Es ist knusperkalt in Chicago. Soll es auch sein, schließlich hat die Metropole einen Ruf nicht nur als schönste Großstadt Amerikas zu verteidigen. Sondern auch als windy city. Das tut sie nun genau an meinem Anreisetag zum Chicago Symphony Orchestra mit Eisregen und Schnee. 600 Flüge werden gestrichen, einer Maschine, die über die Landebahn hinausschlittert. Nach 7 Stunden unfreiwilligen Wartens geht es mit der letzten Maschine von Newark nach Illinois. Dort ist es früher Winter mit minus elf Grad, aber jetzt nur noch Eis und keinem Wind mehr. Wisconsin Käsebällchen und Asia-Huhn-Salat bis nachts um zwei Uhr offeriert zum Glück noch die Kultkneipe Miller’s gleich neben dem Palmer House, ebenfalls eine Hotellegende im Loop, der von der Hochbahn umfahrenen Innenstadt. Die riesige Beherbergungskiste ist 13 Tage nach der Eröffnung dem Great Chicago Fire von 1876 zum Opfer gefallen. Das heute dritte Gebäude aus der Art-Deco-Zeit, das nach einer Mäzenin benannt wurde, die viele der tollen Impressionisten im nahen Art Institute stiftete, bietet mit seiner einer freskierten Renaissance-Halle ähnelnden Lobby eine der meistfrequentierten Business Bars. Und die Symphony Hall ist gleich unter der so pittoresken Bahntrasse durch um die Ecke.
Schön, mal wieder da zu sein; 2004 war das letztes Mal. Seither ist Daniel Barenboim 2006 beim Chicago Symphony Orchestra abgegangen, nach einer Interimszeit unter Bernard Haitink und Pierre Boulez als dem Orchester schon lang verbundenen festen Größen, trat 2010 als zehnte Musikdirektor Riccardo Muti an. Der hatte hier schon ganz früher viel dirigiert, bevor er sich auf das Philadelphia Orchestra konzentrierte. Dann umwarb ihn parallel das New York Philharmonic, aber er entschied sich nach einem kurzen, heftigen Flirt als Neufrischverliebter für die Damen und Herren am Lake Michigan.
Was nicht verwundert. Noch immer – und gegenwärtig ganz besonders – ist das CSO in seiner nunmehr 129. Spielzeit eines der besten und berühmtesten Orchester der USA, ach was: der Welt. Und in der Stadt ist man sowieso unangefochten. Und das liegt, ganz klar, auch an Riccardo Muti, der seither viele neue Musiker engagiert hat, der hier aufblüht, an seinem einzigen, konzentrierten Job bei einem Profiklangkörper.
Ja, die Passage zur Symphony Hall ist für Seitenreinkommer sehr praktisch, wenn es kalt ist, trotz jetzt strahlenden Sonnenscheins und knallblauen Himmels am nächsten Morgen. Zumal das soeben frisch neueröffnete Restaurant „Opus“ danebenliegt. Die Besucher, die hier Karten kaufen gehen oder nur abkürzen, nehmen es gelassen, dafür sind sie in einem halben Jahr wieder froh über die milden Sommer, wenn vom See eine feine Brise über den Millenium Park bis in die Michigan Avenue weht. Dort steht seit 1904 das Symphony Center, nicht nur Herz, sondern auch Seele der Klassikkultur der Metropole von Illinois. 1997 hat man es akustisch aufgemöbelt und erweitert. Und heute ist es ein Schmuckstück im Loop, einer der schönsten Agglomerationen Amerikas.
Mit 2,7 Millionen Einwohnern ist Chicago nicht klein, aber auch nicht groß. Genau richtig. Doch im Vergleich mit deutschen Großstädten ist das Klassikangebot bescheiden. Fast bescheiden nimmt sich auch – im US-Vergleich – Symphony Hall aus – mit 2.225 Plätzen, die theaterähnlich über einen Balkon und Rang verteilt sind, während die muschelartige Bühne der in der Carnegie Hall ähnelt. Cremefarbe herrscht vor, auch im Foyer, dem Grainger Ballroom, der gewinnbringend für Hochzeiten vermietet wird. Gleich gegenüber erhebt sich das Art Institute of Chicago mit seiner hinreißenden Sammlung.
