Mehr Erwartungshaltung geht nicht: Mit Gustav Mahlers 6. Sinfonie, der „Tragischen“ debütierte Simon Rattle einst bei den Berliner Philharmonikern und damit beendete er auch nach 16 Jahren seine Chefdirigentenzeit 2018. Seither hat das Orchester sie nicht mehr gespielt. Das 80-Minutenwerk war aber auch Ende 2014 für ein Kirill-Petrenko-Konzert angesetzt, das er dann freilich absagte. Trotzdem wurde der Russe zum neuen Chef gewählt. Und jetzt, diese Saison hat er endlich begonnen, begann stand diese, den ersten Weltkrieg so brutal und fatal vorausahnende Sechse also nun mehr als fünf Jahre später endlich an. Es ist gerade Petrenko-Zeit. Der Chef, den man sich noch mit der Bayerischen Staatsoper teilen muss, er hat ein überraschendes Silvesterkonzert mit Musik des Great American Songbook hinter sich, von Rodgers, Loewe, Weill (wunderbar melancholisch: die „Lady in the Dark“-Suite), Bernstein, Gershwin und – ein Säbeltanz muss sein – Waxmans Kosakenritt aus „Taras Bulba“. Auch Diana Damrau sang ganz liebreizend in wechselnden, nicht immer geschmacksicheren Kleidkreationen. Dann folgte ein alter Bekannter aus Komische-Opernzeiten, Josef Suks „Asrael“-Sinfonie, gepaart mit dem altersmüden Daniel Barenboim in Beethovens 3. Klavierkonzert. Als nächstes unternimmt Petrenko ein Jugendprojekt rund um Puccinis „Suor Angelica“, die er mit den beiden anderen „Trittico“-Teilen auch schon München dirigiert hat, Strawinsky, Zimmermann und Rachmaninow stehen auf dem nächsten Abbo-Programm im Februar, dem eine Deutschland-Tour folgt. Und Anfang April geht es schon mit Beethoven in Baden-Baden los!
Mahler also. In der Binnenreihenfolge gibt es erst das Andante, dann das Scherzo, der dritte Hammerschlag fehlt. Dafür geht es gleich mit beängstigender Perfektion los, was die übermotivierten Philharmoniker natürlich spielend beherrschen und auch hyperpräsent performen. Allegro energico. Heftig, aber markig, hier eher markig und heftig. Das ist Mahler in 4K, gestochen scharf, hart, konturenklar, wie gemeißelt. Mit militärkapellmeisterlicher Akkuratesse marschiert die Hundertschaft voran, wenn sie nicht sitzen würde. Petrenko ist ganz da, hat alles im Griff, lässt aber auch nie nach. Sicher, liefert das Choralthema ein wenig Entspannung, dann kann er auch weniger geben, das Wienerische in Mahler kann er schon, aber lange Leine ist nicht.
Er will alles richtig machen besteigt trittsicher diesen sinfonischen Achttausender, aber irgendwie macht das auch gruseln, so fehlerfrei und instinktpunktiert tönt das. Gefährlich pulsieren die Grellheiten, aggressiv lösen sich die Stimmgruppen ab, brodeln gemeinsam in diesem pessimistischen Klanggebirge.
Das Adagio bringt kein Nachlassen, nur weitere tiefenpsychologische Analyse über Masse und Macht innerhalb eines Monsterklangkörpers. Es fehlt dabei das Mythische, das Metaphysische, auch die Melancholie, die mögliche Melodik, die diese Musik momenteweise markiert. Makellos hält Petrenko die Balance im Scherzo, selbst die Ländler-Augenblicke bleiben aber grimmig blitzend, der nostalgische Blick auf die Welt von Gestern ist einer mit dem Röntgenauge.
Unangenehm unentspannt türmt sich schließlich das Finale, ein Exzess bockiger Durchdringung. Da wird viel gearbeitet, das hört man, dieser Mahler ist selten ein philosophischer Trip, da wird in klarstem Licht Struktur analysiert, nachgebildet, geformt. Und man meint, die Brillanz, mit der Kirill Petrenko das vollführt, fast greifen zu können, so deutlich steht sie im Raum. Atemberaubend ist das, aber irgendwie noch unerfüllt mit einer tieferen Bedeutung.
Wenn es mal sackt, wenn sich Abgründe der Moderne, Löcher vergangener Romantik auftun, dann eher weil die Musiker mit ihrer überreichlichen Mahler-Erfahrung wenigstens menschlich phrasieren, Atem spürbar wird, der Wunsch, innezuhalten. Petrenko aber eilt leichtfüßig, ja tänzelnd, aber gnadenlos wuchtig voran. Und selbst die Herdenglocken scheppern nur, die Bläserchöre knattern, höchstens die Posaunen gestatten sich kurz vor Schluss ein paar Schleifer. Wie oft hat sich Kirill Petrenko diese Sinfonie schon untertan gemacht? In Vorarlberg, 2014 in München und jetzt. Seine Schicksalssinfonie. Der nun noch sehr viel mehr Mahler-Praxis folgen muss. Das Visionäre, nicht nur das Gekonnte. Aufregend, dabei zu sein.
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