Diese Musik packt – und sie begeistert. Eigentlich. Es gibt nicht viele in den letzten fünfzig Jahren geschriebene Opernpartituren, von denen man das sagen kann. Hans Werner Henzes Antike-Opus „Die Bassariden“, 1966 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, neuerlich und erstmals im originalen Libretto-Englisch von W. H. Auden und Chester Kallmann an der Komischen Oper Berlin zu erleben, gehört eindeutig dazu. Freilich pulst hier bei aller barbarischen, abgefedert dodekaphonischen Härte auch das südliche Licht, unter dessen sinnlicher Sonne sich Henze wärmte. Und bei jedem Hören scheinen diese „Bassarids“ mehr als sein Opern-Opus summum, wo er meisterlich den Geist der Sinfonie aus einer antiken Tragödie gebar und in eine gekonnt ausbalancierte, einaktige Großform in vier eigenständigen Sätzen goss. Die jetzt Vladimir Jurowski, virtuos wie kraftmeierisch in die Instrumentalvollen greifend, so wie die Musiker vor ihm im Graben, auf den hölzernen Bühnenstufen, neben dem Parkett und in den Rängen gestaffelt sind, mit einer Lust am Lauten und Temperamentberstenden dirigiert, als läge da vor ihm in diesen über zwei Stunden Hochdruckmusik gleich viermal hintereinander Strawinskys „Sacre du Printemps“ auf dem Pult. Aber mehr noch: Dieses scheinbar so weltfern überzeitliche Werk, das sich auf Euripides’ „Bakchen“-Tragödie beruft, wirkt vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Weltlage aufregend modern und eminent politisch. Ausgerechnet bei Herbert von Karajans Klassik-de-Luxe-Festival wurde damals ein Diskurs über Anpassung und Freiheit, rigide Traditionsstrenge und Aufbruch, Askese und losgelassene Sinnlichkeit, über das Regime des Einzelnen und das Diktat der Masse vorweggenommen, der uns nach wie vor beschäftigen sollte. Das aber jetzt in Barrie Koskys personenregieintensiver, aber sonst sich aufs Nacherzählen des Plots beschränkender, eigentlich semikonzertanten Inszenierung nicht wirklich an Schärfe und Stringenz gewinnt.
Klar, auch ein Gott wie Dionysos, der Pentheus, den atheistischen König von Theben, ausschalten und von dessen eigener Mutter Agaue zerreißen lässt, ist hier nur Stellvertreter. Das wurde oft verdeckt durch ein von den Urhebern beschworenes, an Nietzsches Neuentdeckung der losgelassenen Griechenlust gemahnendes, aber fernes Fin-de-Siècle. Denn auch für einen Regisseur ist die Mischung aus Raserei und Diskurs, Bildungsballast und heutiger Vergegenwärtigung nicht einfach zu visualisieren.
In Berlin aber bleibt der vielbeschäftigte Barrie Kosky (fünf Inszenierungen sind es diese Saison, neben dem Intendantensein und dem Verpflanzen eigener Produktionen) konzentriert auf das Wesentliche. Halb Oratorium, halb Nachempfindung des antiken Theaters lässt er seinen hervorragenden Chor, verstärkt durch das Vokalkonsort Berlin, bei eingeschaltetem Saallicht ziemlich oft auf den Stufen samt Mittelgang in Katrin Lea Tags sterilem Fichtenholzgehäuse sitzen, ein paar eurythmische Bewegungen machen. Die Gesichter sind weiß geschminkt, auch die Protagonisten tragen Alltagsklamotten. Nur die Anzüge der zehn Tänzer, die in Otto Pichlers bewährt aufreizender Choreografie an ein paar Stellen die Klang- und Gefühlsraserei auch auf dem halbüberbauten Orchestergraben verstärken, sind gemustert.
Eine Versuchs- und Diskursanordnung. Das Ungeheuerliche dieser Geschichte bleibt außen, teil sich nur durch die Intensität der Musik mit, und durch die im Finale ihr blutverschmiertes Elektra-Beil als schon Salzburg-2018-bewährt monströse Mutterscheuche schwingende Tanja Ariane Baumgartner. Die sieht vorher aus wie eine ergraute Marge Simson, singt aber vorzüglich und klar, bis sie aus einer Plastiktüte die krösigen Reste ihres Sohnes als Pentheus-Klein schüttelt.
Auch die anderen Sänger fügen sich zu einem abwechslungsreichen Typenkabinett. Günter Papendell ist einmal mehr darstellerisch eine Wucht. Mit seinem raumfüllenden, strikt auf den Notenpunkt gelenkten Bariton gibt der Moralapostel und Gesetzesmacher Pentheus, der von Anfang an und selbst als Frau verkleidet (Kosky erspart sich jedes Transengedöns) auf verlorenem Posten steht – besonders gegenüber dem verführerischen Sean Panikka (auch schon in Salzburg dabei) als seinem tenoralen Gegenspieler Dionysos mit dem Platzvorteil der Jugend. Liebe wie Hass scheint beide anzuziehen, im Kuss wie in der Abwehr. Klar, dass Kosky in diese Kerbe haut, sonst freilich gib er sich arg objektiv und neutral.
Als trashige Tattergreise agieren Ivan Turšić im Karomantel als blinder Seher Tereisias und als Guildo-Horn-Kopie Jens Larsen (Großvater Kadmos). Zusammen mit ihrer Schwester Autonoe (Vera-Lotte Böcker) und dem vokal gute Figur machenden Hauptmann/Adonis von Tom Erik Lie reißt die Baumgarten auch die eigentlich überflüssige, nach Weill mit Mandoline klingende Farce des Kalliope-Intermezzos an sich.
Das beinhaltet musikalisch wirkungsvolle Minuten, hält aber doch auf und schweift ab. Der Theaterpraktiker Henze hatte es aus gutem Grund einst aus der gültigen Spielfassung entfernt. Genauso wie den später hinzugefügten, erklärenden Prolog. So könnte das das pausenlosen zwei Stunden durchrauschen Stück wohl noch mehr aufrüttelnde Wirkung zeigen. Musikalisch aber war das eine dionysisches Henze-Raserei der Extraklasse.
Der Beitrag Pentheus-Klein in der Plastiktüte: Barrie Kosky zieht in Berlin Henzes „The Bassarids“ den dionysischen Stachel, Vladimir Jurowski wird laut erschien zuerst auf Brugs Klassiker.