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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Tokyo Spring Festival III: Posier-Kimonos und Riccardo Mutis fanatische Fan-Omis

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Heute geht es in die Bunka Kaikan, gleich zweimal. Denn es wird Ernst. Generalprobe und Aufführung stehen bei der ersten Academy of Italian Opera des Tokyo Spring Festival an, die Riccardo Muti diesmal dem von ihm länger nicht mehr dirigierten „Rigoletto“ gewidmet hat. „Ich wähle bewusst diese populären Werke, die kennt jeder, und da kann ich schnell deutlich machen, um was es mir geht“, sagt er während in seiner Garderobe der obligatorische Espresso köchelt. Und wenn er das Podium betritt, wird er allen spannungsvoll dort harrenden Mitwirkenden wie auch den Anwesenden in den hinteren Reihen sagen: „Ich komme immer wieder gern in diesen Saal. Er ist sehr gut, hat die Jahre bestens überstanden. Hier habe ich nämlich 1975 mit den Wiener Philharmonikern mein Japan-Debüt gegeben.“

Und seither ist er hier ein wirklicher Star. Der aber auch regelmäßig kommt. Erst im Januar war er mit dem Chicago Symphony Orchestra in der Bunka auf Station. Natürlich hängt Backstage das signierte Plakat. Das hat hier schöne Tradition. Jedes der prestigeträchtigen Opernhäuser, Ballettensembles und Orchester hat hier schon gastiert und sich mit einem Bild oder Plakat bei den Bühnenarbeitern verewigt. „La Forza del destino“, Teatro alla Scala 2005, prangt da in einem verschnörkelten Goldrahmen an einer Betonsäule. Und mittendrin die schwungvolle Muti-Signatur. Tempi passati.

Es sind nicht mehr so viele von den großen, alten Dirigenten übrig. Blomstedt drängt auch mit 92 unverdrossen voran. Der 90-jährige Haitink schwächelt ziemlich, beim 89-jährigen  Dohnanyi zeichnet sich das Karriereende ab; auch der bald 83-jährige Zubin Mehta ist gesundheitlich eingeschränkt. Marek Janowski (80) und Juri Temirkanov (81) sind keine globalen Stars. Dann ist man schon beim Siebziger-Dreigestirn Muti (77), Jansons (76) und Barenboim (76). Stolz erzählt Muti, dass sein diesjähriger Salzburg-Auftritt, wieder das Verdi-Requiem, wie vor sechs Jahren, als einziger dreimal gegeben wird und gleich ausverkauft war. Auch im Bunka-Backstage-Bereich liegen die „Rigoletto“-Flayer aus. Umgerechnet 200 Euro Spitzenticketpreis ist den Japanern Mutis „Rigoletto“ wert. Und es ist wirklich seiner, denn für das Festspielorchester und die ordentlichen Sänger, die sich dafür eine Woche bereitstellen, würde hier natürlich sonst niemand diese Summe ausgeben.

Die Generalprobe läuft gut durch. Der Tenor Giordano Lucà schon sich immer noch, der finstertönende Sparafucile Antonio di Matteo läuft sich basssatt warm, und auch die russische Gilda Venera Protasova lässt ihren dunkelgefärbten, breiten Sopran mit sehr guter Höhenagilität hören und ausschwingen. Muti lächelt, korrigiert wenig. Auch mit den sechs schnell noch einstudieren Summ-Stimmen für den Wind im dritten Akt ist er happy. Nach zwei Stunden ist alles vorbei. Nur das Erinnerungsfoto mit und für das Orchester muss noch geschossen werden.

Endlich Zeit für ein wenig Hanami. Ich lasse mich durch die berühmte Kirschblütengasse im Ueno-Park treiben. Hier herrscht Rushhour, aber wie stets in Japan, bestens organisiert. Picknickbereiche, übervoll frequentiert, sind ausgewiesen, alle paar Meter stehen temporäre Müllstationen. Die Menschenströme laufen geordnet in zwei Richtungen. Manche junge Frauen haben extra schrille, buntverzierte Posier-Kimonos an, die sie zu begehrten Fotoobjekten machen. Zwischen den Zweigen ragen die Selfiesticks, ältere Damen, die ebenfalls in dezenteren Kimonos vorbeitrippeln schütteln nur den Kopf. Und am Lotosteich mit den braunen Pflanzenresten vom letzten Jahr ist in der Imbissbudenreihe am Tempelchen inzwischen auch Bratwurst der Renner. Nur Tintenfisch ist ähnlich gefragt.

Abends sind die Bäume dann auch noch rosa oder blau angestrahlt, eine unwirkliche Pracht. Doch jetzt strömt es in den Bunka Kaikan. Am Eingang die obligatorischen Plastiksäcke mit den Klassikankündigungen der nächsten Monate. Dünn sieht es bei den früher so zahlreichen Operngastspielen aus, nur für zwei gibt es Prospekte: das Teatro Communale di Bologna und das Royal Opera House Covent Garden mit Antonio Pappano als Aushängeschild. Auch in Japan gibt es Satellitenübertragung, und so mancher fährt inzwischen lieber gleich selbst nach Italien oder London, so viel teurer ist das auch nicht.

