„Der Musengaul“ heißt überraschend selbstironisch das Mitteilungsblättchen der Freunde des Badischen Staatstheaters. Doch keinerlei Pferde gingen durch bei zwei hinreißenden Solistenkonzerten der langsam sich ihrem Ende zuneigenden Händelfestspiele am Rhein. Nur der Beifall war laut, begeistert und ohne jedes Wiehern. Beim Festabend der Deutschen Händel-Solisten (samt traditionellem Dankesbüffet für diese hinterher in der Karlsruher Kantine) als Quasi-Cantus-Firmus im Graben des Festivals stand trotzdem der in jeder Hinsicht raumverdränge Mezzo der Schwedin Ann Hallenberg im Mittelpunkt – obwohl sie nur die Hälfte des Konzerts bestritt. Das Orchester unter seinem dänischen Gastdirigenten Lars Ulrik Mortensen musizierte in den beiden Rameau-Tanzsuiten aus „Platée“ und „Les Boréades“ zwar rhetorisch eifrig, aber irgendwie zerfloss der Klang, mochte der Funke nicht wirklich überspringen. Weder der groteske Humor der Sumpfunken-Story irrlichterte durch diese Rhythmen, noch wurden die Familienaffären der Westwinde-Nachkommen sonderlich wüst durchgepustet. Das änderte sich auch bei den diversen Geister-Entrées aus Händels „Ariodante“ nicht: Alles fand auf sehr temperierten Niveau statt.
Nicht aber, wenn Ann Hallenberg in schwarzen Seidenrobenwogen auftrat, ja so selbstbewusst wie lustvoll herausfordernd die Szene einnahm: das Hingucker-Mieder apart rot geschnürt, mit halb aufgeklapptem Dekolletee. Die sang sich erst fest in Hingabe und Wahnsinn, wie ihn in Händels „Hercules“-Oratorium des Helden verblendete Gattin Dejanira schüttelt; was in dem völlig entrückten „Where shall I fly?“ gipfelte. Die Schwedin beherrscht gegenwärtig, neben flüssiger Technik und passgenau attackierten Tönen, vor allem eines einzigartig: Die Kunst der vokalen Charakterisierung durch das Wort. Bei ihr hört man auf die Bedeutung, sie gestaltet Charaktere durch präzise Prosodie. Sie weiß, was sie singt und genau das will sie auch mitteilen.
Man ist nicht nur fasziniert, man folgt ihr willig. Was nicht schwer ist, wenn sie zwei so hinreißende, dabei völlig unterschiedliche Arienkostbarkeiten serviert wie Ariodantes elegisches „Scherza infida“, gefolgt vom jubelnd koloraturseligen „Doppo notte“. Dem, als natürlich gern gewährte Zugabe, noch das thematisch von Händel vielfach wiederverwendete und variierte „Lascia la spina“ aus dem frühen römischen Oratorium „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ folgte.
Und so sei hier auch noch einmal nachträglich und mit aller Empfehlung auf das jüngste, bei glossa erschienene Konzept-Album der schweren Schwedin empfohlen, die echte Kerle vokal viel glaubwürdiger werden lässt als ihre dagegen doch nur säuselnde Landfrau Anne Sofie von Otter: Auf „Arias for Luigi Marchesi“ widmet sich Ann Hallenberg zwar auch Figuren wie Rinaldo und Poro, sogar ein Castor ist dabei – die sind aber nicht von Händel und Rameau, sondern von Komponisten wie Giuseppe Sarti, Niccolò Antonio Zingarelli, Francesco Bianchi, Cimarosa, Cherubini, Mayr und Myslivecek – sie alle schreiben nämlich für eben jenen Marchesi (1754-1829) den großen Kastraten der napoleonischen Epoche.
Szenenwechsel: Aus dem nüchterne Betonstadttheater mit seinem bräsigen Seventies-Anti-Charme zur Christuskirche am Mühlburger Tor. In dem eindrücklich zentralüberkuppelten Hybrid aus schwerer Neogotik und erster Jugendstil-Ahnung produzierte sich vor der Altarkanzel samt byzantinisch anmutender Goldmosaikwölbung noch einmal Valer Sabadus mit einem „Musicall Banquett“. So heißt die erste, 1610 veröffentlichte und jetzt exquisit von Axel Wolf am Laute wie Theorbe begleite Sammlung von Robert Dowland mit „ausgewählten erlesenen Liedern der hervorragendsten englischen, französischen, spanischen und italienischen Komponisten“ – natürlich auch denen von dessen Vater John Dowland.
Ein Abend der leisen und noch leiseren Töne, weich nachhallend in der üppigen Kirchenakustik. Sabadus, mit Brille und Konfirmandenanzug, verführte und faszinierte gleichwohl vom ersten Moment an mit seinem fast ansatzlosen Klang, der leicht sich aufschwingenden Höhe, der feinen messa di voce, der unaufgeregt ruhigen Konzentration. Natürlich verschwimmen in einem solchen Raum leicht die Töne, der Vortrag erklang in zartem opaken Perlenschimmer wie hinter einer leichten Nebelbank. Doch das verstärkte nur diesen Charme des Nostalgischen, der gut zum schwärmerischen-schmerzvollen Duktus unerfüllte Liebe passt, von er die meisten Stücke handeln. Was Valer Sabadus dezent, ohne Überdruck zu vermitteln wusste, hell, lyrisch und doch bannend. Auch er: ein geborener Rhetoriker, der sich zu artikulieren versteht, bei dem aber der Spaß am schönen, konzentrierten, farblich variierten Ton – noch – überwiegt.
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