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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Der Ballettbastler: zum 70. Geburtstag des avantgardistischen Bewegungsartisten William Forsythe

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William Forsythe wird heute 70 Jahre alt. Früher hätte man da Jubelranken gewunden, hätte ihn als neben Pina Bausch und Hans van Manen bedeutendsten Choreografen nach Georg Balanchine gefeiert. Die Bausch hatte mit dieser Tanzwelt sehr deutlich gebrochen, das Spektrum Choreografie aber entscheidend erweitert, van Manen, heute 87, hat Balanchine umschifft, integriert, neu interpretiert, ist aber, neben einigen Experimenten in den Siebzigern, dem Tanz treu geblieben und produziert heute noch auf altersgemäß reduzierter Flamme. Und Forsythe? Der hat als Choreograf, der das Erbe pflegt, den radikalsten Spagat gemacht, Klassik und Neoklassik, zerstoßen, zerbrochen, zerpulvert, aber ihr gleichzeitig – auch dem Spitzenschuh – gehuldigt, sie modern und hipp gemacht. Die Perspektiven und Schaurichtungen, die Symmetrie und Hierarchie existierte nicht mehr. Die Körperachse war obsolet, Schwerpunkt war überall, die Glieder wurden unabhängig, ebenso Raum und Zeit. Daraus ergab sich eine unendliche Bewegungs- und Raumvielfalt, die dem Balletttänzer so bis dahin fremd war. Befreit von Ablenkendem hat sich so das Ballett neu konstituiert. Avantgardistisch. Technoid.

Michael Simon entwarf oft die Raumobjekte, das Licht kam von irgendwo. Kostüme waren nicht selten von Modeschöpfern wie Issey Miyake oder Yohji Yamamoto. Der peitschende Computersound, von Thom Willems, der gern auch Sprache mit einschloss, wurde schnell ein akustisches Markenzeichen. Das Frankfurter Ballett, das war in den Mittachtziger- und Neunzigerjahren die radikalste, innovativsten Balletttruppe der Welt. Ja – Ballett! Tempi passati.

Man hat das dort ab 2004 als Sparmaßnahme die ganze, weltberühmte Tanzherrlichkeit strukturell zerstört und abgewickelt. Forsythe selbst wollte aber auch nicht mehr: Die Verantwortung für die Riesentruppe, dauernd unter Produktionszwang zu stehen, das hatte ihn ausgelaugt. Und so willigte er freiwillig in das Danaergeschenk einer reduzierten Truppe namens Forsythe Company ein, die sich Sachsen, Hessen und die Bundeskulturstiftung teilten. Fans und Jünger fuhren also weiter nach Hellerau oder in Frankfurter Depot, und mussten zusehen, wie ihr Idol von einst immer lustloser, schräger, esoterischer, hermetischer, pantomimischer und performativer wurde. Und irgendwann schien sein szenischer Elan gänzlich zum Stillstand gekommen, seine Bewegungskreativität ausgetrocknet.

Gleichzeitig hat sich William Forsythe für digitale Archivierung, Computerkunst, künstliche Bewegungsintelligenz interessiert, ohne dass dabei wirklich Bahnbrechendes, seinen so wandelbaren, ideensprühenden, mutigen, klugen, neugierigen Tanzkreationen etwas Gleichwertiges entgegengesetzt worden wäre. Stattdessen wurde er, der einen ganzheitlichen Kunstbegriff suchte, auf Ausstellungen und Biennalen als der jüngste hot shit herumgereicht. Er machte dort lustige Mitmachkunst mit Bällen, Ballons und Seilen, meist Selbstbespiegelung, durchaus voll gefälliger performativer Möglichkeiten. Solche „choreografischen Installationen“  lieben die zudem nach großen Namen und schicken Quereinsteigern gierenden Kuratoren.  