Dieser „Rigoletto“ hat einen guten Lauf. Das Orchester, präzise, weich und doch knusprig im Klang, sehr differenziert in der Agogik und der Farbgebung, es ist zu bewundern. Oder das, was der effektive Riccardo Muti mit wenigen Proben und vielen Ratschlägen aus ihm gemacht hat. Auch die Sänger sind nicht schlecht. Nur der Tenor, jetzt versucht er endlich auszusingen, hat einen Frosch im Hals. Muti schickt ihn mittendrin zum Trinken hinter die Bühne, mit befeuchteter Kehle geht es besser. Aber wirklich gut ist es nicht. Hinterher beklagt sich Muti über den Betrieb, der die Sänger allein lässt, der sie verschleißt und dann wegschmeißt. Wo sind heute noch die Teams an wirklich guten Assistenten und Korrepetitoren, die Fehler erkennen und dagegen angehen können?

Dafür drehen auch die beiden Mezzos richtig auf, die jetzt rollengrecht als Maddalena eher freizügig gekleidete Daniela Pini, und selbst die Giovanna von Yumiko Kono mit ihren wenigen Einwürfen. Der Rigoletto von Francesco Landolfi hat kein erzenes Organ, aber er weiß zu gestalten und hat sich von Mut zu ein paar Subtilitäten verführen lassen. Venera Protasova singt jetzt eine so unschuldige wie verführerische, verzweifelte wie girrende Gilda, die könnte an jeder großen Bühne bestehen – wenn sie sich aus ihrem Opernhaus in Kasan wegbewegen würde. Und auch der Monterone Ippei Mochizuki, kleiner Körper für eine gewaltige Stimme, steht jetzt richtig, dass der Fluch auch an die Personen und nicht nur zum Publikum gerichtet ist.

Praxisschule italienische Oper, in Tokio hat sie fein funktioniert. Auch die vier jungen Dirigenten haben noch ihre schön verzierten Diplome vor dem vollen Saal bekommen.  Werden sie Mutis Anmerkungen irgendwo anwenden können? Sie sind alle Anfang dreißig, da müsste die Karriere eigentlich schon laufen. Riccardo Muti ist trotzdem zufrieden, sein Bemühen hat gefruchtet. „Ich hoffe, dass besonders die Musiker, die ja kaum Verdi-Erfahrung haben, die Saat weitertragen. Schließlich gibt es ja genug lokale Opernkompanien, in denen sie auch spielen werden“, fantasiert er hinterher beim obligatorischen Dinner in einem intimen, ganz der „Rigoletto“-Kerntruppe vorbehaltenen Grilllokal an der Ginza. Bei Fisch und Shrimps, Beef und Shitake-Pilzen, Spargel, Ginko-Frucht und Sake wird schon an den nächsten Akademie-Plänen gebastelt.

Vorher aber war noch Autogrammstunde in der Bunka aikan. Eine Dreiviertelstunde lang, die Schlange ringelte sich wie beim Flughafen-Sicherheitscheck durchs Foyer. Einer wimmert überglücklich, die meisten lächeln nur, wenn die Unterschrift auf CD-Büchlein, Platten und seinen Büchern prangt. Und dann, ganz zum Schluss, ist da noch das Trüppchen fanatischer, aber netter Omis, die ihr Muti-Fan-Bettlaken enthüllen und das Gruppenbild stellen; auch die Söhne und die Schwiegertochter müssen mit drauf. Muti lässt es über sich ergehen, und wir scherzen: „1975 haben die wohl als Le Sorelle di Riccardo gestartet, jetzt sind sie Le Nonne di Muti.“

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Movimentos Nr. 17: neue Location, neuer Termin, reduziertes Angebot und ein paar alte Bekannte in Wolfsburg

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Ist man mit 17 schon flügge? Heute wohl ja. Nicht ganz freiwillig freilich legt das als Marke längst unabhängig vom Geldgeber VW Autostadt Wolfsburg gewordene Movimentos Festival neu los: mit reduziertem, auf das Wesentliche konzentrierte Konzept, mit einer anderen, extra gebauten Spielstätte, mit neuem, freilich nicht mehr so günstigem  Termin vom 19. Juli bis zum 25. August, aber auch mit ein paar alten Bewegungsbekannten am Mittellandkanal. Erstaunlich allerdings, aber das spricht eben für den Wert und die Nachhaltigkeit dieser kulturpolitischen Behübschungsmaßnahme, dass es überhaupt weitergeht. Diverse Skandale haben den Autokonzern erschüttert, in der Autostadt hat die Leitung komplett gewechselt. Das Kraftwerk steht nicht mehr zu Verfügung, weil hier wieder mit effizienten Gasturbinen Energie gewonnen wird. Und trotzdem zeigen wieder fünf Tanzkompanien aus Brasilien, Kanada, USA und Großbritannien in der Wolfsburger Autostadt ihr Können. Das wird sogar mottomäßig umwunden, man widme sich den Herausforderungen des kulturellen Erbes durch die aktuellen Zeitfragen, heißt es. Naja, wer tut das nicht?