Man ist hier nahe dran und weich in Klang gebettet. Selbst wenn die Bläsergruppe loslegt. Was etwas heißen will. Denn sie ist sogar so legendär, dass der Kulturreporter der „New York Times“ gerade an einer Geschichte über sie recherchiert. Wenn ihm nicht der Kältesturz einen Strich durch die Schreibrechnung macht. Muti hat tolle Arbeit geleistet und dem CSO einen kultivierten, zarten, sogar verletzlichen Klang geben. Der aber auch die berühmten Bläser loslegen lässt, wenn sie sollen.
Das eine ist dann abends zu hören in einen feinsinnig ausbalancierten deutschen Programm mit Wagners „Holländer“-Ouvertüre, dem Brahms-Doppelkonzert, das den zweiten Soloinstrumentalisten an Geige und Cello zur Ehre gerät sowie einer schönen Rheinischen von Schumann; das andere hat seine Stunden etwa am Ende der „Pini di Roma“ Respighis oder in der farbenprächtigen „Romeo und Julia“-Ballettmusik, die in den Proben zu erleben sind. Das Shakespeare-Ballett ist dann auch dabei, wenn man am 9. Januar in der Kölner Philharmonie mit einem kompletten Prokofiew-Programm auftritt. Die nächste Europa-Tournee wird das CSO dann zudem zu einer Residency nach Wien (11.-14.), nach Luxemburg (16.), Paris, Neapel, Florenz, Mailand und Lugano führen.
Der erste CSO-Musikdirektor Theodore Thomas wirkte von 1891 bis 1905; danach kam von 1905-42 eine lange Phase unter Friedrich August Stock, 1905. Kürzere Perioden unter Désiré Defauw (1943–47), Artur Rodziński (1947–48) und Rafael Kubelík (1950–53) folgten. Erst der präzisionsbesessene, gefürchtete Fritz Reiner etablierte den Weltruf des CSO zwischen 1953 und 1963. Seine Aufnahmen sind Legende, eben bekam er im Foyer eine Büste.
Nach Jean Martinon (1963–69) übernahm Georg Solti, der bis 1991 an die Glanzzeiten Reiners anknüpfen konnte, wenn auch mit einem anderen, schneidigeren Stil. 1991 wurde Daniel Barenboim als Nachfolger gewählt. Er bekleidete sein Amt bis zum Ende der Saison 2005/06, dirigierte viel deutsches Repertoire.
Das CSO hat aber für Chicago noch weitreichendere Bedeutung. Die Musiker bestreiten im Sommer das in einem Vorort gelegene, unabhängig operierende Ravinia Festival. Und unter dem Schirm der CSO-Organisation existiert seit 100 Jahren auch das Chicago Civic Orchestra, das als Alumni- und Nachwuchstruppe für die große Schwester fungiert und seit genauso langer Zeit auch die erste Serie überhaupt mit speziellen Kinderkonzerten veranstaltet. Und das CSO ist in der Region auch der wichtigste Veranstalter, der in der eigenen Halle Klassikkonzerte mit den berühmten Namen aus aller Welt abhält.
Eine bedeutende Organisation also. Die letztes Saison mal wieder einen der Schlagzeilen machenden Arbeitskämpfe mit Aussperrungen und leerem Saal ausfocht. Ihre insgesamt gesunden Finanzen hat das zum Glück kaum beeinträchtigt. Jetzt ist mit Musikern und Gewerkschaften wieder alles ausgehandelt. Intendant Jeff Alexander gibt sich sehr gelassen. Man stehe, sehr gesund da, freilich arbeitet man daran, durch eine Extra-Spendenkampagne das, wie überall bei den US-Kulturinstitutionen, durch die jüngsten Börsenschwankungen geschrumpfte Kapital wieder aufzustocken.
