muse geküsste Singspielpersonal, wie der urkomische Rodolphe Briand sich durch seine Operettencouplet von Félix Chaudoir, durch Delikates von Frédéric Barbier, Edmond Audran (ganz besonders grell mit Olivier Py, dem gern in Damenkleidern auftretenden Regisseur und Chef des Avignon Festivals, mit rosa Strumpfhosen und Schute). Von den seriösen Damen und Herren durchmaß Véronique Gens, so etwas wie die Plazzetto-Primadonna, mit dem wunderweichfeinen Cyrille Dubois ein Duo aus Joncières „Lancelot“ (sehr lecker); mit dem immer zu sehr drückenden Edgaras Monvidas ein schmachtendes Duett aus Godards „Dante“ (gehaltvoll, auch bald auf CD).
Niquet trampelte spanische Tänze, Chantal Santon Jeffery jodelte ein Landlied aus Halévys „Charles VI“, Tassis Christoyannis gab sich Saint-Saëns’ „Extase“ hin. Dazu war Harfenbegleitung von Nöten, und der wunderbare Emmanuel Ceysson, eben aus dem Met-Graben zum LA Philharmonic befördert, zupfte sich eins; und mit dem Concertstück von Gabriel Pierné gleich noch ein virtuoses Solo-Zweites. Man wuchtete das Finale aus Méhuls „Adrien“ und ein ebensolches aus den „Mystères d’Isis“; was nichts anderes ist als Mozarts umgetextete „Zauberflöte“. Ingrid Perruche rockte den Saal mit der Herzoginnen-Arie aus Hervé witzdrastischen „Chevaliers de la Table ronde“, einem ebensolchen Tournee-Erfolg der Palazzetto-Equipe. Und am Ende hatten, bevor man sich zum Gruppenbild fügte, alle mit dem Offenbach-Finale aus „La Vie Parisienne“ eine gute, schunkelnde Zeit.
Das einzige was also weiterhin ein Wunschtraum für das 25. Jubiläum bleiben muss: die Dratwicki-Zwillinge im Duett „Blanche-Marie et Marie-Blanche“ aus Messagers „Les P’tits Michu“, ebenfalls tourbewährt. Kostüme gäbe es also schon…Doch jetzt war erst mal Zeit für Champagner!
Der Beitrag Pariser Gala mit Witz und raren Musikalien: Die venezianische Stiftung Palazzetto Bru Zane fördert seit 10 Jahren die französische Musik des 19. Jahrhunderts erschien zuerst auf Brugs Klassiker.