„Hafen 1“ heißt die neue, für Events aller Art am Wolfsburger Hafen herhalten sollende „Multifunktionshalle“, die bereits auch intern für die nächsten 12 Monate ausgebucht ist. Zunächst freilich muss sie erst einmal fertig werden. „Das Festival wegfallen zu lassen, war angesichts der auch vom Publikum so kräftig nachgefragten Marke Movimentos keine Option”, behauptete Claudius Colsman, einer der neuen Autostadt-Geschäftsführer, bei der Programmpräsentation. Aber intern ist durchaus der Rotstift angesetzt worden und der Konzern hat die Autostadt stärker an sich gebunden. Während die Lesungen und das Musikprogramm mit Nachwuchsklassikstars gestrichen wurden, bleiben die bewährt fünf Tanzgastspiele mit internationalen Truppen erhalten, für die neuerlich Bernd Kauffmann, künstlerischer Leiter des Festivals von Anbeginn, verantwortlich zeichnet.

Fotos: Movimentos / Autostadt

Kaufmann selbst, dazu ist er viel zu sehr abgebrühter und auch (un-)wettergegerbter Kulturfunktionär, hat dem natürlich nur Positives abzugewinnen: „Ich kann nur meiner lauten und leisen Freude Ausdruck geben, dass Movimentos jetzt im neuen ,Hafen 1’ vor Anker gehen können. Hinzu kommt mein großer Dank an die Autostadt, dass sie im tiefgreifenden Zeitenschnitt, in der sich neue Konstrukte des Mobilen in Technik, Form und Ästhetik ankündigen, dem originären Kern der menschlichen Bewegung, dem Tanz, weiterhin Raum und Gewicht einräumt. Insofern empfinde ich die Entscheidung der Autostadt für eine ,neue Heimat’ der Movimentos auch als ein kulturpolitisches Ausrufezeichen und als geneigte Geste gegenüber dem Stammsitz des Unternehmens.“

Es gibt in der 17. Movimentos-Ausgabe neun Werke, darunter sieben deutsche Erstaufführungen plus eine Uraufführung zu sehen; drei der Kompanien sind alte Movimentos-Bekannte. Am wenigsten nur unterhaltend sein dürfte „Dog without Feathers“ der Brasilianerin Deborah Colker, das ihre Companhia de Danca vom 1. bis 4. August zeigt. Das Werk der Wolfsburger Wiederholungstäterin handelt auf Basis eines Gedichts des brasilianischen Lyrikers Joo Cabral von einem entlegenen Fluss in Brasilien und den Bewohnern dieser oft trocken fallenden Gegend, zusätzlich bedroht durch die Folgen des Klimawandels. Großflächige Videoeinspielungen zeichnen die Landschaften um den Fluss Capibaribe nach. Nach 2005 und 2009 ist die Companhia de Danca Deborah Colker zum dritten Mal hier zu erleben.

Aus Brasilien kommt auch zum zweiten Mal die Sao Paulo Dance Company, für die der berühmte Kanadier Edouard Lock ein brandaktuelles Stück über das Flammen aufgegangene Nationalmuseums in Rio de Janeiro erarbeiten wird. Diese Auftragsarbeit will sich dem zerstörten kulturellen Erbe Südamerikas widmen. „Das Museum hat die Kunstäußerungen des ganzen Kontinents gesammelt, die nun alle verbrannt sind“, so Kaufmann. Die Truppe zeigt vom 19. bis 21. Juli außerdem „Gnawa“ des in Berlin als Ballettdirektor durchgefallenen Nacho Duato und „Agora“ von Cassi Abranches.

Erstmals bei Movimentos zu Gast, zeigen BJM – Les Ballets Jazz de Montréal ab dem 24. Juli ihre Choreografie „Leonard Cohen / Dance Me“. Sie ist dem Dichter, Songwriter und Maler Leonard Cohen gewidmet und vereint die drei international renommierten Choreografen Andonis Foniadakis, Annabelle Lopez Ochoa und Ihsan Rustem. Inspiriert von Cohens vielfältigem Werk ist die Arbeit eine eindrucksvolle Hommage an den berühmten Sänger und Melancholiker.

Vom 8. bis zum 10. August ist nicht nur der erste Auftritt des L.A. Dance Project bei Movimentos, sondernd überhaupt in Deutschland zu erleben: Das Ensemble des Künstlerischen Leiters und Choreografen Benjamin Millepied zeigt drei seiner Stücke in Wolfsburg. „Homeward“ ist eine kurze, schnelle Arbeit zu einem Videokunstwerk des Künstlers James Buckhouse, die exemplarisch für die multimediale und interdisziplinäre Ausrichtung der Company steht. In „Orpheus Highway“, geht Millepied der tragischen Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydike nach und verleiht der Eindringlichkeit des Geschehens durch den Einsatz von Filmsequenzen und Livemusik intensiven Ausdruck. Für „Bach Studies (Part 1)“ ließ sich Millepied von der Komplexität und Tiefe der Musik von Johann Sebastian Bach inspirieren und setzt die Kompositionstechniken des Kontrapunkts, der Fuge und des Kanons in eine hochemotionale, suggestive Choreografie um.

