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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Schickt doch den Clown herein: Stephen Sondheim wird 90 – aber der Broadway ist dunkel

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I’m still here. Es war am 4. April 1971, da hatte im Winter Garden am Broadway „Follies“ Premiere. Eine bitterböse Abrechnung mit der alten, glamourösen, längst nostalgischen Musical-Welt. In einer Zeit, in der Pop und Rock die Shows und Filmmusiken als Vorreiter des Populären abgelöst hatten, Musical und Vaudeville in die zweite Reihe traten – auch weil George Gershwin und Cole Porter, Kurt Weill und Jerome Kern schon tot waren, Richard Rodgers überholt und Irvin Berlin in Rente –, da kamen sie noch einmal zusammen: die „Follies“, die Revuegirls des großen Ziegfeld, der Inbegriff von Schönheit, Aura und dem Willen zur Kunst. Da standen sie in ihrem ehemaligen Theater, zu alten Schabracken gewandelte beautiful girls im unansehnlich gewordenen Bühnenkasten, der einem Parkhaus weichen wird, und sangen trotzig: „Wir sind noch da!“ 49 Jahre später, an seinem 90. Geburtstag, ist Stephen Sondheim, der „Follies“-Komponist wie -Textautor, der hier den Abgesang einer Ära inszeniert hat, selbst in der seltsamen Lage zu sagen: „I’m still here.“ Er tut das wehmutsvoll, enttäuscht und nur wenig trotzig. Und gelassen.  Und auch wenn gerade infolge des Corona-Virus selbst der Broadway dunkel daliegt, nicht spielt. Er ist noch da, auch wenn er lange schon keinen Hit mehr hatte. Es gibt nach dem Ende des unermüdlichen Duo John Kander und Fred Ebb („Cabaret“, „Chicago“, „Kiss of the Spiderwoman“, „Besuch der alten Dame“) keinen Komponisten mehr, der eine so lange Reihe von Werken für New Yorks Vergnügungsmeile geschrieben hat, der in fast jedem seiner 16 eigenständigen Bühnenstücke das Musical neu erfunden, ihm Komplexität, Frische, Tiefe, Relevanz gegeben hat.

Die junge Komponisten-Generation fasst heute schwer Fuß, sieht sich im Würgegriff zwischen durch immer höheren bühnentechnischen Aufwand explodierenden Produktionskosten für Novitäten und dem Willen zu gut abgesicherten Revivals meist konventioneller Erfolgsstücke oder dem Biografischen wie Jukebox-Musical, das nur große Songkataloge von Abba bis Supremes, Beatles bis Michael Jackson ausschlachtet. So entsteht keine Kontinuität, so reißt Geschichte ab. Geschichte, die vielleicht beendet ist. Kein Wunder, dass sogar ein Leuchtturm wie Sondheim in seinem biblischen Alter melancholisch wird und länger schon nur noch resignativ funzelt.

Dabei kann er, der lange nur ein geistvoller Musiktheaterspaß für die Eingeweihten war, heute auf doch weitreichendere Erfolge verweisen. Seine Stücke werden weltweit immer beliebter, „Sweeny Todd“ oder „A little Night Music“ sind längst in den Opernhäusern angekommen, werden mit und für Stars wie Bryn Terfel oder Dagmar Manzel inszeniert, und immer hin wurde die blutige Barbier-Geschichte auch von Tim Burton verfilmt. Und sein ironisches Märchengewusel „Into the Woods“ hat Disney mit Meryl Streep als Fantasy-Musical in die Kinos gebracht. Selbst in Europa gehören die abgründigen, abgefeimten Sondheim-Klassiker inzwischen zum Musical-Stammrepertoire der Stadttheater. Erst kürzlich gab es an der Staatsoperette Dresden sogar eine so glamouröse wie klug eingeostete Neuinsznierung von „Follies“, die ganz wunderbar funktionierte und sich auf ihre Art nicht hinter dem herrlichen Revial am Londoner National Theatre verstecken brauchte.

The little things you do together. Das war einmal anders. In jenem Winter Garden, in dem bald – die „Follies“ sind längst der Staub von vorgestern – nach 18 Jahren und 7.400 Vorstellungen Andrew Lloyd Webbers „Cats“ zum letzten Mal die Krallen zeigen, begann die Weltkarriere des Stephen Sondheim, am 22. März 1930 in New York als Sohn jüdischer Eltern geboren, die beide in der Modebranche arbeiteten und sich trennten, als ihr einziger Sohn zehn Jahre alt war. Zu Ersatzeltern wurden ihm Dorothy und Oscar Hammerstein. Der versierte Texter, der „Showboat“ und die späten Richard-Rodgers-Erfolge auf seinem Habenkonto verzeichnete, brachte Sondheim bei, was er wissen musste, und er vermittelte den Kontakt zu Leonard Bernstein, Jerome Robbins und dem, was später als „West Side Story“ trotz bescheidener 732 Vorstellungen von 1957 an im Winter Garden seinen Siegeszug um die Bühnen der Welt antrat.

