Die Repertoireoper des Herbstes 2019? Vielleicht „Les Indes galantes“. Weil diese opéra-ballet von 1735 aus der klugen, feinsinnigen Feder Jean-Philippe Rameaus natürlich gar keine ist, eher selten gespielt wird – wenn auch mit steigender Tendenz. Und weil sie innerhalb von zweieinhalb Monaten gleich zweimal von denselben, großartigen Musikern aufgeführt wurde: von Leonardo García Alarcón am Pult seiner mal erweiterten, mal reduzierten Cappella Mediterranea. An der Pariser Opéra Bastille wurde der unverbundene Vierakter plus Prolog, zuletzt 1999 als knatschbunte Revue gezeigt, zu einem mitreißend zeitgenössischen Fest des Lebens. Das Paris heißt. Der bildende Künstler und Filmregisseur Clément Cogitore scherte sich nicht um Türken und Perser, Inkas und Indianer, die hier als exotische Plaissanterie die absolutistische Hofgesellschaft des 18. Jahrhunderts unterhalten sollten. Er zeigte – natürlich äußerst kunstvoll stilisierte – Vignetten aus eine multikulturelle Metropole des 21. Jahrhundert namens Paris. Und die Musik rauschte auf, hatte Flow, klang festlich und groß. Ganz anders und dabei nicht weniger interessant wird am Genfer Grand Théâtre mit dem Stück umgegangen. In der Stadt des Humanismus wie des Geldes, wo Hilfsorganisationen und Großfinanz koexistieren, durchaus auch zum gegenseitigen Nutzen. Hierhin kehren Alarcón und die Seinen zum wiederholten Mal zurück. Und hier sind paritätisch als Inszenierungsteam die amerikanische, in Deutschland lebende Opernregisseurin Lydia Steier und der ebenfalls in Deutschland aufgewachsene argentinische Choreograf Demis Volpi am Start.
Auch wenn das, die divergierenden Opernteile verbindende Konzept von ihr ist: Krieg, ein halbzerstörtes Theater als Zufluchts- wie Symbolort. Darin haben sich die Kunstschaffenden geflüchtet, kapseln sich spielend, vor allem aber wie in einer letzten Orgie liebend von der Realität ab. In deren Atmosphäre sie freilich ein brutaler Soldatentrupp aus dem Satyricon-Eskapismus jäh zurückholt. Sie werden unterdrückt, gequält, die anderen sind die stärkeren. Doch als die Außenwelt deren Einsatz fordert, geht im Theater das Spiel der Illusion weiter, um dann die traumatisieren Krieger am Ende tröstlich in die Arme zu schließen. Kann die Kunst gewinnen? Sicher nicht. Aber gemeinsam kann sie das Leben besser gestalten. Deshalb rauchen hier alle, nicht nur die „Sauvages“, die Wilden des letzten Divertissements, zu Rameaus meditativ repetitiven Hitklängen die Friedenspfeife. Wenigstens musikalisch wird es utopisch.
Wirklich neu ist diese szenische Klammer als Spiel mit Schein und Sein, Theater und Wirklichkeit natürlich nicht, aber sie macht Sinn, wird schön und schwelgerisch und scharf genutzt. Heike Scheele hat sich für ihr pittoresk angeschlagenes Theater, von dem ein halbes Logenrund und die Bühne zu sehen sind, in kleinen Details vom Genfer Theater inspirieren lassen. Liebevoll sind Medaillons, Lüster, Karyatiden aus der Belle-Epoque-Architektur integriert. Das sehr tanzlastige persische Divertissement „Les fleurs“ wird von einem großen, neoklassisch-modernistischen, raffiniert hebungsverschlungenen Pas de Deux vor der fein nachgemalten Prunkfoyerdecke mit Apollons Kunsttriumph als Zwischenvorhang eröffnet.
So wie auch schon zu Anfang der Tanz regierte, der dann erst durch den Auftritt der Jugendgöttin Hebé (mit sinnlicher Sopranpracht: Kristina Mkhitaryan) unterbrochen wurde; brutaler aber vom Offizier Bellone (angemessen raustimmig: Renato Dolcini). Amour (Roberta Mameli) beschwert sich, wird aber gleich verletzt und ausgeschaltet. Und so beginnt ein Spiel im Spiel, mit den Resten des Theaterfundus, die noch da sind. Liebeständelei soll von der bitteren Realität ablenken.
So lassen sich die harmlosen ethnisch inkorrekten Amouren des Textdichters Louis Fuzelier bestens einbauen, und man kann zwischen den komischen Türken, Inkas, Persern und Indianern („Indes“ meint hier einfach alles Exotische) einige Insider-Jokes platzieren. Etwa ein paar „Entführung aus dem Serail“-Requisitenkisten; steht doch Mozarts Oper als Nächstes in Genf an, und garantiert nicht mit solchen Pappbäuchen, Gummibrüsten und Monsterturbanen, wie sie Katharina Schlipf entworfen hat. Die jetzt umso grotesker wirken zwischen der behaupteten blutigen Realität. Die die Soldaten abzieht, weil es draußen wieder geschützedonnert; passend zu den musikalischen Erdbeben und Vulkanen des Südamerika-Teils, bei dem auch Leonardo García Alarcón ordentlich klanglich aufdreht.
Insgesamt aber geht es in Genf musikalisch intimer, zarter, leiser zu: Vorteil des kleineren, konzentrierten Raums. Wunderbar wechseln im Graben die Klangfarben, bei fast 50 Instrumentalisten nützt Rameau eine breite Palette. Als weitere, schnell wechselnde Charaktere in verschiedenen Kostümen sind auch Claire de Sévigné, Amina Edris, Gianluca Buratto, Anicio Zorzi Giustiniani, François Lis und Cyril Auvity mit edlem Stimmmaterial diverse Wilde, doch fast immer auch nicht singend beachtlich präsent. So wie zwischen Solisten, Tänzern und Chor kaum ein Unterschied besteht, das darstellerische Festpersonal stark gefordert ist.
Ungemein dicht, vielfältig und überraschend ist das erzählt. Subtil mit den Mitten des armen Theaters spielend, eine bisweilen fellinihafte Opulenz nur mit Fantatie und Effekten behaupten, wo fast gar nichts ist. Die wiederkommenden Soldaten müssen nun von den im Theater Verbliebenen Thespisjüngern gepäppelt und moralisch wiederaufgerichtet werden. Wozu sich Musik vorzüglich eignet. Ganz ungezwungen hat das musikalische Fülle und Stringenz, auch weil geschickt umgestellt, gekürzt und umverteilt wurde; trotzdem dauern auch diese „Les indes galantes“ fast dreieinhalb Stunden. Von denen keine Minute langweilig ist, belebt vom Genie Rameaus und einer klugen Adaption barocker Befindlichkeit in unsere weit rationaleren, aber sich ebenfalls wegduckenden Welt. Könnten wir nicht alle ein wenig Aufklärung gebrauchen?
Der Beitrag Theaterspielen als Tröstung: Lydia Steier und Demis Volpi machen am Genfer Grand Théâtre Rameaus Divertissement „Les indes galants“ gegenwartsrelevant erschien zuerst auf Brugs Klassiker.