Nachdem diesen Sommer leider die zweite Wiederaufnahme von Yuval Sharons „Lohengrin“-Inszenierung in Bayreuth ausfällt und nun vielleicht mancher im Streaming der Wiener Staatsoper schon ganz zu Anfang der Corona-Krise hierzulande seine Inszenierung von Peter Eötvös‘ Tschechow-Adaption „Drei Schwestern“ nachgeholt hat, hier noch ein Tipp für die jüngste Arbeit des amerikanischen, vorwiegend in Los Angeles lebenden Regisseurs: Dort hat er nämlich nicht nur immer mal wieder mit dem Los Angeles Philharmonic zusammengearbeitet (bei Lou Harrisons „Young Caesar“ und Meredith Monk „Atlas“). Hier hat er auch seine eigene, freie Truppe The Industry, die vor allem an ungewöhnlichen Orten neues Musiktheater ausprobiert. Das Setting hat dabei stets sehr viel mit der Hör- wie Seherfahrung zu tun. Bei „Invisible Cities“ wurde das Publikum 2013 in die Union Bahnstation verfrachtet, wo es Kopfhörer trug, während Gesungenes sich mit den Geräuschen der Passanten überblendete. Bei „Hopscotch” wurde man zwei Jahre später in 24 Autos zu unterschiedlichen Orten gefahren. Yuval Sharons jüngstes Industry-Projekt hieß „Sweet Land“ und kam Ende Februar im Los Angeles State Historic Park heraus. Eigentlich sollte an verschiedenen Plätzen in dem zentralen Park vor der Downtown Silhouette der zerfasernden Stadt Los Angeles drei Wochen lang gespielt werden, aber nach zwei war coronabedingt Schluss. Zum Glück war es noch möglich, das von der amerikanischen Musikkritik bejubelte „Sweet Land“ als Mischung aus dokumentarischen Aufnahmen und einer letzten Vorstellung ohne Publikum aufzuzeichnen, auch um so die besondere Atmosphäre festzuhalten. Manches der durch die Landschaft wandernden Zwischenspiele wurde dabei kondensiert und verkürzt. Jetzt dauern die beiden, eigentlich jeweils nur separat zu sehenden, hier vereinten Teile „Feast“ und „Train“ zwei Stunden und sind auf der Internet-Seite von The Industry via Vimeo zum Preis von knapp 15 Euro abrufbar. So versucht The Industry wenigstens einen kleinen Teil der entgangenen Einnahmen aufzufangen.
Zwei Komponisten (Raven Chacon, Du Yun), Librettisten (Aja Couchois Duncan, Douglas Kearney), Regisseure (Yuval Sharon, Cannupa Hanska Luger) und Dirigenten sind bei „Sweet Land“ mit dabei, das Publikum wurde geteilt, um sich jeweils einen der beiden Teile in einem offenen hölzernen Rundbau anzusehen, Anfang, Mitte und Ende, die in der freien Landschaft spielen, wurden gemeinsam erlebt. Land Art als Theatererfahrung.
Durchaus auch eine Ostererfahrung. Geht es hier nämlich wieder einmal um das uralte, bis heute nicht wirkliche aufgearbeitete US-Trauma der Überwältigung und Unterdrückung der Ureinwohner im von Amerika so oft beschworenen, gar nicht so süßen „sweet land of liberty“. Die sogenannten Pilgerväter werden sehr schnell autoritär und brutal, vergewaltigen Land und Leute, diesmal in Gestalt von Jimmy Gin, der sich an Makwa vergreift. Sie zwingen ihnen ihre Sitten und Religionen, Gebräuche und Lebensweisen auf. Geisterwesen des Naturschamanentums kommentieren das, Anklänge an aktuell dystopische Fernsehserien wie „Westworld“ schwingen mit. Das wird nicht linear, sondern mit vielen überraschenden Wendungen und Brüchen erzählt. Konfusion ist durchaus beabsichtigt.
Szenisch ist das nicht viel anders als viele durch Räume führende, immersive Performance-Aufführungen in Europa, auch die Musik ist ein eher eklektizistischer Mix aus Folk Art, Jazz, Minimal Music, Elektronik und avancierteren Klängen, die doch einen atmosphärischen Soundtrack ergeben, der einen auf Traumpfaden der Töne wie Bilder man somnambul, mal aggressiv wandern und wandeln lässt. Wieder mischt sich das Heute mit dem Gestern, etwa in der Gestalt der Geister beschwörenden Kojoten. Denn nach diesen mythischen Schwindlern sind heute auch die Leute benannt, die illegale Einwanderer über die Grenze schmuggeln. Das „Feast“ beschwört dann eine seltsam verquere allererste Thanksgiving-Party, während sich das mehr diskursive „Train“ in die Moderne des Ostens bewegt, mit einem schrillen Prediger und einem demagogischen Anführer an der Spitze. Und am Ende heult ein einsamer Kojote neben einem trauernden Kind in der Einsamkeit von Bahnbrücken, während leere Vorortzüge durch die Dunkelheit vorüberrauschen, Worte und ein weißer Hirsch als Projektionen über Betonbögen und Werbetafeln in der Ferne laufen.
Und irgendwie fühlt man sich beim Sehen verloren, auch wenn der Eindruck open air in diesem verwunschen Stück Großstadt auf dem Land eines historischen Massakers an der chinesischen Minderheit sicher noch viel stärker war. Was danach hätte spurlos verschwinden sollen, hat jetzt als stückwerkhafte, doch bannende Aufzeichnung Gegenwart, ist bleibend. Immerhin vermittelt das Video einen Eindruck und der lässt sich, Corona hat’s verschuldet, nun auch im fernen Europa zumindest nachempfinden. Durchaus eine österliche, wenn auch multiethnische Buß- und Auferstehungsübung.
Zu sehen über theindustryla.org
Der Beitrag Corona lässt multiethnisches Musiktheater ewig werden: Yuval Sharon gelang eine Aufzeichnung seines in einem Park von Los Angeles nur kurz gezeigten dystopischen Spektakels „Sweet Land“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.