Stephen Sondheim hatte damals die witzigen, einprägsamen Texte geschrieben, ähnlich wie er es auch später noch für Jule Stynes immer wieder gern von reiferen Stars gebrachtes Ethel-Merman-Vehikel „Gipsy“, für Rodgers‘ „Do I hear a waltz?“ und für eine der Neufassungen von „Candide“, Bernsteins Schmerzenskind nach Voltaire, tat. Doch natürlich lag sein Ehrgeiz bei eigenen Shows, für die er, gemäß dem Vorbild Cole Porter, immer als Textdichter und Komponist zeichnete. Worte und Klänge, für ihn ist das eine untrennbare Einheit, die seine Musik so unverwechselbar macht. Und deshalb ist es das Dümmste, wenn man diesen Universalisten heute gern erstmal als „West Side Story“-Texter bezeichnet. Deren Broadway-Revival von Ivo van Hove und Anne Teresa de Keersmaeker gerade auch brach liegt.

Und doch hat Chita Riviera, für die er 1957 als Anita „America“ schrieb, über seine Songs gesagt: „Sie sind wie ein fantastisches Steak.“ Die schrill-klamaukige, dabei intelligente Römerparodie nach Plautus „A Funny Thing Happend On the Way To the Forum“ (1962) markierte einen ersten Schritt zum Ruhm und gehört heute zu seinen meistgespielten Stücken, die Politsatire „Anyone Can Whistle“ (1964) war dagegen ein herber Rückschlag. „Evening Primrose“ (1966) wurde ein Fernsehmusical mit Anthony Perkins über eine geheime Vereinigung von Leuten, die in einem Kaufhaus leben.

 Dann kam 1970, gemeinsam mit seinem Produzenten, Regisseur und Choreografen Harold Prince (der die meisten seiner Shows betreute, doch 1981, nach einem Krach, ausgerechnet zu Lloyd Webber überlief), der Durchbruch mit „Company“: Singende Großstadtneurotiker, Ehepaare im Geschlechterkrieg, wie bei Edward Albee. Die Geburt des „Konzept-Musicals“, bei dem alles einer Idee untergeordnet ist. In “Company”, mit seiner seltsam uneindeutig metrosexuellen Hauptfigur, die für jüngste Wiederaufnahmen sogar erfolgreich weiblich gegendert wurde, finden sich dann so wunderbare – böse … Verse wie: “The concerts you enjoy together / neighbours you annoy together / children you destroy together.” Er selbst hatte übrigens erst mit 40 Jahren sein Coming Out. Sein Lebensgefährte war zeitweilig der Dramatiker Peter Jones.

Putting it together. Viele Sondheim-Songs klingen wie desillusionistische Lyrik der feinsten Sorte. Kritiker mögen solches kalt und zu sophisticated nennen, nie aber erlaubte sich Stephen Sondheim das oberflächlich rosa Gewölk, das für gemeinhin als Musical gilt und doch nur eine schwächelnde Schwester der Operette vorstellt. Das aber war und ist auch sein Problem: Obwohl vielfach ausgezeichnet, vom „Oscar“ über den Tony bis hin zum Pulitzer Preis, musste Stephen Sondheim damit leben, dass seine Stücke von musical-desinteressierten Intellektuellen nicht wahrgenommen und vom gewöhnlichen Publikum als zu schwer und zu verwirrend empfunden werden. Was ihn nicht davon abhielt, trotz einigen Flops, immer neue Anläufe zu unternehmen, das Genre zu revolutionieren, vom Ruch des nur Geläufigen zu befreien. „A little Night Music“ (1973) nach Ingmar Bergmans Film „Das Lächeln einer Sommernacht“ wurde zur Apotheose des Valse triste und Wiedergeburt der Operette, „Pacific Ouvertures“ (1976), das die von den Amerikanern erzwungene Öffnung Japans zur Welt zum Thema hat, spielt mit den Mittel des Kabuki-Theaters.