Auch Riccardo Muti schaut gelassen und abgeklärt in die Zukunft. Viele neue Musiker hat er engagiert, gerade läuft ein Zyklus aller Beethoven-Sinfonien zum 250. Geburtstag. Mit Missy Mazzoli als Gastkomponistin arbeitet gegenwärtig auch eine der angesagtesten Klassikkünstlerinnen Amerikas. Und man hat im Winter eine angenehme Residency in Florida.
In den Proben ist er aufgeräumt, entspannt, immer zu Scherzen und Imitationen aufgelegt, Nicht einmal eine Digitaluhr sieht man, sonst das wichtigstes Gewerkschaftsinstrument auf allen amerikanischen Orchesterpodien. Proben werden auf die Sekunde genau beendet, egal wieviel Musikminuten noch zu spielen wären. Riccardo Muti ist aber schon vorher zufrieden und fertig. Und das, nachdem die Celli in „Romeo und Julia“ immer neue Farben aufgezogen haben, die hohen Geigen in Julias Giftszene fies klirrten. Auch mit dem ersten Satz von George Bizets eigentlich nie gespielter „Roma“-Sinfonie ist er zufrieden: „Ich konnte den Tiber riechen.“ Es gefällt auch den drei österreichischen Ehrengästen im sonst leeren Auditorium. Sehr.
Nachmittags ist kurzes Sightseeing. In der Kälte geht es kurz über die Magnificent Mile, den Einkaufsabschnitt der Michigan Avenue. Viele neue Glashochhäuser erheben sich am Chicago River, auch ein weitere, hässlicher, fett beschrifteter Trump Tower. Auch hier bläht sich die Immobilienblase, sogar die „Chicago Tribune“ hat ihren neogotischen Turm verkauft, der jetzt für Luxusappartements entkernt wird. Das Art Institute, wo eine große Andy-Warhol-Retrospektive läuft, hat in der Zwischenzeit einen Contempory Wing von Renzo Piano bekommen, der die Kunst schön mit der eleganten Skyline korrespondieren lässt.
Neu ist für mich auch der lange erst nach der Jahrtausendwende fertiggestellte Millenium Park mit seinen von reichen Spendern bezahlten Bauwerken und Skulpturen. Im verschneiten Zentrum, der nach den Hyatt-Hotelerben Pritzker (die praktischerweise auch den Architekturpreis stiften) benannte Pavillon von Frank Gehry: Doch die im Sommer vielbespielte Open Air Bühne gähnt jetzt silbrig und winterweiß.
Im abendlichen Konzert, es ist das dritte der Serie, ist es fast ausverkauft, das Publikum etwas jünger, viele treue Abonnenten stehen in der Pause zusammen. Das Orchester hat einen dichten Wochenplan. Neben den regulären Konzerten stehen Wiederauffrischungsproben von früheren, in der Saison absolvierten Programmen, für die beiden Auftritte in der New Yorker Carnegie Hall – immer noch der Prestigeplatz für alle amerikanischen Orchester (und nicht nur für diese) schlechthin. Am nächsten Morgen ist sogar kurz Joyce DiDonato von New York eingeflogen. Sie singt in dem reizvoll mit Rom-Themen spielenden ersten Konzert Berlioz’ Rom-Kantate „La mort de Cleopâtre“. Man verständigt sich mit halber Stimme, versichert sich seiner Übereinstimmung.
Umso mehr Energie ist da für Ottorino Respighis unverwüstliche „Pini di Roma“, wo man wieder mal hört, wieviel John Williams von ihm geklaut hat. Das CSO gefällt sich in den raffinierten Effekten, den sämigen Melodien, und bleibt doch immer geschmackvoll. Selbst die Blechgewitter (mit 13 Extra-Bläsern von beiden Seitenbalkonen) werden nie knallig, der Klang schwingt nie aus dem Fokus. Und vorher, bei der Morgenstimmung auf dem Gianicolo, gab es nicht nur eine edel lasierte Soloklarinette, sondern gleich ein ganzes elektronisches Nachtigallenkonzert.
