„Natürlich habe ich gehofft, dass Jiří Bělohlávek noch viele weitere fruchtbare Jahre bei der Tschechischen Philharmonie haben würde, aber es hat nicht sollen sein. Jetzt sitze ich hier – gegen meine Intentionen, nach meiner Chefzeit in Köln frei zu sein und zu bleiben, in diesem traditionsgesättigten Zimmer als Chef der dieses wunderbaren Orchesters. Aber es war eine Verpflichtung. Die Musiker haben mich eine Woche nach Jiřís Tod gefragt, ja gebeten, was sollte ich machen? ,Sie holen das Beste aus uns heraus, und wir genießen es so sehr, mit ihnen Musik zu machen. Wir wollen, dass sie unser Papa sind‘, das haben Sie gesagt. Was also sollt ich machen, wenn das 120 Menschen sich erbitten, die sich als Waisen verstehen? Es war eine freundliche Nötigung. Aber ich habe sie gern angenommen.“ Sagt Semyon Bychkov so reflektiert wie zufrieden nach einer erfolgreichen Probe im Rudolfinum mit Blick auf die Moldau und Hradschin in der Nachmittagssonne. Und man kann den inzwischen 67-jährigen Russen verstehen. Seit Oktober 2017 amtiert er nun hier, gerade hat er auch einen guten Lauf in Bayreuth, wo ihm Katharina Wagner nach der Übernahme des „Parsifal“ für die nächsten Jahre sogar eine Premiere angeboten hat. Aber die Tschechische Philharmonie, die dieser Tage wieder mal auf Deutschland-Tournee ist, sie nimmt doch einen sehr besonderen Platz für diesen erfahrenen Dirigenten ein.
„Prag ist Schönheit, so wie auch St. Petersburg, wo ich geboren bin“, sinniert Bychkov. „Ich bin sensibel dafür. Ich habe das Orchester nur einmal 1990 dirigiert. Zu Dvorak habe ich natürlich immer eine enge Beziehung gehabt, und ich erinnere mich auch noch, als ich mit 15 Jahren aus meinen Sommerferien aus der Krim heimkam, da erschien auf den elektronischen Wandzeitungen eine Nachricht, dass die tschechoslowakischen Brüder die UdSSR um „bewaffnete Hilfe“ gebeten hätten. Das hat sich mir sehr eingeprägt. Auch die traurigen Augen einer Lehrerin, die darüber nur Scham empfand. Ich habe dieses kleine Land, das immer von anderen Großen und Mächtigen regiert wurde, bis auf jene 20 Jahre nach 1918, im Rahmen meines Tschaikowsky-Projekt immer besser kennengelernt.
Ich habe aber auch musikalisch mit diesem Orchester viel wiederentdeckt und in Detail neu vermessen bei unseren Tschaikowsky-Projekt, das auch als CD-Box viel Furore gemacht hat. Die Tschechische Philharmonie ist ein neue Ausdrucksinstrument für mich. Das ich gern nutze. Denn wie hat Harnoncourt gesagt: Ohne die Musiker bin ich nur ein bisschen Staub. Die Tschechen sind sowohl Slawen auch sehr nach Westeuropa zugeneigt. Genau das zeichnet Tschaikowskys Musik aus und deshalb wird er hier so geliebt. Und dieses Orchester ist auch deshalb so gut, weil es so gute nationale Musik gibt.“
Seymon Bchkov erzählt, dass er oft viel mehr probt, besonders wenn bisher in Prag kaum oder selten aufgeführte Musik auf dem Programm steht. Immer öfter nämlich. So wie kürzlich Luciano Berios Rendering. Oder zuletzt eine komplexe „Double Tripple Bill“: erst das funkensprühende Konzert für zwei Streichorchester und Klavier von Boheslav Martinu in dem Tschechiens bester Pianist Ivo Kahánek brilliert; dann – es gibt kaum tschechische Klavierduos – das selbst hier selten zu hörende Martinu-Konzert für zwei Klaviere, ein kraftvoll dynamisches Stück, das Bychkovs Frau Marielle Labèque mit Schwester Katja freilich in gewohnter Eleganz vorträgt.
