Man ist ergriffen. Und plattgemacht. Gleichzeitig. Von der Gewalt und Größe dieses Stückes. Das Triviales und Geniales vereint, billigen Pomp und exquisite Intimität, das am heftige Hebel der Effekte dreht, sich aber auch total auf die einzelne Emotion zurückzunehmen vermag. Große Oper – Grand Opéra. Bejubelte Volkskunst des 19. Jahrhunderts in der Opernhauptstadt Paris. Und dabei, der pioniermutige Jacques Fromental Halévy und sein Librettist Eugène Scribe konnte das 1835 nicht ahnen, nur vermuten: „La Juive“ ist ein bis heute leider sehr aktuelles, visionäres Stück totalen Musiktheaters – reißerisch und melancholisch, anrührend und abstoßend, mit klischeehaften und gemischten Charakteren. Eine Provokation, eine wütende Anklage, immer noch. Dabei sauschwer zu realisieren. Und genau dieses Wahnsinnswerk sucht sich Laura Berman als Antrittspremiere ihrer Hannoveraner Opernintendanz aus! Die so sympathisch kommunikationsoffene Amerikanerin, die aus der Bregenzer Festspiel-Avantgardeecke über die Basler Operndirektion den genau richtigen Weg nach Niedersachsen gegangen ist, hat alles auf eine spektakuläre Karte gesetzt. Sogar noch viel mehr, denn das sowieso aufwendige Stück erwies sich in der sinnfälligen Interpretation von Lydia Steier als Kostümorgie, die rückwärts durch die Zeiten switcht. Als Chronik der Intoleranz und Ausgrenzung. Für die Masse an Stoffen und Perücken musste ein zusätzlicher Sponsor gefunden werden. Auch das gelang. Dann hat die Wirklichkeit diese Premiere schon nach ein paar Vorstellungen wieder eingeholt. Aber die künstlerische Aussage hält dem grausam antisemitischen Alltag auch wieder in Deutschland souverän stand. Nicht zuletzt, weil sie getragen wird von einer wirklich hinreißenden Ensembleleistung im Graben wie auf der Bühne. Was für ein Zeichen der offenbar wieder sehr vitalen Staatsoper Hannover!
Der Jude ist böse. Auch die Christen sind grauenvoll. Religion ist zunächst eine Sache der Väter. Dem ungleichen Liebespaar ist sie eigentlich egal. Was sich als tödlicher Fehler erweist. Halévys „La Juive“ war schon bei der Urauführung ein politischer wie musikalischer Hit der Stunde. Selbst Wagner mochte sie – und klaute daraus, Meyerbeer und Verdi natürlich auch. Das junge Genre Grand opéra fand hier einen packenden Stoff. Historie, Konstanzer Konzil, Kaiser Sigismund, Schisma, Hussitenkriege. Pomp, Singzirkus und Tanz. Der Blockbuster des 19. Jahrhunderts. Aber eben nicht nur.
Erstmals standen hier Juden nicht als biblische Chimären auf der Bühne. Sondern als handelnde Personen mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Éléazar, der Goldschmid, der des späteren Kardinals Brognis Tochter einst aus einem Feuer rettete (was dieser nicht weiß), ist der eigentlichen Christin Rachel ein liebender Vater. Aber die Religion geht ihm über menschliche Nähe. Er ist aus Verletztheit genauso verblendet und fanatisch wie die Christenmeute und auch geldgierig – um es ihnen heimzuzahlen. Halévy und Scribe, gelang so einer der bahnbrechenden Opernstoffe: dramatisch, sentimental, aktuell, kämpferisch, ehrlich. Keiner kommt hier gut weg, alle sind sie, wie stark auch immer im unversöhnlichen Glauben, doch nur schwache Menschen.
Das zeigt in Hannover jetzt auch Lydia Steier vor der Einheits(klage)mauer aus betongrauen Rechtecken von Momme Hinrichs (zudem für die wenigen, gut platzierten Videos zuständig), aus dem Tribünen klappen, das Haus Éléazars fährt, Türen und Fensterchen sich öffnen. Die Rückseite zeigt Gestänge. Und schon zu Anfang, wenn sich beim Himmel-und-Hölle-Spiels zwei Jungs kabbeln, der mit der Kippa verprügelt wird, ist klar: es geht um Antisemitismus. Und schon beginnt die Zeitenwanderung, aktweise. Die Exposition spielt in den Amerikanischen Fifties, Prinz Léopold (Tenorstrahle- und stahlmann in höchst undankbarer Rolle: Matthew Newlin) gibt beim Triumphzug als Sieger den hüftschlenkernden Elvsi mit Gitarre in der offenen Luxusblechkarosse. Das Volk jubelt unbedarft, feiert den All-American-Hero? All? Recht prügeln sie jetzt Éléazar, der es gewagt hat, am Freudentag zu arbeiten.