„Sweeny Todd“ (1979), die böse Geschichte des dämonischen Barbiers aus der Fleet Street, der mit dem Rasiermesser metzelt und seine Opfer von seiner Komplizin zu Fleischpasteten verarbeiten lässt, ist ein wildes Kaleidoskop aus epischem Theater, Jakobinertragödie, Burleske, Märchen, viktorianischem Vaudeville, Weill, Berg und Britten. „Merrily We Roll Along“ (1981) rollt seine Handlung von rückwärts ab, „Sunday In the Park With George“ (1984) lässt George Seurrat in sein pointilistisches Bild „Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte“ treten. „Into the Woods“ (1986) bringt Grimms Märchen als Bettelheim-Kommentar auf die Bühne, bis Rotkäppchen Amok läuft.

„Assassins“ (1991), Sondheims persönlicher Favorit, führt amerikanische Präsidentenmörder auf einem Rummelplatz vor: „Autor John Weidman und ich wussten, was wir machen wollten und haben es getan. So bewerte ich Stücke“, sagte Sondheim. „Ich schaue mir ,Assassins‘ an und es erfüllt mit wenigen Ausnahmen alle meine Erwartungen.“ Das melancholisch kammerspielartige „Passion“ (1994), hat einen von Ettore Scola verfilmten Briefroman um eine große, unerfüllte Liebe zum Vorbild.

There won’t be Trumpets. Diese letzten beiden Stücke liefen nur noch Off-Broadway, kein Produzent wollte mehr – abgesehen von den alten Krachern sowie dem aufgewärmten Uni-Ulk nach Aristophanes „The Frogs“ von 1974 – einen neuen Sondheim am echten Broadway wagen. Weil er kaum Hits schreibt, so meist das Totschlag-Argument. Doch was sind Hits? Die klebrige Musiksoße eines Lloyd Webber, die meist schamlos geklaut ist und dann stundenlang wiedergekäut wird? Bei Sondheim regiert vor allem Harmonie, nicht Rhythmus. Der Schüler des Zwölftoners Milton Babbitt arbeitet mit vielfachen Versatzstücken, kombiniert neu, erinnert sich, setzt anders zusammen, verschachtelt, lässt Motive sich in ständigen Ostinati überlappen. Seine Stücke sind große Puzzles –Sondheim selbst ist ein passionierter Spielesammler –, in denen man selten ein Teil, einen Hit, einen Schlager isolieren kann. Und er ist keiner, dem das Komponieren leicht fällt: „Jedes Mal ist es, als ob man Zahnpaste aus einer leeren Tube drücken will.“

Send in the Clowns. Und doch hat Stephen Sondheim nicht nur diesen einen Evergreen komponiert. Frank Sinatra und Liza Minnelli, Shirley Bassey und Barbra Streisand singen seine nicht unkomplizierten Lieder. Selbst Madonna brauchte einen Monat, bis sie die trickreichen Songs für den Film „Dick Tracy“ konnte. Und heute wird auch er, Stephen Sondheim, der Clown, immer wieder und öfter hereingeschickt. Man ist sich seinen Rang und Namen bewusst. Er wurde mit Grammys, Tonys, Oscars, dem Pulitzer Preis und 2014 mit der Presidential Medal of Freedom ausgezeichnet.

Comedy, tonight. Ein Abgesang? Man hat in London und New York „Saturday Night“ gespielt – Sondheims erste, wegen des Todes des Produzenten nie aufgeführte Show von 1954. Sein theatralischer Schwanengesang wurde schließlich ein Musical über Addison Mizner und seinen Bruder Wilson, zwei Abenteurer vom Beginn des 20. Jahrhunderts, die vom Klondike Goldrausch bis zum Hausbau-Boom im Florida der Zwanziger ihr Unwesen trieben. 2003 kam es als „Bounce“ heraus, 2008 noch einmal als „Road Show“ – und schaffte es doch wieder nur bis Off-Broadway. Stattdessen wurden die englischen Original-Namen der „Desperate Housewives“-Folgen größtenteils nach seinen Songtiteln benannt.

Trotzdem bosselte Stephen Sondheim bis ins hohe Alter an Projekten. „Ich bin ein Kollaborations-Tier“, sagte der überzeugte New Yorker, der nach wie vor in einem Townhouse in Manhattan lebt, jüngst der „New York Times“. „Meine Ideen entstehen oft aus dem Zusammenarbeiten mit anderen Menschen, sonst würde ich Konzertmusik komponieren. Ich schreibe, weil ich die Menschen zum Lachen, Weinen und Denken bringen will. Und ich will so viel Publikum wie möglich.“ Schließlich muss die Show weitergehen, schließlich ist „Komödie, jeden Abend“. Heute wird Stephen Sondheim, einer der bedeutendsten lebenden Komponisten, 90 Jahre alt.

Der Beitrag Schickt doch den Clown herein: Stephen Sondheim wird 90 – aber der Broadway ist dunkel erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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