Beim Wuppertaler Tanztheater wird weiterhin gekämpft. Auf der Bühne ist das nichts Neues, gehören doch die Auseinandersetzung der Geschlechter zum festen Standardthemenrepertoire eines Pina-Bausch-Stücks. Doch auch hinter den Kulissen kracht es nach wie vor. Adolphe Binder, die auf beispiellose Art innerhalb des Hauses gemobbte und mit willfähriger Pressehilfe von der Stadt geschasste Intendantin, hat auch die dritte gerichtliche Auseinandersetzung gewonnen. Ende Januar steht das endgültige Arbeitsgerichtsurteil an, nachdem Stadt und die von ihr massiv instrumentalisierte neue Kompanieleitung sich weigern, wie vom Gericht angemahnt, auf Binder zuzugehen. Ein Kompromiss scheint nicht mehr möglich. Einige der sich nicht weiter bevormunden lassen wollenden, wie Statisten behandelten Tänzer haben inzwischen gekündigt. Die Vertragsauszahlung samt einer saftigen Abfindung für den fast ruinierten Ruf Binders wird wohl fällig werden. War aber die intrigenstadelige Stadt Wuppertal nicht fast pleite? Egal, jetzt hat man, die aktuelle Spielzeit ist dem 10. Todestag der Gründerin gewidmet, erst einmal die letzte Premierenplanung Binders umgesetzt: weil endlich die deutsche 70-Jahre-Schutzfrist des letzten, am Werk rechtlich Beteiligten abgelaufen ist, wurde nach 26 Jahren im Opernhaus endlich der 1977 herausgekommene, seit 1986 nicht mehr gesehene „Blaubart“ wiederaufgenommen, ja rekonstruiert. Es wurde ein mit stehenden Ovationen begeistert beklatschter Triumph – für das revolutionäre Werk, wie auch für das beglückend junge Ensemble.
Was für eine Wucht muss diese wütende, kaum komische Arbeit vor 43 Jahren gehabt haben! „Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper ,Herzog Blaubarts Burg’“, so der komplette Titel, bricht auch heute noch mit vielen Regeln der Theaterkonvention. Es ist eben keine Operninszenierung mit tänzerischen Mitteln, es ist eine fragmentierte und gleichzeitig verlängerte Auseinandersetzung mit dem Blaubart-Mythos unter stark atmosphärische Zuhilfenahme und gleichzeitiger Respektierung des Bartók-Einakters, der hier auf die doppelte und damit abendfüllende Spielzeit kommt. Und zum vollgültigen Opus wird, das sonst immer verlängert werden muss – durch die veränderte Wiederholung (Herbert Wernicke), die lakonische Alleinausstellung (Peter Konwitschny), die Ergänzung durch andere Einakter, zum Beispiel Poulencs „La vox humaine“ (Krzysztof Warlikowski) oder Schönbergs „Erwartung“ (Götz Friedrich, Robert Wilson), eher schräg durch Schubert-Klaviermusik (Andrea Breth) oder gar mit Peter Eötvös’ extra dazu komponiertem Ehedrama „Senza sangue“.
Hier aber, in Wuppertal, bedient der eine Hauptdarsteller ein über die Bühne geschobenes Tonband, hält es an, spult – vor allem in der ersten Hälfte – insistent zurück, beginnt immer wieder von Neuem, reagiert darauf, aber oft auch szenisch anders. Hören sie zu, dieses ineinander verstrickte Paar, plus die elf Männer und zehn Frauen, die sich nach etwa 15 Minuten dazugesellen? Oder spielen Sie da ihren ganz eigenen „Blaubart“?
Es geht um Wahrheit, um eheliches Vertrauen, eben um Mann und Frau. In der Oper will Judith es wissen, sie fragt und fragt, quetscht aus ihrem neuen Mann alle Geheimnisse und Besitztümer, die er hinter sieben Türen verborgen hält, wobei die Musik immer machtvoller, heller und orgiastischer wird. Die letzte Tür offenbart seine anderen, für totgehaltenen Frauen. Das Vertrauen ist zerstört, Blaubarts Macht gebrochen, aber auch die Beziehung am Ende. Judith sitzt allein da, eine Zukunft gibt es nicht.
Hier schleichen erst einmal die beiden namenlosen Protagonisten in den vom schon 1980 verstorbenen Pina-Bausch-Gefährten Rolf Borzik gebauten Raum: ein heruntergekommenes, abgewohntes, ausgeräumtes, schmutzigweißes Zimmer, verkanntet, drei Fenster, zwei Türen, durch die nie jemand herein oder heraustritt. Auf dem Boden raschelt trockenes Laub, der via eines Deckenkabels und einer Rolle auf der ganzen Spielfläche mühelos verschwenkbare, heute total altmodisch anmutende, ja dinosaurierhafte Tonbandwagen, der so auch die Schallrichtung ändert, steht bereit. Lauernd tasten sich die zwei herein, sie in einem fast herunterrutschenden roten Kleid, er in einem feldgrauen Mantel. Oleg Stepanov und Tsai-Chin Yu, eine von aktuell drei Besetzungen, spielen das in der Premiere mit nie nachlassender Intensität in einer dieser wenigen Pina Bausch-Protagonistenrollen.
