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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Boston Leipzig Week I: Zwei Klangkörper, ein Dirigent mit Mischmasch-Band – das Gewandhausorchester ist zu einer außergewöhnlichen Joint-Venture in die USA aufgebrochen

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Eigentlich sollte das die dringend fällige Amerika-Tournee für das Gewandhausorchester Leipzig werden. Denn seit Februar 2018 ist Andris Nelsons nicht nur faktisch, sondern auch praktisch der 21. Gewandhauskapellmeister. Das muss natürlich auch in der Welt hergezeigt werden. Europa, Asien – abgehakt, aber die New Yorker Carnegie Hall war nicht frei. Und die muss als Herzstück jedes Renommier-US-Trips schon sein. Also machte Gewandhausdirektor Andreas Schulz aus der Tourneenot eine Joint-Venture-Tugend. Schließlich hat man ja, man teilt sich den Chefdirigenten, seit ebendessen Vertragslaufzeit eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit mit dem Boston Symphony Orchestra eingetütet. Alumni werden ausgetauscht, die aus Leipzig haben sogar immer Tanglewood-Glück, denn auf dem Sommerfestival-Gelände des BSO in den Berkshires wird seit jeher Nachwuchsförderung großgeschrieben. Zwei Musiker der jeweiligen Orchester spielen pro Jahr drei Monate beim anderen Klangkörper mit, eben läuft der dritte Austausch mit einer Ersten Violine und einer Zweiten Flöte. Man vergibt transatlantische Kompositionsaufträge, sieben bisher, drei davon wurden bereits uraufgeführt, und teilt sich die Kosten. Man veranstaltet Symposien über die jeweils andere und auch gemeinsame Orchestergeschichte – die altehrwürdige, für ihre warme Akustik berühmte Boston Symphony Hall wurde zumindest von außen und räumlich dem Zweiten, im letzten Weltkrieg untergegangenen Leipziger Gewandhaus nachempfunden. Und nicht nur der erste Bostoner Chefdirigent Georg Henschel hatte Leipziger Wurzeln. Zudem gibt es regelmäßig eine Leipzig Week in Boston und eine Boston-Woche Leipzig. Und während die Amerikaner schon zweimal komplett in Sachsen gastierten, sind jetzt die Sachsen dran: Nach ein paar europäischen Tourstationen (Wien, Lugano, Stuttgart) geht es via Zürich und Frankfurt direkt nach Massachusetts.

Nicht ganz: die Maschine aus Frankfurt legt erst noch eine unfreiwillige Zwischenlandung in Kefalivk, dem internationalen Flughafen von Island ein. Denn eine im siebten Monat Schwangere hat plötzlich Wehen, und da das Kind in Steißlage festsitzt, kann auch der zum ungewöhnlichen Gynäkologen-Ersatzeinsatz kommende Leipziger Orchesterarzt nicht helfen. Nach einer Rolle rückwärts (Richtung Shannon oder Dublin) wird es dann doch die kürzere 90-Grand-Abiege zu den heißen Quellen und Vulkanen. Das Wetter auf dem kahlen Felsenstück, das die meisten nun als ersten und einzigen Island-Eindruck aus den Flugzeugfenstern zu sehen bekommen, ist einigermaßen heiter. Die Dame ist bald von Bord, sie bekommt nun einem kleinen Isländer statt einen Amerikaner, und nach zwei Stunden Aufenthalt geht es dann doch unverzüglich nach Boston.

Dort ist es jetzt schon Abend, und bis 103 Orchestermitglieder sowie 23 weitere Mitreisende ausgeladen, in Buse verpackt und im Hotel abgeladen sind, langt es gerade noch für eine schnelle Suppe in praktischerweise direkt gegenüber vom Hotel liegenden Prudential Center. Dann locken auch schon die um sechs Stunden nach hinten verlegten Bettfedern.

Der freie Orchestertag ist wie gemalt. Indian Summer vom Feinsten. Und Boston wartet mit kolonialen Resten, wunderbar stilvollen Wohnvierteln wie Beacon Hill oder Charlestown im vollen Halloween-Schmuck und einer herrlichen Spätnachmittagsherbstsonnen-Szenerie entlang der von vielen Spaziergängern (in New England gibt es die!) belebten Promenade am Charles River.

Dort kreuzen die Segelboote, die Menschen sitzen an Piers und schauen auf die Denk- und Krankenhaustürme von Harvard, und dann ist vielleicht noch ein wenig Kampfshopping in der hippen Newbury Street mit ihren 19.-Jahrhundert-Sandsteinhäusern angesagt.

Fotos: Stev Wackerhagen (2)

Gut, dass gleich auch die obligatorische Fußballbegegnung der beiden Orchestermannschaften, nennen wir sie Leipziger Klangbremse gegen Boston Sound Socks, angesetzt ist: die natürlich 6:1 für die Pleiße-People ausgeht.

Und abends, einige nimmermüde Leipziger Musiker sind mit dabei, gibt es auch noch ein Konzert des Boston Symphony Orchestra, mit einem alles anderen als konventionellen Programm. Die Finnin Susanna Mälkki, in Nordamerika äußerst angesehen, hat Französisches um die US-Erstaufführung von Dieter Ammanns The Piano Concerto arrangiert. Und so säuselt sich samtseidig erst Faurés Pavane durch den immer wieder schönen Saal als Mischung aus Gipsothek und Goldstuckausstellung.

