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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Boston Leipzig Week III: Es ist vollbracht und vollzogen – so klingt sächsisch in New England Style

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Es ist vollbracht. Mit dem Boston Symphony Orchestra und dem Leipziger Gewandhausorchester, dem (neben Cleveland) am europäischsten tönenden US-Orchester und der ältesten bürgerlichen Orchestervereinigung der Welt, haben sich zwei der prestigereichsten Klangkörper der Globalklassik zum ersten Mal vereint, sind friedlich und freiwillig auf das Harmonischste tönend verschmolzen unter einem gemeinsamen Chefdirigenten: Andris Nelsons, den man sich brüderlich teilt. Was ihm und – das war so nicht unbedingt zu erwarten, auch bei beiden, sonst gern alphatiermäßig und solipsistisch den eigenen Institutionsweg gehend, zum Vorteil gereicht. Man sucht und findet Synergien, sogar eine gemeinsame, in den Sechzigerjahren auch politisch abgerissene Geschichte. „So geht sächsisch“, das wurde an diesem zwischen herrlichen Indian Summer Tagen leider regenumstäubten Abend, ganz zwanglos Klangwirklichkeit. Lange vorbereitet, nicht billig, von viel Protokoll begleitet, aber letztlich ein glorios tönendes Konzert, das lange nachhallen wird. Nicht nur in den Ohren derjenigen, die Hörzeugen wurden, auch in den Herzen der Musiker. Die schlagen hier seit drei Jahren eine transatlantische Klangbrücke. Während der auf seinem zweiten Amerika-Besuch weilende deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über solch freundliche politischen Verbindungen bei Besuch des denkwürdigen Konzertes nur noch in der Vergangenheitsform sprechen mag und wieder einmal die einende Macht der Musik als Utopie einer auch bilateral besseren Welt beschwören muss.

Handeln wir erst einmal das Offizielle an. So vieles, Datum- und Sonstwiesymbolisches gab und gibt es rund um dieses sehr besonderes Orchester-Tête-à-Tête zu bedenken. Da ist das immer stärker drohende Beethoven-Jahr des 250. Geburtstags, das der DHL sich auf die Sponsorenflagge gemalt hat. Und da man zugleich Transportpartner des Gewandhausorchesters ist, hat man nicht nur eine Wanderausstellung ins schräg an der Huntington Avenue der Symphony Hall gegenüberliegende New England Conservatory verfrachtet, sondern auch noch gleich ein Beethoven-Panel angesetzt, bei dem BSO-Manager Mark Volpe und Gewandhausdirektor Andreas Schulz einander Lorbeerkränze winden; zudem Malte Boecker, der Bonner Beethovenhaus-Chef und zugleich Kopf der unter Schmerzen geborenen BTHVN2020-Jubiläumsgesellschaft sowie eine  Abgesandte vom kooperierenden Streamingdienst Idagio diskutieren.

„So geht Sächsisch“ vermeldet auch in Massachusetts die heimatliche Touristik-Imagekampagne. Was gar nicht nötig gewesen wäre. Denn Sachen (und Sachsen-Anhalt) sind auch in Boston gerade an den Kulturleuchttürmen erstaunlich präsent. Von die 16 Gipsstatuen, die innen die Symphony Hall auch aus akustischen Gründen säumen, sind zwei Originalen aus den Dresdner Sammlungen nachempfunden, als berühmtester von sechs Chefdirigenten vor Nelsons wirkte auch Arthur Nikisch als Gewandhauskapellmeister in Boston. Im Museum of Fine Arts stapelt sich das Porzellan made in Meissen, im Isabella Stewart Gardener Museum gibt es diverse mittelalterliche Schnitzaltäre. Und in deren venezianischem Innenhof nimmt – als Kunstinstallation einer Japanerin – alle paar Minuten eine Sängerin einen Besucher an die Hand und intoniert für ihn, und alle anderen Anwesenden, ein Schumann-Lied. In den Kunstmuseum von Harvard schließlich finden sich viele berühmte sächsische Emigranten, Feininger, die Dresdner Brücke-Maler, Gropius samt Bauhaus-Crew, der am nahen Institute of Design unterrichtete.