Und nach der zweiten Pause (es gibt viele Umbauten auf dem Podium) folgt, erstmals in dem akustisch wunderfeinen Badwannensaal des Rudolfinums die zweite Sinfonie von Henri Dutilleux „Le Double“, die auch zwei Orchestereinheiten aufbietet. Sensitiv reagiert dieses Spitzenorchester auf dessen französischen Esprit, bleibt leicht auch wenn es kompliziert wird, immer klingt es glorios, satt und doch transparent. Fein, wie Bychkov hier dem Signaturton der Tschechen neue Elemente hinzufügt. Und neues Repertoire, tönende Frischzellenkur, als nächstes steht Detlef Glanert an.
„Ja, es ist ein gutes Team hier“, lobt der Weltgewandte sein Orchester. „Aber wir wollen mehr, müssen den Horizont erweitern. Wir haben 14 Uraufführungen bestellt, elf davon bei tschechischen Komponisten. In Tschechien ist viel Kreativität. Und ich möchte auch einige Komponisten der bleiern kommunistischen Nachkriegszeit wiederentdecken, zum Beispiel Miloslav Kabeláč, Viktor Kalabis oder Luboš Fišer.
Wir machen jetzt nach dem Tschaikowsy-Projekt einen Mahler-Zyklus für die Decca. Die 2. Sinfonie ist schon aufgenommen. Der letzte Zyklus wurde unter Vaclav Neumann für Supraphon eingespielt. Schließlich ist Gustav Mahler in diesem Land geboren, dieses Orchester hat die 7. Sinfonie unter ihm uraufgeführt.
Ich habe Gespräche über Kooperationen mit dem Nationaltheater geführt, und wir müssen mehr Oper spielen, das ist immens wichtig wegen der Stilistik und der Flexibilität. Deswegen ist es schön, dass jetzt „Káťa Kabanová“ konzertant kommt und auch in Hamburg zu hören ist. Die dirigiert, wie auch die aktuelle Tournee, Jakub Hrůša, für den ich nur höchsten Respekt habe, er ist so ein natürlicher Musiker. Ich will hier nur die besten Kollegen. Deshalb ist es wunderbar, dass er und Tomáš Netopil als Erste Gastdirigenten verpflichtet sind. Ich will das Orchester im bestmöglichen Zustand meinem Nachfolger hinterlassen.
Ich will zudem, dass sich das Orchester mit unterschiedlicher Musik anders anhört, so wie mein Freund Daniel Day-Lewis in jeder Rolle sich komplett verändert. Mein Vertrag läuft auf fünf Jahre, aber ich sehe das ganz locker. Denn ich wurde nicht ernannt, sondern erwählt.“
Aber schon Jiří Bělohlávek hatte seit seiner Rückkehr 2012 in Prag ganze Arbeit geleistet. Das zerrissene und vernachlässigte Orchester wurde von ihm bereinigt und glanzpoliert. Es konnte wieder an den Ruhm der großen, diesen besonderen Klangkörper prägenden Namen von Karel Ančerl, Rafael Kubelík und Václav Talich anknüpfen. Bělohlávek handelte zudem einen erstaunlichen Plattenvertrag mit der Decca aus und legte gleich zu Anfang seiner Amtszeit mit einer Acht-CD-Box ein Herzstück des Repertoires in neuer, klangfeiner, packender, beifällig aufgenommener, natürlich im schimmernd klingenden Rudolfinum produzierter Interpretation vor: alle neun Dvorak-Sinfonien plus die Konzerte. Das war mutig, aber erfolgreich. Plötzlich war die Tschechische Philharmonie wieder ein Schmuckstück.
Und inzwischen tourt man wieder verstärkt, regional, national, international. In Wien hat man eine Residenz im Musikverein, vor Weihnachten wurde dort der Tschaikowsky-Zyklus unter Bychkov bewundert, inzwischen spielt man auch wieder in der New Yorker Carnegie Hall. Und besonders in England liebt man die Tschechische Philharmonie.
Aktuelle Tour der Tschechischen Philharmonie: 3. März Frankfurt, 4. Köln, 6. Stuttgart, 7. Friedrichhafen, 8. Freiburg. Jakub Hrůša dirigiert Josef Suk, Leoš Janáček sowie Antonín Dvořáks Cellokonzert mit Sol Gabetta. Am 20. und 21. April gastiert er mit dem Orchester in der Hamburger Elbphilharmonie, zunächst mit dem März-Programm (Solist: Daniel Müller-Schott), zudem mit einer konzertanten „Káťa Kabanová“ von Leoš Janáček. Es singen Kateřina Kněžíková, Aleš Briscein, Jaroslav Březina, Eva Urbanová.
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