Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Nächstes Jahr wird René Jacobs, der vitale, sich und seine Mitwirkende mit seinem Aufführungspensum, seiner Ideenfülle und seinem Enthusiasmus überraschende wie nicht schonende, siebzig. Der Belgier, der als Countertenor begonnen hat und schnell neben dem fast zwei Dekaden älteren Nikolaus Harnoncourt gerade auch in Deutschland zu einer festen Dirigiergröße der Alten Musik herangewachsen ist und geliebt wird, der seinen Radius inzwischen aber auch bis Rossini ausgedehnt hat, er schenkt sich selbst in Kürze an der Berliner Staatsoper die Ausgrabungspremiere „Amor vien als destino“ von Agostino Steffani. Und jetzt hat er, nach einer höchst erfolgreichen Tournee mit zwei seiner herausragendsten Stammensembles, der Berliner Akademie für Alte Musik und dem Rias Kammerchor erstmals, die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach aufgenommen.
„Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm/in allen Landen herrlich ist./Zeig uns durch deine Passion,/dass du, der wahre Gottessohn zu aller Zeit,/auch in der größten Niedrigkeit, verherrlicht worden bist.“ So begann, nach den Worten eines unbekannten Dichters, am Karfreitag 7. April 1724 in der Leipziger Nicolaikirche, die erste Passion des ein Jahr vorher berufenen neuen Thomaskantors Johann Sebastian Bach. In drängend punktiertem Rhythmus, mit aufsteigender, die Kirche füllendem Klang, das Volk will Zeugnis ablegen, seinen Emotionen fast schreiend Raum schaffen, wird da in den folgenden zwei Musikstunden eine wohlbekannte Bibelbotschaft nach den Worten des Johannes-Evangeliums verkündet. In sich so süß wie schmerzlich reibenden Akkorden, mit flüssigen Melissmen. Die Streicher schreiten voran, die Oboen singe dolce ihr betörendes Klagelied.
Man kann jetzt objektiv in dieser klanglich höchst gelungenen Neuaufnahme feststellen, wie grandios, knapp und lakonisch das meisterlich plastisch wird, wie fein die Chorstimmen trennscharf aufgefächert sind, wie sich das Orchester in deren Resonanzträume schmieg und stemmt. Und wie dies für die ganze Jacobs-Deutung gilt. Das ist souverän dramaturgisch durchdacht, setzt kühl, aber trotzdem anrührend seine Akzente. Es gebietet mit dem schlanken tönenden, den Text ausdeutenden, aber nicht überspitzenden Vokalquartett Sunhae Im (Sopran), Benno Schachtner (Countertenor), Sebastian Kohlhepp (Tenor) und Johannes Weisser (Bass) über gleichsam abgeklärte und doch subjektive Interpreten. Man folgt intensiv dieser vertrauten, aber doch immer wieder packenden Klangerzählung, vor allem auch weil der reife, Evangelisten-erfahrene Werner Güra so bannend den tenoralen Erzählweg nach Golgatha bereitet.
„Herr, unser Herrscher“. Wenn man das aber kurz nach den Brüsseler Anschlägen hört, wenn man sich fragt, wer ist hier der Herrscher von wem und in welchem Namen handeln manche vermeintlich Gläubigen, die doch nur Fanatiker sind, da erfährt diese bald 300 Jahre alte Passion, die wir längst als agnostisch gewordenes Osterritual, als sinnlich kitzelnde Klangtapete in unseren Jahreskulturfahrplan integriert haben, wie alle große, ewige Kunst wieder eine ihr glattgewordene Genussfreude aufreißenden Aspekt zurück: Man mein sie mit der Unschuld, dem Schrecken, dem Getröstetsein des ersten Mals in der Leipziger Kirche zu vernehmen.
Besonders, wenn man dann auch noch weiß, dass René Jacobs am Dienstag früh eigentlich auch am Brüsseler Flughafen hätte sein können. Er wäre abends für seine Einspielung von Mozarts „Entführung“ (auch eine Auseinandersetzung mit dem Orient, mit Rache und Verzeihung) mit dem Prix Cécilia ausgezeichnet worden. Er hatte kurzfristig abgesagt. Glückliche Fügung, sagt man jetzt. Ein Schutzengel gar?Bleiben wir bei den Fakten: Jacobs hat die heute übliche Fassung letzter Hand nach des Komponisten Anforderung mit einer sehr kleinen Chorbesetzung von nur 16, individuell gefärbten Stimmen eingespielt. Bei den Chorälen kommen Ripienisten dazu, zur Auffüllung sind zudem die Knabensoprane des Staats- und Domchors Berlin im Einsatz; was alles für ein ungemein abwechslungsreiches Klanggeschehen in den Tutti sorgt. Die Solisten müssen so beim Vergegenwärtigung des Bibelgeschehens „ein wenig Subjektivität und die Chorsänger ein wenig Objektivität opfern“, bemerkt der Dirigent, der zudem, wie bei seiner Aufnahme der Matthäus-Passion mit der Mikrofonaufstellung der Kollektive experimentierte.
Bach arbeitete das Werk immer wieder um, am radikalsten bereits 1725. Aus dieser Fassung liefert René Jacobs noch als Appendix fünf Nummern, darunter den geänderten Eingangschoral: „O Mensch, bewein dein Sünde groß“. Dazu merkt der kluge Dirigent fast visionär an: „Man könnte sagen, dass die Johannes-Passion ,anti-johanneisch’ anfängt: Christus trägt auch die grausamsten Sünden dieser, unserer Welt: Massenkriege, Habgier, Terrorismus. Der Schlusschor dieser ,dunklen’ Fassung nimmt das Thema wieder auf: ,Christe, du Lamm Gottes/Der du trägst die Sünd der Welt,/Erbarm dich unser!/…/Gib uns den Frieden.“ – Es ist einer der frühesten Texte dieser Passion, Martin Luthers Übersetzung des lateinischen Agnus Dei. Die Bitte um Frieden ist musikalisch so erschütternd, dass eine Zurückkehr zur Anfangstonart G-moll ausbleibt und die Choralbearbeitung äußerst depressiv aufhört, in der Unterdominante, harmonisch offen also: ein ,Amen’ mit Fragezeichen.
Ich möchte den Zuhörer bitten, die fünf von Bach für diese Alternativ-Fassung komponierten Nummern nicht auszulassen. Diese stimmungsmäßig so andere Johannes-Passion verdient es, im Ganzen angehört zu werden (Webseite harmoniamundi.com). Vielleicht brauchen wir diese unbekanntere Fassung in unserer trostbedürftigen Zeit mehr als die uns vertraute.“
Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht dieses: Obwohl heute Abend in Brüssel alle Kulturveranstaltungen abgesagt wurden, eine findet statt: die geplante Aufführung der Matthäus-Passion durch John Eliot Gardiner.
Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion (harmonia mundi)
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