Wir lieben sie, die Wiener Weltopernprovinz. Da steht am gleichen Abend die fast 50-jährige „Salome“-Inszenierung von Boleslaw Barlog in der Staatsoper auf dem Spielplan. Die hat den bereits dritten Dirigenten angekündigt, und so richtig frisch riecht die einst neue Idee Jürgen Roses, den Strauss-Schwulst in den heute zum Touristenkitsch geronnenen Wiener-Klimt-Jugendstil zu kleiden, auch schon lange nicht mehr. Immerhin kommt Pultmeister Dennis Russel Davies pünktlich – anders als abends zuvor zum „Lohengrin“ der notorisch verspätete Valery Gergiev, der von Opernchef Dominique Meyer prompt durch einen anderen ersetzt wurde. Im Theater an der Wien, da spielen sie freilich auch die nagelneue „Salome“, in einer provinziell reduzierten Version. Was für den geschäftstüchtigen Strauss Recht und für die Theater von Plauen bis Kiel billig war, um auch in den klangekstatischen Genuss der verworfenen, prophetenkopfkürzenden Prinzessin von Judäa zu kommen, das funktioniert jetzt, wo Strauss gerade rechtefrei wurde, in dem trockenen Raum so gar nicht. Obwohl man extra Eberhard Kloke mit dieser neuen Rumpffassung beauftragt hat. Statt 105 spielen jetzt 59 Musiker, trotzdem wurde neue Instrumente wie Heckelphon, Altflöte, Kontrabassklarinette und Wagnertuben hinzugefügt. So grummelt es noch vehementer und expressiver in der Bläserfraktion, zuungunsten der Streicher, denen jeder Pailettenflitter, alle tönende Sinnlichkeit und Erotik-Raffinesse verlorengeht. An der ist freilich der meist ziemlich pauschal dreinschlagende, sich in lauten Klangballungen gefallende Leo Hussain am Pult des rustikal aufspielenden ORF-Radio-Symphonieorchesters nicht sonderlich interessiert. Und auch Regisseur Nikolaus Habjahn nicht. Der will aber erklären und entschuldigen: Salome als Opfer, statt Täterin. Nicht ohne ihre Puppe.
Habjahn steht in dieser zweiten Vorstellung sogar mit auf der Bühne. Er spielt den Narraboth, während der mutige Paul Schweinester, eigentlich nur und später dann auch der Erste Jude, von der Seite ansprechend für den erkrankten Martin Mitterrutzner singt. Dieser Hauptmann ist gekleidet wie ein Portier, sein diensteifrig verzitterter Page (Tatiana Kuryatnikova) wie ein Bell Boy: Willkommen im Themenhotel Dekadenz.
Dessen Exterieur Julius Theodor Semmelmann freilich eher minimalistisch und streng symmetrisch gestaltet hat. Alles betonklare Kontur, eine hohe, fast schmucklose Fassade, die nachher drei Öffnungen hat. Davor eine von rohen Mauern gerahmte und von der Außenwelt abgeschottete Treppenanlage, in der Mitte die Prophetenzisterne, erlaubt vielfältige Bespielung. Einzige Elemente, die von früheren Orgien künden: Blütenblätter und ein toter weißer Pfau, die aus einem Historienschinken von Lawrence Alma-Tadema übrig geblieben sein könnten.
Habjahn inszeniert hier, die zweckdienlichen Kostüme von Cedric Mpaka machen wenig her, ganz zeitgenössisch geradlinig, ohne größte Deutungspirouetten. Sein Markenzeichen, die Puppen, sind doch wieder vertreten. Allerdings nur zweimal und sie machen Sinn. Zum einen trägt Salome, pornchic gekleidet in eine geraffte Seventies-Robe und lila Blockabsatztreter, ihr Alter ego als Klappmaul mit sich – so etwas wie ihr hässlich in die Jahre gekommenes, schlechtes zweites Ich, verschrumpelt, mit schlangenkalten Glitzeraugen der verdorbene Teil dieser verführten Kindfrau. Der sich an Naraboth wie den Propheten heranmacht.
Jochanaan erscheint wirklich als ausgemergelter, vielleicht mal schöner Puppenjüngling, bei dem man jede Rippe zählen kann, nur die Augen glühen tief in den Höhen. Er hängt als fast nackter Fetisch wie leblos am Zisternendeckel, welcher in der Untersicht spiegelnd nun als Mondersatz über der Szene schwebt, bis er zum Schluss hinter dem Palast vom monströs käsigweiß durchlöcherten Himmelstrabanten ersetzte wird. Bewegt wird dieser Prophetenpopanz nur ganz wenig vom mit ordentlichem Volumen, aber wenig balsamisch singenden Johan Reuter. Der ist in einem schwarzen Ganzkörperanzug quasi nicht vorhanden, bleibt aber auch dann noch da, als Jochanaan wieder im Loch verschwunden ist, nimmt Anteil, hält die Salome-Puppe, und später auch sein abgeschlagenes Haupt. Nur als dieses endgültig von der lebendigen Salome okkupiert und mit Küssen überhäuft wird, während es mit seinem stetig fließenden Kunstblut ihren weißen Unterrock nässt und färbt, da fällt des Propheten Leib leblos auf die Stufen.
Salome, jetzt nur noch Prinzip, auch den lustzuckenden Herodes (etwas tenorüberdreht: John Daszak, mit Michael-Jackson-Glitzerhandschuhen), den noch die Puppe befriedigte, hat sie hinter sich gelassen, das ist, mit rotem Bubikopf, fast ungeschminkt, mehr Mädchen als Verführerin – Marlis Petersen. Und nach ihrem Münchner Debüt unter dem zurückhaltenden Kirill Petrenko singt sie diese Grenzpartie neuerlich sehr besonders und anders: Wieder gibt sie sich unschuldig und doch wissend, raffiniert und intuitiv, schutzbedürftig und angriffslustig, passiv und offensiv. Klein, fein, durchdringend. Ein weißliches, nicht sinnliches Timbre, aber mit einer leuchtenden, sirrend klaren Kraft im Vokalkern. Aber diesmal ist sie geradliniger, mehr Medium als Täterin, reflektierend. Eine schöne Teilnahmslose, die sich wundert, wohinein sie da geraten ist.
Ihre Mutter kann ihr auch nicht helfen. Die orgelnde Michaela Schuster sitzt mit flammendroter Sonia-Rykiel-Perücke meist statuarisch rum, am Ende krümmt sich Salome in der Ecke, wartet auf den tödlichen Schuss oder Stoß. Der kommt nicht. Sie muss weiterleben, die Puppe liegt wie tot in der Ecke. Was aber bleibt von Salome?
Der Beitrag Nicht ohne meine Puppe: Nikolaus Habjahns ungewöhnliche „Salome“-Inszenierung im Theater an der Wien erschien zuerst auf Brugs Klassiker.