Der zweite Akt führt, fast monochromfarben, ins Deutschland de beginnenden Dreißiger. Die Juden feiern ihre Feste nur noch heimlich, draußen schmiert SA „Judensau“ an die Wand. Trotzdem nähert sich hier der Prinz seiner geliebten Rachel zum Pessachfest als orthodoxer Jude. Sein Fellstreimel ist so komisch groß, dass er später seiner juwelenverliebten Frau Eudoxie (mit ähnlich schmuckschillernder Koloratur: Mercedes Arcuri) als Hocker dient, auf dem sie ihr zartrosa High Society-Outfit ausbreitet. So schmuggelt Lydia Steier immer wieder Komik und Groteske ins toternst erschreckende Geschehen, verstärkt so noch die Kontrastdramaturgie der Grand Opéra.
Das gipfelt in einer Fellini-würdigen Barock-Party (Alfred Mayerhofer greift in die Kleidervollen) im dritten Akt. Wo vor einem grandios überladenen Fantasy-Büffet die Reifröcke rascheln, Dekolletees sich plustern, Brokatgarnituren aufmarschieren und eiskremfarbene Perückentürme herumspazieren. Über ihnen hängen, makaber, makaber, in als Lüster staffierten Käfigen ausgezehrte Leichen. Das freilich ist nur der grelle Hintergrund, vor dem die der Wahrheit über Léopold dämmernde Rachel vor ihrem Vater, jetzt Jud Süß, die für beide fatale Leidenschaft der andersgläubigen Liebenden enthüllt und die Verdammung der Masse über sie hineinbricht. Rachel wird vergewaltigt und Barno Ismatullaeva steigert sich einmal mehr dramatisch packend in flammende Tonkaskaden ihres schönen, großen, in allen Lagen durchgebildeten Soprans.
Im vierten Akt, immer wieder taucht als mahnend überzeitlicher Zeuge der jüdische Junge auf, geht die Zeitreise in das Renaissance-Spanien der Inquisition, Kardinal Brogni (bassatt: Shavleg Armasi), beäugt von ebenfalls rotgewandeten Klerikern, versucht die in zwei getrennten Käfigen gehalten Rachel und Éléazar auszuhorchen; sie entlastet auf Bitten von Eudoxie Léopold, der so mit dem Leben davonkommt. Jetzt hat der gebrochene Vater seine große Szene: Zoran Todorovich, 1999 in der für Rezeption des Werkes so bedeutenden Wiener Produktion noch Léopold, singt mit würdig gereifter, metallisch durchschlagender Stimme das berühmte, von zwei Englischhörnern eingeleitete „Rachel, quand du Seigneur“ als eindrücklicher Vokalschauspieler mit emotionaler Tiefenbohrung. Und feiert auch noch in Hannover, wo er nahebei wohnt, sein Debüt vor 25 Jahren.
Das Finale des kurzen fünften Aktes ist schließlich im spätmittelalterlichen Konzil-Konstanz 1414 angekommen, dem eigentlichen Ausgansort der Handlung. Wieder fast farblos, geht es nach einem furchbaren Festzug, der alle Judenstereotypen bedient, zum grausamen Ende, das Rachel drastisch im Siedekessel findet, der eher aussieht wie ein Quizshow-Wasserbecken. Für Éléazar hebt unterdessen ein Micky-Mouse-Henker das Beil. Tusch und Schluss. Noch einmal reizt der sich in die Klangwelt zwischen Klassizismus, Meyerbeer, Romantik und frühem Wagner pudelwohl fühlende Constantin Trinks die Orchesterextreme zwischen sanft und schneidend voll aus. Klug wurde gekürzt (gleich schon die komplette, entbehrliche Ouvertüre). Eine sportive wie sensible Leistung, der Chöre und Klangkörper vielgefordert, aber willig folgen.
Dieser Dinosaurier ist also auch in Hannover so massig wie beweglich, zeigte als kräftiges monstre sacré seine Krallen. Dreieinhalb sehr politische Opernstunden an durchaus gustiöser Spektakelsauce werden zum Musiktheaterkrimi. Das Publikum begeistert sich an der ungekannt cleveren Kolportage mit ihrem strengen Humanismus. Und so setzt sich der schüchterne, aber nachhaltige Siegeszug der „Juive“ eindrücklich fort. Nur im Dreiopernhäuser-Berlin, da wartet man immer noch auf ein Wiedersehen.
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