Händels „Tolomeo“, 1728 als letzte für die von der „Beggar’s Opera“ in die Pleite getriebene Royal Academy of Music komponierte Premiere, ist eine harte Theaternuss. Es musste schnell gehen, Flöten und Oboe, keine Bläser, teilweise sehr ausgedünnter Streichersatz ergeben eine ziemlich gleichförmige, meist traurige Musikbegleitung mit vielen Lamenti, wenigen, meist kommoden Racheausbrüchen. Im mediterranen Zypern angesiedelt, ergeht man sich in viel Naturmetaphorik, denn sonst passiert fast gar nichts: Cleopatra (eine Urahnin der Cäsar-Geliebten) hat ihren Erstgeborenen Tolomeo vertrieben, der – wie am selben Ort auch seine tot geglaubte Braut Seleuce – als Hirte sein Dasein fristet. Fast zwei Akte lang irren die Liebenden aneinander vorbei oder erkennen sich nicht. Tolomeos jüngerer Bruder Alessandro schlägt – Opernlibrettologik – ebenfalls schiffsbrüchig am Gestade auf und verliebt sich sofort in die dortige Herrscherschwester Elisa, die wiederum Tolomeo liebt. Und hinter Seleuce ist deren Bruder, König Arsape her, der wiederum auf den enttarnten Tolomeo tödlich eifersüchtig ist. Das muss man, obwohl mit einer Spieldauer von unter drei Stunden eher kurz gehalten, irgendwie szenisch aufpeppen. Was zum Auftakt der diesjährigen Karlsruher Händel-Festspiele gar nicht gelungen ist. Und obwohl hier letztmalig die Starkombination Senesino-Francesca Cuzzoni-Faustina Bordoni musikalisch virtuose Vokaltriumphe feierte, war es auch sängerisch nicht auf dem üblichen Karlsruhe-Niveau.
Zwei Schattierungen von Grau, damit kommt das einfallslose Einheitsbühnenbild eines flachen, breitgezogenen Salon-Paravents mit elf Fenstern von Adeline Caron aus. Dahinter gibt es Video-Wolken und zunehmend stürmische –Wogen. Sieht das Libretto einen Wald vor, scheint auch dieser auf dem Meeresboden angesiedelt, samt 35 sich als seltsame Lichtquellen herabsenkenden Quallen (!). In der Mitte liegt ein Bassin, drei Pflanzenkübel samt Inhalt haben sich ebenfalls für die Loriot-Farbe Steingrau entschieden. Anfangs gibt es noch Möbel, weiße Rosen und irgendwelche Schälchen werden drapiert, zudem stehen ein paar Statisten sinnlos dekorativ herum.
Benjamin Lazars einzige Regieidee ermüdet schon schnell während der ersten zwei, pausenlos gegebenen Akte: Alle fünf Protagonisten sind fast immer anwesend, sie sollen irgendwie traumtänzerisch und somnambul, weil schwer psychotisch gestört über die Szene wandeln. Was höchstens manieriert und albern wirkt. Ohne jede Spannung dödelt das schlaffig dahin, fade und uninspiriert sind auch die ausgesprochen hässlichen Kostüme. Gut, es kann nicht immer so komisch und flamboyant zugehen, wie im von Max Emanuel Cencic als schräge, doch auch anrührenden Las-Vegas-Klamotte inszenierten „Serse“, dem dieses Jahr wieder aufgenommenem Erfolgsknaller von 2019. Aber muss es gleich so nach ödem Schwarzbrot mümmeln?
Das rettet sich nämlich leider auch musikalisch nicht. Obwohl der hier erstmals die frisch und subtil musizierenden Deutschen Händel-Solisten anleitende Francesco Maria Sardelli eine breite Varianz sentimentaler wie nachdenklicher Stimmungen auffächert. Aber es fehlen, bei aller Köstlichkeit der zart larmoyanten Affekte, der Partitur einfach die Kontraste. Das lähmt selbst eine vokale Spitzenleistung wie die von Jakub Jozef Orlinski in der Titelrolle. Dessen Tolomeo brilliert in sechs Arien und zwei Duetten (eines mit feinsinnigen Echoeffekten) mit Kraft und Finesse seines virilen vollen Altus-Timbres; zu dem freilich hier sich steigernde Durchschlagskraft und sichere Attacke kommen. Schön, zu verfolgen, wie sich dieses Talent kontinuierlich entwickelt und auch als Darsteller steigert. Und in Karlsruhe, dem deutschen Hotspot frisch entschlüpfter Contertenöre, wurde er als jüngste Entdeckung auf dem hier üblichen Silbertablett serviert.
Doch als Solonummer ist selbst das nicht den ganzen Opernabend durchzuhalten. Louise Keménys Seleuce bleibt neben ihm eine ewig jammernde Sopransalzsäule, blässlich und eindimensional, Eléonore Pancrazy (Eliza), mit einem tantigen Glitzerfummel bestraft, spreizt sich schrill aus und macht so gar keine Hörfreude. Solide der mit wenigen Soli bedachte chinesische Counter Meili Li als Alessandro, dem die Regie so gar keine Spielanregung liefert. Einzige szenischer Widerpart für den sehr alleingelassenen, weitgehend mit sich selbst ringenden Orlinski, ist so der solid versatile, koloratursichere Bassbariton Morgan Pearse; dessen Stimme freilich etwas monochrom tönt. Nächstes Jahr geht es in Karlsruhe ebenfalls eher konzentriert und klein weiter: Mit dem dramatischen Oratorium „Hercules“, das einmal mehr Floris Visser inszeniert. Lars Ulrik Mortensen dirigiert, und Ann Hallenberg ist als Dejanira aufgeboten. Hoffen wir also auf 2021.
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