Beim Espresso in seiner Kellersuite, man kann sie Little Italy nennen, mit italienischer Assistentin, italienischem Fahrer, Caffè und Cantucci und vielen Erinnerungen an der Wand, zeigt Muti seine Rahmungen her. Das erste Chicago-Programm von seinem verehrten Lehrer Antonino Votto samt der (positiven!) Rezension der damals gefürchteten Claudia Cassady, die sogar die Callas in die Kritikerinnen-Pfanne haute, hängt da. Und Bilder von ihm mit der Queen, dem Tenno Akihito, mit Boulez sowie einer Widmung „The Greatest“) von Muhammad Ali. Und eine kuriose Partiturseite aus dem Archiv des New York Philharmonic: Beethovens 7. Sinfonie mit Änderungen von Gustav Mahler, die ein erboster Toscanini zurückgenommen hat. Samt einem anonymen Kommentator, der sich über beide lustig macht….
Trotzdem, Riccardo Muti hat gerade angekündigt, das er nach zweimaliger Verlängerung zum Ende der Saison 2021/22 als Musikchef abtreten wird: „Ich will nicht im Sarg aus dem Konzertsaal getragen werden. Ich bin dann 80 Jahre alt, möchte nur noch Spaß und keine Verantwortungen mehr haben, mich noch mehr auf Nachwuchsförderung konzentrieren. Denn ich muss mein Wissen weitergeben. Aber mit diesem Orchester meine Chefpositionen zu beenden, das ist fein. Ich werde gern zurückkommen, so wie auch zu meine geliebten Wiener Philharmonikern, die ich seit bald 50 Jahren dirigiere, und zum Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, zu dem ich ja auch eine langjährige, sehr gute Beziehung habe.“
So wäre also auch das geklärt. Jedes Konzert, auch auf Tournee, wird ab jetzt noch wertvoller. Ich aber mache noch einen Abstecher zur in einem riesigen Art-Deco-Hochhaus am Wacker-Drive gelegene Lyric Opera of Chicago. Die nahm nach diversen Pleiten erst 1954 ihren regulären Betrieb auf. Maria Callas machte immerhin den Anfang. Es regierten hier zwei starke Frauen Carol Fox und Ardis Krainik. Seit 2011 führt Anthony Freud das Haus mit viel Geschick. Stars gibt es immer noch die Menge, heute rührten Patrica Racette und Susan Graham in Jake Heggies Mördermelodram „Dead Man Walking“.
Gegenwärtig kommt die zweite „Ring“-Produktion überhaupt in Chicago heraus, zum Ende der Saison füllt Freud seine 3.563 Plätze im nobelgoldenen Art-Deco-Auditorium zusätzlich mit über 126.000 Musical-Besuchern. Und er bekommt nun auch noch mit dem Joffrey Ballet eine weltberühmte, aber lokale Institution als Mieter dazu. Nach 20 Jahren wird Musikdirektor Andre Davies an Enrique Mazzola übergeben. Man streitet gern, ob die Lyric Opera of Chicago nach oder vor San Francisco das zweitgrößte Opernhaus der Vereinigten Staaten ist, Sitzemäßig auf jeden Fall. Und die sind gut ausgelastet. Aber auch mit seinem Mosaiken an die Hagia Sophia gemahnende Auditorium Theatre, mit seinem 3.875 Plätzen bisher Heimstatt des Joffrey, ist nicht ohne.
Da wird der Abend klein gehalten, mit einem Essen beim Armenier, und einem gemütlichen Klarinettenquartett-Konzertset in einem stimmungsvoll modernen Jazzclub in Seenähe. Morgen geht es nach New York auf Tournee. Und da ist es wärmer!
Der Beitrag Chicago Symphony Orchestra I: Die Muti-Sonne scheint nicht nur in der windy city, sondern auch in den Orchesterherzen erschien zuerst auf Brugs Klassiker.