Der griechische Komponist, Klangkünstler und Oscarpreisträger Vangelis – einer der Pioniere der elektronischen Musik – ist vom 15.-17. August Subjekt und Objekt einer choreografischen Hommage des zum dritten Mal in Wolfsburg gastierenden Londoners Russell Maliphant. Für die Choreografie „The Thread“ (der Faden) haben sich beide zusammengetan, um dem traditionellen griechischen Tanz zu den Kompositionen von Vangelis in die Neuzeit zu überführen. Der antike Mythos des Ariadnefadens diente als Wegweiser durch die Weiten der tradierten griechischen Klangwelten. Dafür wurde eigens ein Ensemble aus 18 Tänzerinnen und Tänzern geschaffen, die teils in traditionellem griechischem Tanz, teils in westlichem zeitgenössischem Tanz ausgebildet sind. Diesem Ansatz folgend, hat Vangelis griechische Traditionals in raumfüllende elektronische Klänge transformiert.

Außerdem erarbeiten junge Tänzerinnen und Tänzer der Movimentos Akademie vier Choreografien für Wolfsburg, die am 24. Und 25. August gezeigt werden.

Und dann gab es natürlich – nachhaltiges Essen spielt bei Movimentos lange schon eine Rolle –  ein besonderes Brot für einen besonderen Anlass: Auf der Baustelle des „Hafen 1“ am Nordufer des Hafenbeckens wurde zum Richtfest gefeiert. Von den Bäckern der Autostadt Manufaktur „Das Brot.“ kredenzt. Schließlich ist es gute Tradition, zu einem Richtfest Brot und Salz mitzubringen, damit es im neuen Haus immer genug zu essen gibt. Das kastenförmige Sauerteigbrot mit kräftigem Aroma wog 500 Gramm und bestand aus Roggen- und Dinkelmehl in Bio-Qualität. Zum besonderen Hingucker wurde das Brot durch den Mehl-Schriftzug „Hafen 1“.

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Tokyo Spring Festival IV: Altstars und ein dirigentischer Jungspund lassen Wagners „Holländer“ gischten

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Nach so viel Verdi ist mal wieder Wagner gut für die Ohren. Und er passt auch, will sich das Tokyo Spring Festival, vokal beraten vom nicht nur alle sieben Jahr durch die Opernmeere schippernden Ioan Holender, durchaus als eine Art Kirschblüten-Bayreuth etablieren. Das Unwetter kracht, der Seesturm tobt. Nach dem „Rigoletto“ ist also vor dem „Fliegenden Holländer“, der heute ansteht. Der Bunka Kaikan ist nicht ganz ausverkauft, dabei ist die Besetzung wohlgeraten, und viel billiger sind die Karten zudem. Liegt es am Dirigenten? Richtig, David Afkham hat noch nicht den ganz großen Namen, er ist ja noch jung (36), aber er bewährt sich glänzend, wie immer hier mit dem NHK Symphony Orchestra am Start. Da jaulen die Hörner, es sirren die hohlen Streicherquinten im Tremolo-Diskant, dumpfe Trommelwirbel, schneidendes Blech. Und schon zur Ouvertüre gibt es über Orchester und Chor auch ein brav montiertes Video, das mit sich drehenden Wolkennebeln und ein wenig Meer Atmosphäre verbreiten soll. Ein Segelschiff in voller Fahrt wird von oben anvisiert. Im feinsten Dolce, dabei straff gespannt, blüht das Senta-Motiv auf, keusch und zart führen es Hörner, dann Klarinette, Oboe und Flöte fort. Auch in die rustikalen Matrosentänze schmeißt sich David Afkham mit Spielopernfuror. Dämonie und Lebensfreude – Theatertemperament, nimm deinen Lauf.

Diese immer wieder faszinierend plakative, melodieselige, dabei meisterlich knapp erzählende Ouvertüre, mit dem Ex-Wiener-Philharmoniker Rainer Küchl als Gastkonzertmeister, sie ist eine schöne Vorgabe für das, was kommt. Das Orchester wird zum Haupthandelnden, famos präpariert, mal zusammengestaucht, mal sich dehnen dürfend, nimmermüde. Sichtbar dann weitergeführt von Thomas Langs und Shigeki Miyamatsus Chorkollektiv der Tokyo Opera Singers, schlank, aber mit Wucht auftrumpfend. Und sehr textdeutlich.

Daland musste als Einspringer rasch eingeflogen werden, doch der junge Däne Jens-Erik Aasbø macht das fein, herrlich bassspießig und verschlagen gemütvoll. Seine beiden in Frage kommenden Schwiegersöhne in Spe sind beide die jüngsten nicht mehr. Im Rentenalter ist längst Peter Seiffert, der hier unverhofft nochmals als Erik auftaucht, aber er macht seine Jägersache sehr verlierertenorgut, zeigt formidable Technik in der von vielen ungeliebten Zwischenfachrolle, setzt passgenau seine meist Forte genommenen und gehaltenen Höhen.

