Roland Petit hatte zeitlebens nur ein petites Talent für Choreografie. Das merkt man natürlich vor allem postum, 2011 ist der französische Choreograf, Tänzer und Ballettdirektor gestorben. Doch war er einst einzigartig in seiner Mischung aus akademischer Klassik, Jazz, Moderne, Casino de Paris-Kick, französischem Froufrou und immer modischer Sexiness, die sogar Hollywood auf diesen exorbitanten Kleinmeister aufmerksam werden ließ. Es wäre also schön gewesen, hätte das unter dem jüngst bis 2026 verlängerten Russen Igor Zelensky längst zum Monument des Gestrigen erstarrte Bayerische Staatsballett einen der gehaltvolleren Abendfüller Petits seinem dürftigen, geschrumpften und überalterten Repertoire einverleibt. Am liebsten natürlich das grandiose Proust-Opus „Les Intermittences du Coeur“. Aber während ein Neuzugang wie Christian Spucks Zürcher „Anna Karenina“ nach zwei Spielzeiten bereits wieder entsorgt wird, hat man stattdessen die operettige Flachware „Coppélia“ von 1975 importiert, die noch staubiger aussieht als sie alt ist. Dabei wurde seit ungefähr 20 Jahren Leo Delibes’ hübsch spritzige, auch kurkonzertknallige Partitur in München nicht mehr gespielt. Immerhin, Anton Grishanin hilft dem jetzt am Pult eines launig disponierten Staatsorchesters mit schepprigem Schmackes und einem feinen Gespür für Farben blendend ab. Und immerhin war am Nationaltheater 1981 mit der ins Paris der Toulouse-Lautrec- und Can-Can-Zeit verlegten Fassung von Youri Vamos und Edmund Gleede eine der besten, dramaturgisch überzeugendsten Fortschreibungen des biedermeierlich blassen Librettos von der mechanischen Puppe, die die Menschen täuscht und in die ihr Macher verliebt ist, zu sehen gewesen. Tempi passati.
Damals war das gesamte noch-nicht-Staatsballett mit wundervollen Rollen bedacht worden, allen voran der wunderbar alte Pantominen-Zaubermeister Michel de Lutry und das Pirouettenwunder Joyce Cuoco. Jetzt, bei Petit, gibt es sechs schematisch grimassierende Freundinnen, ein standardisiert stereotypes Hauptliebespaar und den Doktor Coppélius, hier zum immer noch eleganten Zauberkünstler/Rentner-Fred-Astaire gereift. In seiner knappen, auf zweimal 45 Minuten gekürzten Fassung hatte sich Petit den auf den drahtigen Leib choreografiert. In München tanzt ihn für zwei Vorstellungen sein Ex-Tänzer, -Assistent und Einstudierer Luigi Bonino mit stoisch weißgeschminkter Miene des Ex-Bonvivants. Und natürlich wirken auch hier die einzig berühmten zehn Minuten dieser vergessenswerten Fassung: jener melancholische Walzer mit der an seine Lackschuhe getackerten Puppe. Seinsverlorenheit eines Meisters und seines Medium, das einfach nicht lebendig werden will, das er vorher schon vergeblich zu füttern versucht hat.
Da wird die routiniert von der Stange ratternde Choreografie mal vielschichtig, lebendig und originell, da schimmert eine zweite Dimension hinter den sonst banal gezeichneten Figuren durch; aber das verschwindet gleich wieder. Alles Reale über Pygmalion und seine Galatea, über vereinsamte alte Männer mit RealDolls, kinderlose Frauen mit Puppenbabys, #MeToo und anderes Gesellschaftsdiskurswürdiges, dass sich in der immerhin von E.T.A. Hoffmann herrührenden „Coppélia“-Fabel finden lassen und mit der finessenreichen, melodieverliebten Delibes-Musik womöglich einen reizvollen Kontrast bilden würde, das muss man an diesem lauen, langweiligen Abend im Programmheft suchen.
Was für eine Verschwendung! Da wird also vor den grau öden, billig aussehenden Hauswand- und Stubenkulissen Ezio Frigerios von der Truppe mit Esprit und schön synchron getanzt, da fliegen die Volants bei den rotwangig kussmündigen Damen, gibt es auf Franca Squarciapinos rosabunten Kostümen sogar ein paar Folklorestickereien, die auf die einstige Stückortung in Galizien verweisen. Ansonsten sind die Operettensoldaten fesch und die Federn am Tschako wackeln keck. Aber das alles ist so wahnsinnig mechanisch, ohne jede Puppenweltkritik, und dabei eskapistisch belanglos! Denn im klassischen Milieu war Petit eben kein Großer.
Immerhin, der kurze und trotzdem öde Abend bietet zwei neuen Münchner Solisten die Gelegenheit, technische Kunststücke vorzuführen. Virna Toppi ist eine bockige und trotzdem elegante Swanilda, die sich stoisch durch Fouettés kreiselt, schön hohe Beine und lange Linien macht und auch als maßvoll groteske Puppe zumindest den Coppélius verwirrt. Und Denis Vieira, zuletzt zwei Jahre Gastsolist beim Staatsballett Berlin, gibt als Franz den Springflummi mit schönen Manegen, durchgerissenen Grand Jettés und generösen Pirouetten. Aber auch für beide gilt: hinter dem Dauerlächeln, da ist gar nichts. Wie denn auch? Bei der dürftigen Vorlage. In München macht das Ballett, von einem überalterten Publikum als Eskapismus begeistert beklatscht, weiterhin im 21. Jahrhundert die Repertoirerolle rückwärts. Einen maßvoll modernen Abend mit Stücken von Alexei Ratmanski, der angesagten Sharin Eyal und sogar einer Kreation von David Dawson verspricht die eben angebrochene Saison noch.
Am 23. Oktober Liveübertragung um 15 Uhr von „Coppélia“-Proben im Rahmen des World Ballet Day auf der Facebook-Seite des Bayerischen Staatsballetts
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