Können Musiker über dem Boden schweben? Eigentlich nicht, aber so etwas erleben auch hartgesottenen Profis selben. Zwei weltberühmte Orchester vereinen sich als transatlantische Instrumentalfreundschaft unter ihrem ebenso bekannten, gemeinsamen Chefdirigenten. Eine solche Verschmelzung ist nicht nur ungewöhnlich, sondern auch teuer, denn beide Klangkörper müssen vor Ort gehalten werden. In diesem Fall aber wird die Hälfte des Leipziger Gewandhausorchester nach vollzogenem Gesamtgastspiel heute wieder aus Boston abreisen, und die anderen 50 Prozent spielen ein sehr besonderes, ja historisches Konzert gemeinsam mit dem Boston Symphony Orchestra. „Wunderbar together“, so heißt nicht nur ein deutsch-amerikanisches Kulturjahr, von dem zumindest in Europa kaum einer was gehört hat und das jetzt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Magic Music Merger auf allerhöchstem Niveau beenden sowie gleich noch 30 Jahre Mauerfall begehen wird. Obwohl es für den DDR-Devisenbringer Gewandhausorchester auch vorher schon Westtourneen gab. „Wunderbar together“, das könnte auch über dieser Woche geschrieben stehen, die doch nicht wenige Musiker schwerlos werden und sie den Boden unter den Füßen verlieren lässt. Als bei der ersten gemeinsamen Probe in der Symphony Hall die ersten, spätromantisch schwülstig sich verschlingenden Harmonien von Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ durch den ehrwürdige Saal schwingen, zieht sich ein sonnig beseelten Lächeln über die ebenso verklärten Gesichter aller Beteiligten.
So hochmögend, fremde, bald schon vertraute Kollegen hat man eigentlich nie kollektiv nebeneinander sitzen. Auch Orchester agieren gern als Solitäre. Gerade der pure, sanft pulsierende Streicherklang strahlt vor der goldenen Umrahmung der Orchesternische wie ein Heiligenschein ab. Und mittendrin badet, nur ganz wenig nachjustieren müssend, die Musiker auf den Sitzkanten sind die Disziplin selbst – Andris Nelsons. Ebenfalls mit seinem schönsten, lettischen Honigkuchenpferdchenlächeln. Schließlich ist dieser jetzt endlich konkret wahr werdende Traum zum guten Teil seine Idee.
Denn so wird mit der dritten „Leipzig Week in Boston“ endlich in vollster, ja wirklich – das ist später im orgelumrauschend scheußlichen, aber viel Klangkrach hermachenden Festlichen Präludium von Richard Strauss zu hören – ebenmäßiger Tonschönheit des kompletten, jetzt geteilt neu zusammengesetzten Orchesters eine partiell gemeinsame Geschichte plastisch und konkret zelebriert, die wieder lebendig gemacht werden soll. Vier von sieben gemeinsam bestellten Uraufführungen wurden bereits realisiert, die diversen Austauschprogramme der beiden Elitetruppen blühen.
Schließlich stammen neben dem Gründungsdirigent Georg Henschel weitere fünf Bostoner Music Directors aus dem Gewandhausumfeld ab, zuletzt Charles Munch. Der wirkte von 1949-62 in Massachusetts und war vorher von 1926-33 Erster Gewandhauskonzertmeister. Parallel dazu will sich Leipzig touristisch weltweit neben Wien als Musikmetropole des 19. Jahrhunderts präsentieren, mit hochbedeutender Vergangenheit und heutig gelebter Tradition. Gewandhausdramaturg Tobias Niederschlag stößt deshalb aus New York dazu, wo ebendiese Kampagne präsentiert wurde. Dazu gab es eine vom Leipziger Ballett umtanzte Installation an der populären Oculus Underground Station von Santiago Calatrava im World Trade Center.