Einmal noch, 2016, kehrte Forsythe für eine Variation, ein Aufblitzen seiner alten Möglichkeiten an die Pariser Oper zurück, ehrwürdiger Ursprungsort des Balletts und Ort einige seiner größten Triumphe („In the Middle, Somewhat Elevated“,  1987 mit Sylvie Guillem, die Beine hinter den Ohren, und Nicholas LeRiche, vielleicht sein definitives Stück überhaupt, klassisch und geil, cool und gefährlich). Auch gastierte das Frankfurter Ballett regelmäßig im Théâtre de la Ville. Doch „Blake Works“ zu Popsongs von James Blake war nur noch ein hübsches, nostalgisches Nachglimmen, man labte sich an den beau restes des lange entbehrten, Neues kam nicht mehr.

Selbst dieses, eigentlich schon skelettierte  Stück für eine jüngere, ihm unbekannte Tänzergeneration, hat William Forsythe dann nochmals als „A Quiet Evening of Dance“ für seine alten Tänzer und ihre Rentnertruppe entbeint, zerlegt und geteilt, aufgesplittet, in Einzel-Pas-de-Deux und –Momente. Wie es ja schon sowieso sein Bauprinzip einmal additiv, einmal dekonstruktivistisch war, viele Stücke quasi aus einer Zelle gewachsen sind, manche zu ehrfurchtgebietenden Abendfüllern. Die heute noch gern von vielen klassischen Kompanien lizensiert werden, ein Teil des Forsythe-Repertoires ist also noch höchst lebendig und sieht gut aus bei jeder neuerlichen Begegnung. Auch haben sich viele seiner zur Eigenverantwortung und zum Mitmachen erzogenen Tänzer später emanzipiert, sei es als Ballettdirektoren wie Aron Watkin in Dresden oder als Choreografen wie die gegenwärtig vielgefragte Chrystal Pite.

Der am 30. Dezember 1949 in New York geborene William Forsythe liebte Rock’n’Roll, Fred Astaire und Musicalfilme. Er tanzte nach seinem Studium an der Joffrey Ballet School und der Jacksonville University in Florida ab 1971 für das Joffrey Ballet, 1973 verpflichtete ihn John Cranko für das Stuttgarter Ballett. Schon in Stuttgart fing er 1976  an zu choreografieren, bereits damals wurden seine Werke in München, Den Haag, London, Basel, Berlin, Frankfurt am Main, Paris, New York und San Francisco  aufgeführt. Mit seiner am klassischen Ballett orientierten, streng mathematischen, aber bildhaft-sinnlichen Tanzsprache war er schnell vielgefragt. Leider lässt er viele dieser frühen Stücke wie das lässige „Love Songs—alte Platten“ heute nicht mehr gelten und zeigen.

Der spätere Stuttgarter Opernintendant Klaus Zehelein erkannte als Chefdramaturg an den Städtischen Bühnen Frankfurt bei Forsythe das entwicklungsfähige Ausnahmetalent und leitete den Ruf nach Frankfurt ein. Der Rest sind 20 gloriose Jahre Ballett- und Tanzgeschichte mit so schräg betitelten Stücken wie „Artifact“, „Isabelle’s Dance“, „Die Befragung des Robert Scott“, „Impressing the Czar“, „Limb’s Theorem“, „The Loss of Small Detail“, „The Second Detail“, „A L I E / N A(C)TION“, „Eidos:Telos“, „The Vertiginous Thrill of Exactitude“, „Three Atmospheric Studies“, „One Flat Thing Reproduced“, „Kammer/Kammer“ Oder „Decreation“.

Dann folgte der zehnjährige Abgesang. Jacopo Godani führt die Truppe seiter ohne größeres Aufsehen als Dresden Frankfurt Dance Company weiter. Seit 2015 ist William „Billy“ Forythe Professor of Dance und künstlerischer Berater des choreografischen Instituts an der University of Southern California in Los Angeles. Im März hat er sich sogar noch zu einem allerjüngsten Stück für das Boston Ballet bequemt: „Full on Forsythe“. Ansonsten lebt er mit seiner zweiten Frau Dana Caspersen auf einer Farm in Vermont.

Der Beitrag Der Ballettbastler: zum 70. Geburtstag des avantgardistischen Bewegungsartisten William Forsythe erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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