Frank-Walter Steinmeier feiert zudem in Boston den Abschluss des Deutsch-Amerikanischem Kulturjahres, das wohl dringend nötig war, auch wenn da zu Hause kaum registriert wurde. Drei Goetheinstitute wurden renoviert, er eröffnete das in Boston neu. Rund 20 Millionen Euro haben Auswärtiges Amt und Goethes in diesem Jahr für „Wunderbar together“ ausgegeben, das Geld floss in 2000 Veranstaltungen in den ganzen USA, rund 1,3 Millionen Menschen wurden erreicht. Und die 30. Wiederkehr des Berliner Mauerfalls war auch noch zu begehen, auch dank amerikanischen Zuspruchs. Bei dieser Erwähnung erbebte die Symphony Hall infolge beifälligen Zuspruchs. Und hinterher gab es Okoberfestbier & Pretzels für alle.

Steinmeier freilich blieb in der vergleichsweise bescheidenen – da hinten ist es historisch und platzbeschränkt –  Herrenumkleide des Orchesters, in der sich jetzt auch die Damen versammeln, um noch etwas anderes zu feiern: Halloween. Das Lob über die glücklich vollbrachte Hochkultur mischt sich mit Teufelsclownfratzen, blinkenden Pumkins, Scheren im Kopf, Walkürenhelmen und Hexenhüten. Der Schweiß perlt auf den Security-Stirnen. Aber alles bleibt friedlich. Auch Andris Nelsons, Bier und Brezen zusprechend, mischt sich, sichtlich befriedigt, unter die Party-People.

Recht hat er, denn es war ein wirklich schönes Konzert. Dem, der Austausch der beiden Orchester vollzieht sich ja vor allem im Kleinen, schon die Schwärmerei der Musiker vorausgegangen ist, die schon bei den anderen Orchestern gespielt haben. Konzertmeisterin Elita Kang erzählt begeistert vom Leipziger Weihnachtsoratorium neben dem Bach-Grab und den Opernerfahrungen. Ihr Bratschenkollege Danny Kim schwärmt vom Bier und der Gewandhauskantine, die ihm die Zunge gelöst habe.  Manfred Ludwig, zweite Flöte, kriegt sich gar nicht mehr ein über die aktuell beste Zeit seines Musikerlebens in Boston, die fokussierten Proben, die Wohnung nur drei Minuten von Symphony Hall. Und Veronika Starke, erste Geige, freut sich schon auf die Boston Pops-Erfahrung zur Weihnachtszeit. Alle würden es sofort wiederholen und verlängern, erzählen von den sie beneidenden Kollegen anderer amerikanischer Orchester und den langen Wartelisten auf beiden Ozeanseiten.

Tags zuvor war Andris Nelsons in seinem plüschigen Dirigentenzimmer zwischen Kopfkissen und Paddington Bear-Polstern bereits ganz eitle Freude. Man spürte, wie sehr ihm an dieser Allianz gelegt ist, wie sehr davon profitieren und seine Musiker teilhaben möchte: „Das ist so viel mehr als nur musizieren, an Interpretationen feilen, oft gehörte Werke neu aufsetzen. Die Menschen, die hier ungewöhnliche, gemeinsame Erfahrungen machen, ich eingeschlossen, wir musizieren hinterher anders, frischer. Wir erfinden uns nicht neu, aber wir hinterfragen unsere Routine, schauen aus einem anderen Blickwinkel auf Stücke wie Arbeitsweisen.“

Und wirklich, die beiden Orchester haben, anders als erwartbar, aus dem geteilten Dirigenten einen Vorteil gemacht; auch weil dieser die Entwicklung vorangetrieben hat, „ich habe dies sehr schnell als Chance begriffen. Da sind zwei Arme, einer in Sachsen, einer in Massachusetts, die dirigieren einerseits ein Festival mit Tanglewood, anderseits auch, hoffentlich bald, szenische Oper. Und der Kopf, der begibt sich zm Entspannen nach Riga.“

„Wunderbar together“, so laufen bereits ganz harmonisch die Proben für das historischen Konzert ab. Man hat an nichts gespart, um ein Programm zu finden, dass keine ausgepichte Brahms- oder Beethoven-Exegese nötig macht, das gleichermaßen Klangpracht und Konzentration vermittelt. Und den Hauch des Extravaganten nicht vergessen lässt. Dabei passen sich die Leipziger problemlos den Bostoner Gegebenheiten an. Man spielt aus deren Notenkladden in amerikanischer Aufstellung und ohne Podeste. Müssen doch dem vorverlegten Podium sowieso drei Zuschauerreihen geopfert werden, damit am Ende – inklusive der Fernbläser in den Türen – 130 Musiker Platz finden. Eine Gewandhausorchesterhälfte ist trotzdem schon wieder zu Hause. Doch auch für sie war diese fünf Konzerte in sechs Tagen Aufenthalt, wenngleich nur zur Hälfte genossen, unvergesslich.