Den Holländer gibt der gegenwärtig immer noch Beste – Bryn Terfel. Der hat drauf, was er auch darstellerisch machen muss, fesselt mit seinem Nuancenreichtum und dem gepflegt knarzigen Timbre. Er besitzt sehr gute Bariton-Spitzen, dagegen einen eng mensurierten Bass-Bereich. Eine der am meisten gefürchteten Wagner-Partien singt er freilich klug disponiert, punktgenau aufs Ganze setzend mit der vollen Potenz seiner Persönlichkeit.

Ricarda Merbeth, passenderweise mit einer Art grauen Edelstricklangjacke zur schwarzen Robe, ist zwar auch kein Senta-Kind mehr, aber sie weiß, weiß sie singt. Und auch wenn bei der Ballade das Timbre noch virbratoflackert, sie stößt immer selbstsicherer an Soprangrenzen, ist ganz kontrollierte, gestalterisch souveräne Senta-Glut. Ein spätes Mädchen, nicht unsympathisch in seiner Unbedingtheit.

Nur Gesang, und sei er noch so lauter, aufrecht und anrührend, kann ihre Szene mit dem Holländer nicht retten und klären, in der sich entscheiden muss, was diese beiden Suchenden und schon Verlorenen anzieht und was sie bereits aneinander vorbeigleiten lässt: das Mädchen, das ein Bild liebt (als Schöner-Wohnen-Edelinterieur hinten sichtbar) und sich hier einen Märchenhelden baut, und der verfluchte Mann, der sucht und niemals finden wird, ewig ein Ausgestoßener, trotz seiner Schätze, dem Terfel so klar und eindeutig Kontur gibt. Am Ende zieht er die Merbeth wie ein feuchter Erlkönig mit sich aus dem Saal.

Ordentlich auch der Steuermann von Cosmin Ifrim mit klarer, aber bisweilen quetschiger Tenoremphase. Nur die Frau Mary der gar nicht gouvernantenhaft klingenden Aura Twarowska hat sich im Konzertoutfit vergriffen. Schulter- und ärmelfrei, aber mit viel floreal getufftem Getülle vor dem üppigen Busen, sieht sie in flaschengrüner Seide aus wie eine Sumpfnelke. Prächtig tönt bis zum keusch verklingenden Finale mit Videolichtstrahl von oben Daniel Afkham. Schlank und tragfähig ist sein Orchesterklang, biegsam, elegant, weil die rohe Wucht dieser Musik draußen bleibt. Intelligent, sicher und reduziert setzt er Akzente, weiß um Töne des dunklen Abgrunds, verlangsamt den Fluss geschickt, hat auch Sinn für den grellen Singspielhumor dieser Seefahrer-Ballade im fernen Tokio. Da fahre ich doch sehr beschwingt nach Europa zurück.

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Er ist wieder da: Benjamin Bernheim wird für seinen Des Grieux in Bordeaux als der nächste französische Traumtenor gefeiert

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Die Konkurrenz just in diesem Premierenaugenblick war groß: In Zürich stand Piotr Beczała in einer „Manon“-Premiere auf der Bühne und im Pariser Théâtre des Champs-Élysées sang gleichzeitig Juan Diego Flórez erstmals konzertant die Partie, bevor er den des Grieux Anfang Juni an der Wiener Staatsoper erstmals szenisch ausprobieren wird. Und im klassizistisch-eleganten, blaugoldenen Grand Théâtre de Bordeaux war nun auch Benjamin Bernheim als Novize in doppelter Hinsicht zu erleben: als Massenets schwärmerischer Student, der sich in die junge, aber leider verführerische Manon verliebt und verliert, bis schließlich alles perdu ist – Geld, Manon und er selbst; und als souveräner Eroberer eben einer der zentralen Rollen des französischen Repertoires, mit Bedacht, aber vokaler wie darstellerischer Souveränität. Voilà un artiste! Und nicht nur die französischen Medien sind des Lobes voll. Was gut passt, wurde doch zeitgleich verkündet, dass die Deutsche Grammophon Bernheim verpflichtet hat. Im November soll das erste Album mit italienischen, russischen und französischen Arien erscheinen. Vorher noch kommt bei Aparté sein hinreißender Gounod-Faust heraus, den der Tenor mit perfekt verblendeter Voix mixte im letzten Juni unter Christophe Rousset und seinen Talens lyriques beim Bru-Zane-Gounod-Festival in Paris konzertant gesungen hat.

Endlich also ein französischer Nachfolger für den längst schon in den Herbst seines Tenorlebens eingetretenen Roberto Alagna; welcher gleichwohl von seinen jugendlichen Rollen wie Nemorino und Rodolfo nicht lassen mag, obwohl er längst schon beim Samson, Manrico, Cid, Otello, Éléazar und Calaf angekommen ist. Kleiner Schönheitsfehler: der bald 56-jährige Alagna ist italienischstämmig und der 33-jährige Bernheim ist Schweizer, in Genf, Lausanne und Zürich ausgebildet und sängerisch erste Schritte machend. Und es schadet sicher nix, dass sein Großvater im Aufsichtsrat von Rolex saß (wo er inzwischen auch als Marken-Testimonial fungiert) und seine sehr kultivierte, zeitweise als Ersatzmama fungierende Großmutter in eigentlich jeder prestigeträchtigen Opernpremiere anzutreffen ist.

