Was muss das für ein Wirbelwind gewesen sein, Anfang der Sechzigerjahre, als sie den Grünen Hügel im Sturmschritt nahm, wie heute eine Mischung aus Madonna und Heike Makatsch. Ein wildes Ding, aus der jene „Kindertrompete“ schallte, die Wieland Wagner belustigte, dann verzaubterte: Anja Silja, Wagner-Girlie von Bayreuth, die dem dortigen Herren Wunschmaid wurde. Mehr als 30 Jahre später noch spürte man Jugendlichkeit, jungmädelsatte Provokation, wenn sie als zum ewigen Leben verdammte Sängerin Emilia Marty in Janacéks „Die Sache Makropoulos“ in Leder gehüllt die Bühne von Glyndebourne betritt. Die Endfünfzigerin, alterslos, aufrecht, vokal erstaunlich frisch. Heute wird sie 80 Jahre alt. Die Stimme der Silja war nie besonders schön, aber besonders immer. „Dabei wollte ich als Sängerin nicht alt werden“, kommentierte die Silja der Zweitausender trocken ihre bin in die hohen Siebziger zahlreichen Auftritte, „und nun steuere ich darauf los. Als Emilia Marty wollte sie 2001 mit dem Singen aufhören. Womit soll ich diese späte Lebensrolle noch krönen? Es ist eine Rolle, keine Edelcharge. Dauernd will man jetzt von mir die Kabanicha in ,Katja Kabanova‘ oder die Gräfin in ,Pique Dame‘. Aber ich bin doch nicht bekloppt!“, tönte es damals berlinerisch. Auch nicht die „Pique Dame“? „Na ja, mit 70? Die ist keine Nebenrolle, die ist Institution.“
Und natürlich hat sie dann doch beide gesungen, wie nochmals „Erwartung“ unter Robert Wilson, die Mutter in Jancaks „Osud“ als Rückkehr an die Wiener Staatsoper, leider von der Regie total allein gelassen die Old Lady in Bernsteins „Candide“. Sie war ganz wunderbar unter ihrem späten Lieblingsregisseur Nikolaus Lehnhoff als alte Priorin in dessen Hamburger Inszenierung von Poulencs „Dialoge der Karmeliterinnen“. Und brillierte in London als Hexe in „Hänsel und Gretel“. In Frankfurt gab sie, einst eine Mödl-Glanzrolle, die Mumie in Reimanns „Gespenstersonate“ und die böse Großmutter in Prokofiews „Der Spieler“ unter Harry Kupfer. Eine solche spielte sie auch bei ihrer letzten Uraufführung 2014 in Bregenz in HK Grubers „Geschichten aus dem Wiener Wald“. 2017 war sie die Sprecherin in Schönbergs Gurre-Liedern unter Nagano in Hamburg. 2018 kehrte sie sogar nach Bayreuth zurück, allerdings nur als rezitierende Markgräfin Wilhelmine zur Wiedereröffnung von deren renoviertem Barockopernhaus am Fuß des Hügels.
Silja, Extreme. Geboren als Anna Silja Regina Langwagen am 17. April 1940 in Berlin. Die nie eine Schule besucht hat, die deshalb mit ihrem heißgeliebten Großvater, der sich ganz der Erziehung dieses traumsicher auf seinem Seil ohne Netz tanzenden Zirkuskindes widmete, dauernd umziehen musste, auf der Flucht vor den Behörden. Die als Zehnjährige ihr erstes Konzert im Titania-Palast gab und mit 15 erste Liederabende. Die 1956 als Rosina im „Barbier von Sevilla“ in Braunschweig debütierte und 1958 an die Württembergische Staatsoper engagiert wurde. 1959 sang sie in Aix-en-Provence die Königin der Nacht. Es war eine Sensation, als Wagner und Sawallisch sie 1960 in Bayreuth als 20-jährige Senta im „Fliegenden Holländer“ besetzten.
Was folgte, begeisterte die Welt und entfachte einen Sturm auf dem Grünen Hügel. Der Chef verliebte sich in seinen Star. Man war entrüstet, denn die Neue pustete den Moral-Muff aus der fränkischen Nierentisch-Ära. Standen vorher Heroinen auf der Bühne, Astrid Varnay, Martha Mödl, Birgit Nilsson, singendes Urgestein, so war Sieglinde, Eva, Elsa, Elisabeth plötzlich eine moderne, impulsiv handelnde Frau geworden. Eine Halbstarke, wie es damals hieß. Patriarchin Winifred war böser: „Die Hure vom Kurfürstendamm“, schnaubte sie nur.
„Das ist das Wahnwitzige an Wagner“, sinniert viel später eine heute denkende, damals agierende Silja. „Seine Frauen denken nicht, die handeln. Deshalb kann man die nur bis 40 singen. Denn dann denkt man – spätestens. Doch welche junge Sängerin hat die Stimme, um über dieses Orchester zu dringen? Deshalb war ich immer eine Wagner-Heroine, wie er sie haben wollte, aber gegen die Singkonvention. Wenn ich länger Brünnhilde gesungen hätte, würde ich längst nicht mehr auf der Bühne stehen. So brannte ich. Bis es vorbei war.“
Ein Leben im Rausch. „Ich kann mich an nichts mehr erinnern, ich war wie unter einer Glasglocke, Wielands Geschöpf“, erinnert sich die Silja. Der Regisseur und sein Medium, durch das er spielte, sang, war, sie waren unlösbar verbunden. Eine Einheit, künstlerisch wie menschlich. Eine Premiere jagte die andere, rastlos, gehetzt. Kunstwild auf den Bühnen der Welt. Im Hintergrund intrigierten Bruder Wolfgang, Mutter Winifred. Vor allem aber die sitzengelassene Ehefrau Gertrud verschärfte den Druck.