Die andere aber hat, zusammen mit den Bostoner Mitmusikern, als Merger de luxe ihren Spaß. Für die 15 lauten Eröffnungsminuten des alle und alles wachrüttelnden Festlichen Präludiums von Richard Strauss wurde eigens Notre-Dame-Organist Olivier Latry eingeflogen. Denn der hat gerade nicht nur etwas mehr Zeit als sonst, sondern auch enge Beziehungen zu Leipzig wie Boston. Außerdem ist der Leipziger Kollegen in ein Festival zum Reformationstag eingespannt. Vorsorglich wurden backstage Ohrpfropfen bereitgehalten. Doch man macht sehr manierlich Lärm, das bleibt man sich kultiviert schuldig.

Ein Fest ist auch die halbe Stunde selten gehörter Haydn, der in dessen B-Dur-Sinfonia concertante für Geige, Cello, Oboe und Fagott nicht nur ein wiederum um die Hälfte reduziertes Orchester erfordert, sondern auch gleich vier Prinzipale der beide Kapellen aufbietet: Aus Leipzig die Streicher Frank-Michael Erben und Christian Giger, aus Boston John Ferrillo und Richard Svoboda. Auch wenn Nelsons das ein wenig altväterlich vollsatt musizieren lässt. Man erlebt hochmögend eloquente Konversation der silbrig versatilen, virtuos sinnfälligen Art.

Ein ähnlich feingeistiges, wach zuhörendes Miteinander ist beim auf siebzig Streicher aufgestockten ursprünglichen Sextett „Verklärte Nacht“ zu konstatieren. Der schreibende Kollege vom „Boston Globe“ merkt zudem an, wie sehr hier die sonst oberkörpersteifen Bostoner Streicher mit ihren Leipziger Kollegen mitschwingen. Auch wenn es schwer fällt, und die Klangsemantik gerade der Streicher bei beiden Orchestern höchst unterschiedlich ist, man musiziert so unisono wie möglich; die Orchesterfassung dieser urwienerischen Fin-de-Siècle-gefühlvollen, jugendstilrankig sich verschlingenden Schönberg-Pièce hatte einst übrigens Arthur Nikisch in Auftrag gegeben. Und in Boston klingt das vollsatt, aber mattgolden von Schuld, Reue, Leidenschaft.

Schließlich, jetzt wird es wieder laut: ähnlich Jahrhundertwende-Hypertrophes als sportiven Klangkulturbeweis des Orchester-Get-Togehters – Alexander Skrjabins Le Poème de l’Extase. Das steigert sich in der Tat langsam. Aber unvermeidlich zum Fortrfortissmino. Die vielgerühmte Akustik der Symphony Hall besteht den Extremtest, nie wird es gellend oder knallig. Zwei Orchester, eine Lust an der Entladung. Uff, geschafft! Die Glückgefühle schaffen sich Bahn.

In Boston plant man schon längst weiter. Die entsprechenden Komitees und Verantwortlichen haben getagt und sich besprochen. Klar ist im Grunde auch schon die Vertragsverlängerung Andris Nelsons’ bei beiden Orchestern, auch seine Agenten sind angereist. Da schauen die Opernhäuser, die sich Hoffnung auf ihn machten, vermutlich durch die Perspektivröhre.

Und konkrete Projekte gibt es auch schon. Im Mai 2022 werden beide Orchester mit Andris Nelsons parallel Europa bereisen. Leipzig, Wien, Paris, London und die Hamburger Elbphilharmonie stehen auf der Agenda, sämtliche Strauss-Orchesterwerke stehen auf dem Programm. Getreulich aufgeteilt wird man sie bis dahin auch, nach Bruckner aus Leipzig, Schostakowitsch aus Boston und Beethoven aus Wien, mit Nelsons eingespielt haben. Und das Festliche Präludium wurde als gemeinsames Zuckerl jetzt schon in Boston festgehalten. Nun muss nur noch Zeit und Geld gefunden werden, dass das BSO für eine Residency und das nächste, höchst zeichenhafte Zusammenspiel auch mal an die Pleiße kommt. Ja, so geht sächsisch!  

In Boston aber wird am nächsten Tag zum neuerlichen, aber verkürzten Orchesterzusammenspiel die große Sponsorengala gefeiert. Mit deutschem Schokoladenkuchen. Als Dessert. Und die Tischdekoration? 100 Jahre Bauhaus natürlich.

Der Beitrag Boston Leipzig Week III: Es ist vollbracht und vollzogen – so klingt sächsisch in New England Style erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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