Die spinnen, die Engländer. Dabei dachten wir doch immer, die gesammelten Inselbewohner würden erst mal abwarten und Teetrinken. Stimmt nicht, oder zumindest nicht mehr, seit im Vereinigten Königreich der Konsum von heißen Aufgusserfrischungen erschreckend zurückgeht. Erschreckend ist aber freilich auch, wie prüde, moralinsauer und gleichzeitig sensationsgierig sich dort seit einiger Zeit die Opernbesucher samt angeschlossener Presse geben. Um dann über Lappalien zu zetern, dass man fast schon wieder von strategisch-genialem Katastrophenmanagementmarketing zu sprechen können glaubt; wenn man damit die bloß wackeren PR-Profis an der Covent Garden Opera nicht überschätzen würde.
„No Sex please, we’re british“, der unsterbliche, längst widerlegte Kömödientitel scheint aber immer noch im Hintergrund der dauererregten Gemüter herumzuspucken. Wir erinnern uns: Vor einigen Monaten gab es einen medial ziemlich aufgebauschten „Skandal“ um Buhs und angebliche Weinkrämpfe bei weiblichen Zuschauern, weil es der sonst eher brave italienischen Regisseur Damiano Michieletto gewagt hatte, in Rossinis „Wilhelm Tell“ in einer Ballettszene, bei der die die Schweizer unterdrückenden Habsburger deren Mädchen zum Tanz zwingen, die Vergewaltigung eines nackten Mädchens zu zeigen. Die Szenen musste mit Kleidung abgemildert und verkürzt werden, das Opernhaus entschuldigte sich auch auf seiner Webseite. Die Medien hatten tagelang Stoff.
Als jetzt vor der nächsten Premiere von Donizettis „Lucia di Lammermoor“ in der Regie von Katie Mitchell bereits vorab eine prophylaktische Warnung von der Covent Garden Opera per Mail verschickt wurde, es könne darin blutig werden und es gäbe Sex wie Gewalt zu sehen, ging die Schlammschlacht erneut los. Und das dürfte sicher nicht am schlechten Vorverkauf liegen. Der prototypische Belcanto-Schluchzer nach der vielgelesenen Gothic-Romance von Walter Scott mit einer wahnsinnig werdenden Braut, die den ungeliebten Gatten in der Hochzeitsnacht ersticht, ist seit bald 200 Jahren ein Repertoirerenner. Und diesmal singt die blonde Deutsche Diana Damrau die Titelrolle, ein Liebling nicht nur in Covent Garden. Die gibt selbst zu, dass die Moritat aus dem schottischen Hochland brutal ist und warnt ihre sechsjährigen (!) „Traviata“-Fans (ist die Geschichte einer sterbenden Nutte für die richtig?) vor dem Besuch. Im übrigen sei sie mit Mitchells Sicht ziemlich einverstanden. Ja genau, jener Mitchell, bei deren Inszenierung von Sarah Kanes Kastrationsschocker „Gesäubert“ am National Theatre sich doch wirklich fünf Personen übergeben hätten!
Was sind die Britten doch inzwischen offenbar für Pussies! England hat den Hammer Studio Horror mit sich gern in weiße Mädchenkörper eingrabenden Vampirzähnen in die Filmgeschichte eingebracht. In den Nachrichten wird gemetzelt, bei „Game of Thrones“ kullern fast in jeder Folge die Köpfe, aber ausgerechnet die Oper, wo in fast jedem Stück am Ende ein paar Leichen auf der Notenwalstatt liegen und die Kunst überhaupt, die immer auch brutal und grausam sein kann, die soll stubenrein, nett und aseptisch sein? Selbst Kritiker, die es besser wissen sollten, fordern das allen Ernstes. Und einige verstörte Kunden haben bei der Oper bereits ihr Geld zurückverlangt. Dabei hat ein wenig Wirklichkeit dem Guten, Wahren und bisweilen auch Schönen noch nie geschadet. Und seien es ein paar Liter Kunstblut.
Der Beitrag Der blutige PR-Wahnsinn an der Covent Garden Opera erschien zuerst auf Brugs Klassiker.