Lucky Laura. An der Staatsoper Hannover ist Intendantin Laura Berman im Anfängerglück. 93 Prozent Auslastung im an sich lausigen Januar, fünf Opern- und eben die dritte Tanzpremiere bestens über die Bühne gebracht. Das kann sich sehen und hören lassen. Wie gerade eben auch „3 Generationen“, der jüngsten triple bill-Tanzabend, der zwei Uraufführungen präsentiert: „Rise“ des in Finnland lebenden, 30 Jahre alten Türken Emrecan Tanis sowie als erste Neukreation an der Leine vom 47-jährigen Ballettchef Marco Goecke „Kiss a Crow“ – und in die Mitte wird der 87 Jahre junge Altmeister Hans van Manen mit seinem kostbaren „Concertante“ geehrt. Der, für Goecke ein wichtiger Fixpunkt, lässt es sich nicht nehmen, seine Verbeugung persönlich entgegenzunehmen. Und so scheint klar zu sein: Der durchaus schwierige, sich gern hinter Sonnenbrille, Pelzkragen und Hund versteckende Goecke ist hier angekommen – nach einem ersten Dreiteiler „Beginning“ mit Übernahmen (Andonis Foniadakis, Medhi Walerski und ihm selbst) und seinem Abendfüller-Hit „Nijinski“, diesmal erweitert und mit Orchester. Die ganz große Herausforderung steigt freilich im April mit seinem fünften neuen Abendfüller „Der Liebhaber“ nach Marguerite Duras.
Und so markierte der höchst beifällig aufgenommene Abend jetzt einen sehr guten Zwischenstand. Die 28-köpfige Truppe, zehn, acht und neun waren in den drei Werken zu sehen, wirkt energetisch und divers, kraftvoll wie geschmeidig, individuell und doch als Kompagnie.
Brust und Beine. Emrecan Tanis zeigt, während sein Elektrosundtrack wummert, gleich, um was es im Tanz heute nicht selten geht. Ein Macker, den Oberkörper nur mit einem Transparentstoff mehr ent- als verhüllt, fährt im Scheinwerferspot aus dem Orchestergraben, in Pose von Anfang an. Von oben senken sich mehrere Damenbeine, der Oberkörper bleibt verborgen. Projektionspixel zerstieben, einer rennt sich langsam verjüngende Räume lang. Die Perspektive wechselt. Auf der Bühne ist jetzt die komplette Truppe als kompakte Kompanie unterwegs, marschierend, die Arme schmeißend, den Rumpf beugend. Wie Kampfsport wirkt das.
Neuerlich Szenenwechsel. Eine gekanntete weiße Wand schiebt sich nach vorn, dort ergehen sich der Macker (Maurus Gauthier), ein Mann und zwei Frauen, fast wie Apoll mit seinen drei Musen; die anderen sechs sind als Lemuren unter Scheinwerfer ruhiggestellt. Es gehe ihm um das Prinzip des Anführers, der andere verführt, hat Tanis verlautet. Und hier zeigt er, was daraus erfolgt. Die links sind bewegungslos, rechts wird die Aufmerksamkeit willkürlich verteilt, irgendwann krabbelt der Boss über aus der Wand sich herausschiebende Stufen und verschwindet hinter einer Klappe. Kinderspiele? Könnte auch ernster sein. Das Sextett wird vom Alphatier im Trench motiviert, doch plötzlich löst der sich zu geistlichen Klängen in Rauch auf und versinkt. Ein Paar tanzt innig ein letztes Duo zu einer Geigenmelodie, dann sind alle allein und verlassen. Aus dem Uptempo wurde Stillstand. Eine atmosphäresatte Fallstudie.
Einfach nur schön und elegant: die stets von rechts und links zwischen Keso Dekkers geschlitzten Hängern reich und raus wuschenden vier Paare in Hans van Manens „Concertante“. Zur bisweilen schrill neoklassischen Petite Symphonie Frank Martins (leider nur vom Band) formt der grandiose Niederländer in seinem 1994 uraufgeführten Stück ganz locker und zwanglos seine immer neuen Konstellationen gemischter Akteure in grünen und blauen Streifenanzügen. Frauen und Männer bedienen sich hier oftmals des gleichen schlackenlos klaren Bewegungsmaterials, Hierarchien und Erwartungshaltungen scheinen aufgehoben, alles ist sanftmütig und hochästhetisch im Fluss. Das muss nichts mehr bewiesen werden, neugierig bastelt van Manen an immer neuen Variablen kinetischen Möglichkeiten.
Entspannt kommt dann auch der neue Goecke als ebenfalls kreischig bejubeltes Finale daher: fünf dunkle, aber auch intensiv melodischen Balladen von Kate Bush mit Fiddle und großem Klangarrangement. Es raucht unablässig, zwei Türen schlagen am Anfang und am Ende zu, aber zwischendurch hellt das Zwielicht auf. So wie sich die anfangs isoliert und zwanghaft eng aus der Körpermitte heraus bewegungsflatternden Akteure in übergroß schwarzen Anzügen mählich entspannen, erst ist es nur einer, weitere kommen peu á peu dazu. Schließlich markiert der albinoblonde, hemdlose Adam Rusell-Jones so etwas wie das Zentrum der Konstellationen. Um ihn scharen sich die anderen, er freilich agiert mit großen Armattitüden, entspannt, locker, langsam.
Das Tempo ist deutlich gesetzter als sonst bei Marco Goecke, die vertrillerte Jodel-Bardin Kate Bush singt vom Abschiednehmen und einem Blick in den Spiegel, um Erkenntnis, die im Schoß sitzt, perkussiv vorangetrieben, sie träumt von Schafen, fällt und tanzt sinnlich wie eine Schneeflocke, und verlangt schließlich „Get Out of my House“. Goecke hat die Songs , aus den Achzigern, aber auch einer von 2011, in der Plattensammlung seiner Schwester gefunden. Familiäres mischt sich mit Sentimentalem, irgendwann tragen alle sang swingende Fransenhosen. Wir schauen dem typischen Goecke Touch in seiner x-ten-Varianz und Verformung genießerisch zu. Denn so viele Chreographen sind es ja nicht, die eine sofortige Erkennungsmarke besitzen. Hannover hat jetzt jedenfalls einen davon.
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