Kürzlich war – erstmals bei einer fremden Kompanie – beim Dresdner Semperoper Ballett die „Iphigenie auf Tauris“ zu sehen, 1973, im ersten Bausch-Jahr in Wuppertal uraufgeführt. Hier, in Glucks fast um die Hälfte gekürzter Oper mit starken Ballettanteil, stehen Tänzer wie Sänger auf der Bühne, nur der Chor sitzt im Graben, da sind die Ahnen des deutschen Ausdruckstanzes und auch Martha Graham noch stark spürbar. Die Bausch, die wir kennen, ist in dieser wirklichen, durchaus auch heute noch beeindruckend strengen Choreografie, nur in Andeutungen spürbar. Und es ist – ein Stück der Frauen: Iphigenies, der Priesterin, Klytemnästras, Dianas. König Thoas hat wenig zu tun, Bruder Orest und sein Freund Pylades wirken inniger, weicher, als die Damen.
Das ist im „Blaubart“ ganz anders. Yu liegt am Boden, Stepanov sitzt da, Herr über die Musik, kuschelt und krümmt sich aber auch auf dem Bauch seiner, der Frau. Und ist im nächsten Moment brutal zu ihr. Dann kommt die Gruppe hinzu, die Männer in einer sinistren Polonaise, die Frauen, die immer wieder ihre seltsam kostümhaften Kleider fallen lassen, meist unter ihren offenen Haaren verborgen. Das wird, je mehr Judith, die drauf besteht, Blaubart zu lieben, gerade deshalb nach Erkenntnis über ihn sucht, zusehens aggressiver. Der Tanz greift immer mehr um sich, zieht Kreise, die Paare verschlingen und verkeilen sich, im Gesellschaftstanz, aber eben auch im Geschlechterkampf – bis die Frauen buchstäblich die Wände hochgehen, die Füße in kleinen Klappen.
Ein frühes Bild einer Dystopie samt Kissenschlacht, zu abstrakt aufgefassten, aber eben auch durch ihre deutsche Textfassung sehr konkret gespiegelten klassischen Bartók-Aufnahme von 1958 mit Dietrich Fischer-Dieskau und Hertha Töpper unter Ferenc Fricsay. Es wird das letzte Pina-Bausch-Stück mit erkennbaren Rollen sein, das letzte mit einer klassischen Musikvorlage, das finale nach einem bekannten Stoff. Denn hier hat sie ihre Sprache gefunden, es wird auch schon ein wenig gesprochen, ihr nächstes Werk ist dann Programm: „Komm tanz mit mir“. Dieses einzigartige choreographische Theater aus Improvisation, Spiel, Sprechen, Tanzen zur einer süffigen Musikcollage, hier steht es vor der Tür, mit den typischen Bausch-Momenten, wenn sich die Frauen an Blaubart kuscheln und „danke, danke“ schnurren. Oder wenn die Männer in bunten Slips machomäßig lächerlich an der Rampe posieren. Sogar die „Reise nach Jerusalem“ wird erstmals gespielt. Aber noch einmal misst sich dieses Tanztheater in the making an einem Klassiker. Und besteht.
Weil Pina Bausch die Vorlage als Material ernst nimmt, sie aufbricht und intensiviert. Das blumig symbolistische Libretto aus den Zwanzigerjahren abstrakt, nüchtern, kalt und doch grandios klar wie im Labor seziert, auf seine Essenz reduziert, kommentiert, choreografiert. Man rennt gegen die Wände – aber mit und zu Bartók. Eminent musikalisch übrigens, und trotzdem abstrakt, nie nacherzählend. Am Ende, in der letzten halben Stunde, wenn – das Saallicht ist angegangen – Blaubart über die plötzlich passive Judith, die Kleider der anderen Frauen zieht, sie in einem Kokon aus Stoff dingesfest macht und ruhig stellt, dann aber die Bewegungslose über die Bühne zieht, bis sie an der hinteren Tür enden, während die Gruppe immer wieder in Posen einfriert, wenn Blaubart klatscht, dann läuft die Musik soghaft durch, verdichten und überlagern sich Klänge, Aktionen und Bewegungen. Judith und Blaubart haben einander verloren, die Bausch-Paare aber werden, immer neu gemischt, sich streiten und weitertanzen.
Nachher, bei der Premierenfeier, da standen sie da, die vier Einstudierer, Jan Minarik, der damals den Blaubart getanzt hatte, Beatrice Libonati, Barbara Kaufmann und Heléna Pikon. Alt gewordenen Tanztheaterheroen. Ganz im Gegensatz zu der energetischen, radikal jungen Besetzung, fast die Hälfte Folkwang-Schüler, die sich mit Furor die Bühne und die Bausch erobern. Keinen Moment ist dieser „Blaubart“ alt geworden. Die 43 Jahre Lebenszeit stehen ihm ganz wunderbar, frischer denn je. Und am Ende, da läuft lakonisch die abgespielte Tonbandspule schlackernd leer. Und eine nackte Kinderpuppe schaut zu.
Mal sehen, wie gleich diesen Samstag an der Bayerischen Staatsoper die gern mit Kameras arbeitende Katie Mitchell mit dem „Blaubart“ umgehen wird. So puristisch macht sie es jedenfalls nicht. Sie schaltet Bartóks Konzert für Orchester dem Einakter vor, macht „Judith – ein Opernthriller“ daraus. Die Pina-Bausch-Latte aber, sie liegt sehr weit oben.
Der Beitrag Wuppertaler Frauen und Männer passen nicht zueinander: Endlich darf Pina Bauschs radikaler „Blaubart“ von 1977 wieder gespielt werden erschien zuerst auf Brugs Klassiker.