Der Weltuntergang fand nicht statt. Obwohl er sich bereits vor der Dresdner Semperoper breitmachte. Im Hauptportal lagen blutige Leichen, ein Transparent verkündete das Ende der Welt. Ein „Fridays for Future“-Happening am Sonntag im Kulturtempel? Nein, soweit und so konsequent zeitgenössisch geht es dann doch nicht zu in Calixto Bieitos Inszenierung des „Großen Makabren“. Der, der Prophet der Apokalypse namens Nekrotzar, macht als Titelheld von György Ligeti erstmals in Sachsen seine Aufwartung – 41 Jahre nach der schwedischen Uraufführung der Anti-Anti-Oper. Vier Jahrzehnte, das ist eine lange Zeit für eine einstiges Protest-Musiktheater, das angesichts der damaligen Atomangst den Bürger mit einer schrillen Satire schrecken wollte. Doch heute muss der Chor im damit schon mal gefüllten zweiten Rang selbst die scheinbar empörten Buhrufer mimen, die sich über 12 Autohupen als Ouvertüre echauffieren. Die Avantgarde ist alt geworden – und kulinarisch. Dodekaphonie als Delikatesse. Unter dem souveränen Omer Meir Wellber klingt die Staatskapelle superedel und schön, selbst wenn sie sich schrill durch die Musikgeschichte zitiert, das Cello schräg zirpt oder Sirenen gellen.
Und das wüste, verdorbene, seinem Ende entgegeneilende Breugelland, wo man dem Sex und der Völlerei in allen Spielarten frönt, das ist in diesem „Le Grand Macabre“ kein barockes Wimmelbild und kein trashiger Gewaltcomic, sondern eine sehr aufgeräumt nüchternes Kunst-Arrangement. Zunächst einmal scheint es schon museal, zwei Arbeiter mit Handschuhen halten per Video Gustave Courbets schamloses Gemälde vom „Ursprung der Welt“ hoch – dem weiblichen Schoß. Rebecca Ringst hat dahinter eine Art stählernen Pfad entworfen, der sich in mehreren Windungen und auf vielen Stützen aus der rechten Portalecke herabschlängelt. Der kann sich auch mal drehen, darüber leuchten die Sternlein. Und ein weißer Fesselballon hängt herab. Auf den werden Spiegeleier und Hintern, die Welt und eine Discokugel projiziert. Alles ganz manierlich.
So wie auch die gar nicht frivolen Spiele, die man an der Rampe vollzieht. Markus Marquardts gemütvoller Nekrotzar scheint ein Couchgenießer im Schlaflook. Sein versoffener Kamerad Piet vom Fass wird von Gerhard Siegel als harmloser Süffelbruder mit Tröte gesungen. Amando und Amanda, das sind ganz allerliebst Katerina von Bennigsen und Annelie Sophie Müller als verliebtes Mädchenpaar im Zwillingslook. Was sie da mit ihren Kinderspieleimerchen anstellen, ist aber freilich kaum jugendfrei. Noch weniger die raffinieren Rollen-Ehespiele zwischen Iris Vermillion als sadistischer Mescalina und Frode Olsen als masochistischem Astradamors. Wunderbar würdevoll abgeklärt wählen die zwischen „Spieß oder Kuss“.
Bieito zieht hier dem Dresdner Wutbürger im braunen Mäntelchen kinky die Hosen unter. Und der countertenorvergluckste Machthaber Christopher Ainslie als Prinz Go-Go beschmiert sich am liebsten mit brauner Frühstücksschokocreme aus dem Magnumglas. Das wär’s dann aber schon mit heutigen Begleitumständen. Während die Chefin der Geheimpolizei, Hila Baggio stichelt virtuos Koloratur, eine Büroschickse mit Burnout scheint, die plötzlich blutige Hände hat.
Auch in der Ligeti-Oper findet der Weltuntergang nicht statt, man macht heiter weiter. Selten aber geschah das so nett und vergnügt, so seriös, dabei singdarstellerisch exzellent wie jetzt an der Semperoper. Aber viel zu abgeklärt märchenhaft für einen großen Makabren.
Der Beitrag Weltuntergang und Schokocreme: Calixto Bieito inszeniert Ligetis „Le Grand Macabre“ zahm an der Dresdner Semperoper erschien zuerst auf Brugs Klassiker.