Fotos: Eric Bouloumié

In Bordeaux gib man Olivier Pys Genfer „Manon“-Inszenierung aus dem Jahr 2016. Wieder eine typische Tits & Cocks-Produktion des allmählich sich mit seiner Masche auslaugenden Regisseurs, der immerhin für fünf Probentage vorbeigeschaut hat bevor die Inszenierung im mai an die Pariser Opéra Comique weiterzieht. Aber mit ein paar überraschenden Wendungen. Natürlich sieht der Manon als noch gar nicht geborene Lulu, ein Chamäleon, „das schöne, wilde Tier“ – „geschaffen, Unheil anzustiften“. Das tut sie von Anfang an in einem puffigen Redlight-Ambiente der zeitlos modernen Art, dort sind die dauernd busenwackelnden Girls wie die bisweilen das Gemächt schlenkernden Boys sehr beautiful im gnädigen Glitzerlicht der verregneten Großstadt-Halbwelt. Und die bourgeoisen Spießer begaffen sie von außen. Pierre-André Weitz hat wieder eine seiner schwarz-raffinierten, feucht glimmenden Häuserlabyrinthschluchten gebaut.

Die verschiebt und öffnet sich auch auf engstem Bühnenraum höchst virtuos zu gut 30 Szenenwechseln mit immer neuen Zimmern, Cabarets, Revuetreppen und künstlichen Palmenparadiesen für ein paar Momente nicht wirklich unschuldsvoller Zweisamkeit. Am Ende formt sich nach deren Tod aus dem Sternenhimmel das jetzt reinweiße Lichtersymbol zum Namen „Manon“: Epiphanie einer zumindest zweifelhaften Heldin. Und des Grieux schlupft einfach unter dem schwarzen Tuch ins Hinterbühnen-Nirwana davon. Bis dahin freilich ging’s bergab, obwohl das Ambiente von Anfang an dem Spielerparadies Hôtel Transylvanie des vierten Aktes ähnelte. Immer schäbiger wurde das, irgendwann sind sogar  die Leuchtreklamen weg, und selbst für das Kircheninnere von Saint Sulpice muss ein simples Kruzifix herhalten.

Jules Massenets frivol puderiges, dabei so kraftvoll melodisches Meisterwerk von 1884 über ein gefallenes Material Girl glänzt traumschön wie immer in den Händen von Opernchef Marc Minkowski. Diese Musik aus Eleganz und Raffinement, Üppigkeit und sinnlicher Delikatesse, theatralischer Intensität, harmonischem Reichtum, Effektivität und Knappheit hat den sprichwörtlichen französischen Chic und Charme. Diese zärtlich-verdorbene „Manon“ wurde trotz ihres altmodisch anmutenden Koloraturwerkes und ihres sentimentalen Seiten nie von ihrer jüngeren, veristisch radikaleren Puccini-Schwester (von 1893) verdrängt.

 Besonders gut gelingt Minkowski die kontrastierende Zeichnung der betriebsam-realitätsnahen und der innig-traumhaften Szenen der Oper. Auch wenn er da seinen Massenet mehr in Richtung Puccini rückt. Mit prallen Farben, hohem Tempo, auslandender Dynamik und bewusst eingesetzten Härten. Das bestens bewährte Orchestre National Bordeaux Aquitaine ist ihm flexibler Partner.

Ausgewogen ist die Besetzung mit ihren vielen episodischen Rollen. Für Manons berechnend bösen Cousin Lescaut hat Alexandre Duhamel einen herrischen, überlauten  Kavaliersbariton, Laurent Alvaro lädt die Auftritte des Vaters des Grieux mit belcantesker Basswucht auf.

Manon, das sollte Nadine Sierra sein, die in dieser Vorstellung aber krank ist. Die ambitiös schnittige Amerikanerin hätte diese kaltherzig-intelligente, von Patricia Petibon kreierte Inszenierung sicher gut ausgefüllt, slicky, mit kühl-glamouröser Sexyness und strahlendem, ein wenig stählernen Ton. Jetzt aber singt die Zweitbesetzung, die gerade auch die Matineevorstellung am Tag zuvor bestritten hat: die in Neuseeland aufgewachsene Ägypterin Amina Edris, von Minkowski gefördert. Und die hat Wärme, Weiblichkeit, schmiegt sich schmusemuschimäßig im Negligée an ihren petite table. Da stirbt ein Mädchen mit zarten gewandten Tönen auch einfach an den Verhältnissen und sich verhauchend als femme fragile. Manon ist bei Amina Edris keine femme fatale, eher der fatalité, dem Schicksal ausgeliefert, wohinein sie freilich des Grieux hineinzieht.