Und auch die anderen Sponsoren des aufwändigen Klangreiseprojekts sind aktiv: Der DHL, der auch alle Instrumententransporte organisiert, veranstaltet im dem Orchesterhotel gegenüberliegenden Prudential Center, einer edlen Mall, einen Orchester-Flashmop mit ein paar Leipziger Musikern und Studenten des New England Conservatory. Zwischen Pashminaschal- und Nüsschenständen erklingt zweimal eine geschickt reduzierte „Ode an die Freude“, sogar mit Gesang. Der DHL hat feine Werbebilder und die Einkaufenden haben ihren mit vielen Handys festgehaltenen Musikspaß. Besser gefallen hat uns aber der „Short Story Dispenser“ im Center, der– time is money – kostenlos mit auf einem Papierstreifen ausgespuckten eine, drei oder fünf Minuten langen Kurzgeschichten erfreut.
Derweilen wird ein paar hundert Meter weiter, dazwischen liegt die neoromanische Kathedrale des Zentrums der Christian Science Church, in der Music Hall (die wiederum ihr neoklassische Backsteinpendant in der Bostoner Gartenbau-Gesellschaft auf der anderen Straßenseite hat) fleißig und hochaufmerksam weitergeprobt. Längst sind auch im Vorfeld so bewegenden Details geklärt: auf welcher Tonhöhe spielen wir (441 Hertz Boston, 443 Leipzig)? Auf Bostoner, wegen der Orgel. Mit Podesten für die hinteren Instrumentegruppen (die Leipziger haben ihre für die eignen Auftritte mitgebracht) oder auf dem flachen historischen Podium? Flach, aber umso klangvoluminöser.
Nach Tagesprobenvollzug geht es zum historischen Gruppenfoto vor die Hallenfront. Rechts davon muss sich dann noch mals das GHO sepparat aufbauen – so wie damals mit Kurt Masur.
Dann lädt das BSO alle zum deutschen Dinner. Die Gastgeber offerieren Rosenkohl (heißt hier Brussel Sproud) und „Geschmortes Knochenloses Rindfleisch Kurze Rippen mit reichen Braising Säften“, also Goulasch, so die unkompliziertere Übersetzung.
Die Sachsen revanchieren sich mit „Simpley Saxony“-Karten (auch „So geht Sächsisch“ droht eine andere Kampagne), vor allem aber mit extra bedruckten Hodies, die von der Orchesterehe auf Zeit künden: „sounds like a unique story #BSOGHO“ prangt darauf. Und Andris Nelsons muss gleich den ersten (und einzigen in XXXL) probetragen. Mission acomplished!
Umso beschwingter spielt sich dann andernabends das zweite, herrlich eingeroovte GHO-Tourneeprogramm, natürlich wieder mit spezifisch Leipziger Werkschmankerln: der vom Opernchef Gustav Mahler dort komponierte und wieder eliminierte Blumine-Andante Satz aus der 1. Sinfonie mit dem honigsüßen Trompetensolo, das der gelernte Bläser Andris Nelsons gern während der Pause in seiner dann abgeschlossenen Garderobe intoniert; nur seine seit April dritte Frau darf zuhören. Gautier Capuçon, vom Orchesterphysiotherapeuten wunderbar rekreiert, spielt mit angriffslustigem Vibrato und großer Sangesfreude das Schumann-Konzert und mit der ganzen Cellogruppe eine schön singende Dvorak-Zugabe. Unter den Pausengratulanten beim hektischen Solisten, der gleich sein Zürcher Flugzeug erreichen muss, ist auch Hilary Hahn, die seit zwei Monaten sabaticalt.
Nach der Pause folgt, brütend und extrovertiert, zärtlich und expressiv, die „Holländer“-Ouvertüre des gebürtigen Leipzigers Richard Wagner, die Andris Nelsons als packendes Mini-Drama inszeniert. Und ähnlich klug gestaltet hört man dann ein anderes Signaturstück, die vom fünften Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn 1942 uraufgeführte Schottische Sinfonie. Beim rhythmusbewegten Finale maestoso klopft die Dame des bisher festumschlungen dasitzenden Nachbarpaars ihrem Mann mit Begeisterungswucht auf die Knie, und der wischt sich am Ende die Tränen aus dem Augen: „We are so happy to share Andris together“, sagt er doch tatsächlich glückhormonüberströmt zum deutschen Besucher.
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