Warm und weich ist der Klang, die kistenartige Orchesternische, in der (eigentlich ohne jeden Backstage-Bereich) auch noch die Orgel klebt, reflektiert direkt, aber ausgewogen. Nach der Pause gibt es zwei kurze, strahlend gestoßene „Alleluja“-Fanfaren von Messiaen aus dessen „L’ascension“ sowie ein fein flutendes, harmonisch sich wellendes Debussy-„La Mer“ in all seiner dreiteilig gischtenden Klangwogenwucht.

Das halbstündige, von einem wachen, prima altersgemischten und vorbildlich diversen Publikum mit Standing Ovations auch für einen gerührten Komponisten bedachte Klavierkonzert mit „The“ und dem Klammertitel „Gran Toccata“ erweist sich als ein echter Tastentreiber. Nicht umsonst hieß schon Ammanns Debütstück „Notorisch motorisch“. Da wird angeschlagen, was es das Zeug hält, fast sinfonisch verschwindet in dem einsätzigen, über 30-minütigem Opus das Soloinstrument in einem sich aufbäumenden, rasselnden, klappernden, ständig im Fluss sich befindenden Orchestersatz. Das ist oft perkussiv maschinenhaft (die beiden Schlagzeuger spielen nur im weißen Hemd), aber von einer hellen, durchaus heiter angejazzten Grundbefindlichkeit.

Das erfordert viel Höraufmerksamkeit, es ist spürbar schwer zu spielen, lohnt aber total den Aufwand. Andreas Haefliger agiert mit lässiger Souveränität, fein abgestimmten Farben und als generös wacher Virtuose. Dank eines Kompositionsauftrags, an dem viele Institutionen beteiligt sind, wird das absolut hörenswerte Stück nach der Uraufführung bei den London Proms unter Sakari Oramu, Taipeh und Boston schon bald in Helsinki, bei den Münchner Philharmonikern, in Wien und Luzern zu hören sein.

Nächster Tag: das Sonnenglück ist Regenrauschen und vor allem Sturmsausen gewichen; das Wetter hat total umgeschlagen. Egal, heute wird gearbeitet. Das erste von zwei Tourneeprogrammen steht für den Nachmittag an. Zur Anspielprobe in der nur ein paar Minuten vom Hotel und hinter der Christian Science-Tempelkirche entfernten Symphony Hall zeigt sich dann auch wieder ein entspannt und gelassen wirkender Andris Nelsons, mit dem Künstlerischen Direktor der Bostoner, der die sächsischen Gäste begrüßt. Manager Mark Volpe ist hingegen schon auf einem Fundraiser Event.

Kurz und professionell, Nelsons kennt ja den Sound, die Leipziger waren zuletzt 2014 mit Riccardo Chailly hier, werden ein paar neuralgische Schubert-Stellen angespielt, dann dürfen sich neuerlich die beiden regelmäßigen Leipziger Gastkünstler Leonidas Kavakos und Gautier Capuçon verständigen, die nach zwei Brahms-Doppelkonzerten in Leipzig nun in den USA wieder aufeinandertreffen. Vor Konzertbeginn wird es hinter den Kulissen noch enger, immerhin können Geiger und Cellist sich noch schnell über Bande klar werden, dass beide ohne Schlips auftreten.

Und so wird es dann im Saal auch eine buddy-bro-kumpelige, dabei höchst feinsinnig musikantische, auf volles Risiko gehende Brahmssterndreiviertelstunde. Mit viel Saft und Schmackes, Glut und Grandezza. Der Grieche, der Franzose, der Lette, die Sachsen mit einem Norddeutschen in New England – ein famoser Klang-Clash der Kulturen. Zugegeben wird eine Bearbeitung von Ravels Geigensonaten-Finale. Und dann stapelt es sich vor der Garderobe, Haefliger, Mälkki, Kyril Zlotnikov, der Cellist des  Jerusalem Quartet, das Abends vorher in Boston eine Tour abgeschlossen hat, sie alle sind auf dem Weg zum Flughafen, wollten aber wenigstens die erste Hälfte hören.

Bis zum Schluss bleibt freilich der stets lächelnde Pate aller Cellisten, Yo-Yo Ma. Es gibt Umarmungen, Freudenschreie, Erinnerungsfotos. Und dann folgt Schuberts Große C-Dur-Sinfonie, uraufgeführt mit heftigen Kürzungen 1839 in Leipzig. Anders als Herbert Blomstedt, der sie auf seiner Jubiläumstour im Herbst 2018 dabei hatte, spielt sie Nelsons ohne die Wiederholungen, trotzdem breit dahinströmend, fett klangprächtig. Doch stets bleibt der volle Sound durchhörbar. In der Finalstretta setzt er dynamisch noch eins drauf, das spielfreudige Orchester gerät aber nie an Grenzen. Hallo Amerika, angekommen. Möge die Leipzig Week in Boston so weitergehen!

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