Dieser zu Anfang als epische Ausrutscher Kant zitierende des Grieux wirkt ins einem grauen Anzug aufrichtig unbeholfen. Trotzdem präzise und genau ist jetzt schon seine Diktion, er phrasiert traumschön, hat Kraft, singt herrlich auf dem Atem. Benjamin Bernheim gelingt so ein rares Kunststück: Er singt die kräftezehrende Partie einerseits mit einer ätherisch leichten, typisch französischen voix mixte, also mit hohen Kopfstimmenanteilen. Doch er kann seinen perfekt durchgebildeten Tenor auch in italienischer Manier strecken, mit vor Leidenschaft berstenden, körperlich geerdeten und doch hochfliegend sichereren und freien Spitzentönen. Da macht sich dann Temperament los, der Tenortiger springt aus dem Tank. Wunderfein anzuhören, zumal Bernheim sorgfältig jedes Wort abwägt, mustergültig Text gestaltet, in den Musikfluss bringt.

Doch wie stets liefern in der Kirchenszene alle ihr Meisterstück. Massenet mit seinem zuckerwattig erotisierenden Glaubenskitsch samt Orgel und Nonnenchor. Bernheim als in der Priesterschaft sein Heil vor der Verführerin suchender, ihrem sinnlich zuckenden Fleisch natürlich erliegender, mit schönsten, rot glühenden Tenortönen vergeblich widerstehender des Grieux. Auch ein osmotischer Duopartner für Amina Edris, die hier wahrlich die Soprankatze auf dem heißen Operndach herauslässt. Da schmölze, falls vorhanden, selbst das schmiedeeiserne Chorgitter zwischen diesem ächzend und stöhnend außer sich geratenden Paar.

Wie geht es mit Benjamin Bernheim weiter? Da sind noch einige Rodolfos, Nemorinos und Alfredos, mit denen er in den letzten zwei Jahren von Paris über London, Berlin, Mailand und Wien an den großen Häusern debütiert hat. Alexander Pereira hatte ihn früh aus Zürich für kleinere Aufgaben mit nach Salzburg genommen, Minkowski hat ihn als Offenbachs Pequillo zu Pfingsten zurückgeholt. Ursprünglich war er auf Tamino (für den er eben selbst im strengen Wien gefeiert wurde), Erik, Matteo, Lenski, sogar schon Lohengrin gebucht. Der kann noch warten, wird aber sicher eine Option sein Jetzt sollen es zunächst einmal Italiener und Franzosen sein, wovon letztere wünschenswerter wären. Denn im französischen Fach ist Bernheim wirklich überragend. Es folgen aber in der nächsten Saison zunächst eine „Traviata“ und eine „Manon“-Premiere in Paris, das Herzog-Debüt im Münchner „Rigoletto“ Man kann sich aber jetzt schon auf Roméo, Werther, Hoffmann à la Bernheim freuen.

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Traumatisierter Kriegsheimkehrer: In Händels „Orlando“ im Theater an der Wien drehen eigentlich alle durch

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Hurra, die Bushaltestelle der Verlorenen, die sich in der Salzburger, inzwischen nach Berlin abgewanderten „Don Giovanni“-Inszenierung von Claus Guth drehte, sie ist wieder da. Diesmal freilich steht sie nicht im spanischen Wald, sondern im Theater an der Wien. Ihr Dach ist nicht aus Blech, sondern aus gebogenem Beton. Daneben prangt ein vergilbtes Plakat mit einem Strand und einer Bierflasche: „That’s Life!“, so macht es falsche Werbehoffnung. Hierin flüchten die, welche es in dem heruntergekommenen Bruitismus-Bungalow dahinter nicht mehr aushalten. Der steht zwischen Palmen und tropischer Vegetation, wohl irgendwo in Südamerika. Und auch sonst dünkt in dieser Guth/Christian Schmidt-Zurichtung von Georg Friedrich Händels schon später, dunkler, ausgezehrter Oper „Orlando“ nach dem „Rasenden Roland“-Epos des Ariost so einiges bekannt: die bipolaren, eher unsympathischen Charaktere; ihre Wahnvorstellungen in Gestalt von Figuren mit Tier-, konkret: Hundeköpfen; die Drehbühne als urban geschlossener Raum; die Düsternis und das Stehende Jetzt, der auf sich selbst zurückgeworfenen Figuren. Doch das Schema ist gekonnt ausgeführt und erfüllt. Und es gibt, neben einem passgenau besetzten Fünfer-Ensemble, einen seltenen Gast im Musiktheatergraben: den herrlich mit Tempi und Stimmungen abwechslungsvoll spielenden Giovanni Antonini samt seiner füllig wie fein intonierende Alte-Musik-Truppe Il Giardino Armonico. Da blüht zumindest akustisch der Händel-Garten in allen Farben.

Fotos: Monika Rittershaus

Gleich drei, ganz am Anfang und in der schon späten Londoner-Opernperiode Händels ab 1733 herausgekommene, mit magischen Elementen arbeitende Werke hat das Theater an der Wien diese Saison auf dem Premierenprogramm. Das nennt man Bühnenpädagogik der cleveren Art. Nach einer missmutig geratenen „Alcina“ und einem musikdramaturgisch spannenden „Teseo“ schließt diese Trilogie nun mit „Orlando“ ab. Wobei es hier natürlich keine Drachen, chinesische und afrikanische Royals und auch keine Schäferin zu sehen gibt.