Ein Rausch von sieben Jahren. 1967 starb Wieland, die Silja war plötzlich alleingelassen vom Mentor, Vater, Liebhaber. „Es lief bei Wieland auf das Ende zu, es war ein Rennen, auch für mich. Dass ich es überlebt habe, war ein Wunder, es liegt an dem Glauben, den ich in ihn und er in mich hatte.“ Nach Wielands Tod war ein anderer da. André Cluytens, der belgische Wagner-Dirigent. Ebenfalls älter, auch verheiratet, sterblich in sie verliebt. Sie suchte Schutz bei ihm – und fand hier einen Rest von Wieland. Er wollte alles aufgeben, nur für sie da sein. Bald. Ein Dreivierteljahr später war auch er tot.
Manche andere wäre am Ende gewesen, „aber es ging weiter, irgendwie“. 26 Jahre ist Anja Silja alt, und sie hat ein Leben gelebt wie andere nicht in der doppelten Zeitspanne. „Die Verträge, die zu erfüllen waren, trieben mich. Sie erinnerten mich an Wieland, auch an das, was alles nicht mehr kommen sollte, Traviata, Mélisande, Donna Elvira, sie waren mein Halt meine Erinnerungsstütze.“
Schutz, auch vor sich selbst, Geborgenheit, Liebe wohl, bietet Christoph von Dohnányi. Wieder ein Dirigent. „Ich traf ja nur Theaterleute“, entschuldigt sich die Silja. Drei Kinder kommen, Dohnányi wird Opernchef, in Frankfurt und Hamburg. Anja Silja folgt, ist Mutter, tritt zurück, die Karriere köchelt auf kleiner Flamme. Weniges, aber Spektakuläres zwischen Berlioz‘ Cassandre, Lehárs Hanna Glawari und Bergs Lulu, und immer sind es radikale Frauen. So wie sie sich vorher Cherubinis Medea, Turandot, Lady Macbeth, und immer wieder Salome erobert hatte.
Als von Dohnányi Chefdirigent in Cleveland wird, verschärfen sich die Probleme. „Mein Großvater hat das Urtümliche an mir gelassen. Hat auf meine Persönlichkeit aufgebaut, nicht sie manipuliert. So wie auch Wieland und André. Das war nicht die Stärke von Christoph, der wollte rausholen, was er brauchte. Ich aber habe keine Aufführung erlebt ohne Wieland neben mir. Christoph hat das nie verwunden. Cluytens war dazu willens, im Gedenken an Wieland mit mir zu leben. Er war ein Teil von Wieland für mich.“ In Ohio aber ist die nächste Oper weit weg, ihr Mann rät, mit einer Freundin in Cleveland eine Boutique zu eröffnen.
Nikolaus Lehnhoff eröffnet Anja Silja in Glyndebourne den Weg in die dritte Phase ihre Karriere. Sie singt Emilia Marty und die Küsterin, die Amme in der „Frau ohne Schatten“, die Herodias und Klytämnestra. Und endlich wieder Wagner, die Ortrud im „Lohengrin“, die sie noch nie probiert hat. Und trifft in Robert Wilson, „den einzigen Regisseur, der an Wieland heranreicht, der mit seinem Gestenrepertoire etwas will, der sich nicht nur reproduziert, der auf jeden Sänger hin eine Rolle formt“.
1999 hat Anja Silja, die Spontane, wenig Nachdenkende, Gefühlsfrau, das Medium großer alter Männer, ihre Memoiren geschrieben („Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren“). Es ist ein intelligentes, erhellendes, stellenweise poetisches, absolut persönliches und doch niemals voyeuristische Buch. Reflektierend wie kaum eine Sängergeschichte, ehrlich, knapp, sehr nachdenklich.
Lange nach der Scheidung von Dohnanyi lebte Anja Silja ruhelos, kurz auch mal wieder in Berlin, heute in der Nähe von Hamburg. Die Kinder sind erwachsen, sieben Enkel sind da, ihre Haare sind nicht mehr rot, sondern grau, die Lippen dezent geschminkt. Eine schöne, würdevoll alternde Frau, ruhig und damenhaft, aber nicht nur von weitem eine Ahnung von Hojotoho-Bocksprüngen und Walküren-Vorwärtsstürmen vermittelnd. Sie sitzt da „allein mit Erinnerungen, aber glücklich. Das, was man finden kann, als Mensch, im Leben, habe ich gefunden, unglücklicherweise nur für kurze Zeit. Das kann man nicht mehr überbieten, da brauche ich nicht mehr suchen. Ich glaube immer noch, mit jeder Reise fahre ich zu Wieland, der schon seit 54 Jahren nicht mehr lebt. Er ist da, er ist immer ein Teil von mir.“
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