Der Kriegsveteran Roland sitzt im schmuddeligen Sessel und stiert mit leerem Blick auf ein an die Wand projiziertes Killerspiel. Doch statt der grundbösen Feinde ist er nur mit einem ebenfalls in der Ecke dämmernden Kumpel und einem seltsamen Anwalt konfrontiert, der ihm seine abgelegte Knarre in die Hand drückt, um ihn wieder zur Tötungsmaschine zu aktivieren. Funktioniert aber nicht. Ist Roland doch längst nicht mehr auf dem Schlachtfeld, gehört ins Sanatorium. Sein Krankenbild sieht nicht gut aus: Posttraumatische Störung, emotional bedingte Schizophrenie. Nicht einmal die obsessiv an die Wand gepinnten Fotos seiner Geliebten Angelica können sein verdunkeltes Gemüt aufhellen.

Der komische Kumpel, der ihn in seiner leergeräumten, verlotterten Absteige aufrichten will, ist allerdings eine ebenso seltsam doppeldeutige Person. Denn eben noch torkelte er als Bierdosen knackender Penner in Trainingshosen im Erdgeschoss durch die Garage, wo ein schwarzer Wagen vergeblich wartet. Auch dieser rülpsende, pissende, gröhlende Zorastre, ein Magier, der nichts mehr zusammenzaubert, hat einen Sprung in der Barock-Schüssel. Und genauso ungebändigt, die Noten heftig attackierend, wuchtet ihn der pralle Florian Boesch mit kernigem Bassbariton auf die Bühne.

Doch Christophe Dumaux als Orlando hält sich auch nicht lange lethargisch zurück. Seine Lebenskräfte werden wieder angestachelt durch Angelica, die diesen ausgebrannten Kerl offenbar über hat und was mit dem Automechaniker Medoro beginnt. Was Roland zum Rasenden werden lässt. Seine Weltsicht trübt sich neuerlich ein, als Orlando furioso mutiert  er zur Liebeskampfmaschine, schmiert sich voll, haut gegen Wände, springt aus dem Zimmer, kämpft gegen Furien und Dämonen. Händel hatte die Rolle einst für seinen (sich unterfordert fühlenden!) Lieblingskastraten Senesino als mehrteilig ariose Tour de Force komponiert, wild und ungestüm, dann wieder leise klagend. Wusste er doch: Wer außer sich ist, der achtet nicht auf Gattungsgesetze, Mode und Konvention. Die Wahnsinnsarie ist deshalb in der Oper stets  ein Abenteuerspielplatz der Avantgarde, ein Experimentierfeld des Extremen. Eine Klaviatur der Emotionen wird so im „Orlando“ virtuos, behend und innovativ bedient, und Dumaux zieht mutig alle dramatischen Register, schmachtet, wütet, barmt und heult – ohne vokale Verluste.

Die anderen halten sich ebenso wenig zurück: Angelica ist eine gruftig schwarze Bitch, Anna Prohaska haut sie auch so auf die Stufen wie Stockwerke; wenngleich ihr zarter Sopran gerne die Töne von untern anschleift, ins Gurgeln kommt; Wahrhaftigkeit und unmittelbare Bühnenintensität steht über Singen aus dem Fiorituren-Lehrbuch. Medoro, auf den sie ein Auge geworfen hat, ist der zweite Countertenor. Raffaele Pe gibt ihm mit schön anschwellender Legatokultur und sattem Timbre. Als klangliche Kletterkindfrau präsentiert sich die bewegliche Giulia Semenzato. Die ist Dorinda und hat vor dem Bungalow einen Imbisswagon, wo sie als sexy Schneewittchen hinter dem Tresen steht. Ein eher gemischtes, nicht wirklich vertrauenswürdiges Personal.

Das wird von Händel, ohne viel Umwege durch eine klare Liebeshandlung geführt, mit knappen Rezitativen und wenig prunkenden, immer im packenden Dienst der Handlung stehend. Bei Guth kommt das, trotz sich wieder mal sparsam drehendem Ambiente, eher statisch daher, doch dekliniert er den Sturm der Befindlichkeiten psychologisch feinfühlig durch. Alle haben sie so ihre Ups and Downs und wenn am Ende Orlando großmütig Medoro Alcina überlässt, dann weiß man nicht, ob desser Frieden nicht ein tückisch trügerischer ist.

Ein bewährtes Team hat einmal mehr seine barocke Repertoireschiene variiert. Warum nicht? Hier passt es beinahe immer passgenau – ohne zur Masche zu werden. So wie ja auch Händel bei sich selbst borgte, adaptierte, seine Opern mit ihren hunderten Arien als genial genutzten Baukasten aus meist mit einem Twist neu zusammengefügten Versatzstücken benutzte. Aber bei ihm hebt es zumindest musikalisch stetig aufregend neu ab. Und so wie Giovanni Antonini höchst beweglich, klangscharf, aber auch mit größtmöglicher Finesse diese reiche Händelpartitur gestaltet, reliefartig gliedert, ihre Hochs und Tiefs mit Schwung wie Delikatesse toll bewältigt. Und sie bisweilen auch fast zum Stillstand bringt. Allein schon für den buntschillernden Instrumentalpart hatte sich dieser schwarze und trotzdem spannende Depressionsabend gelohnt.

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Bogota Música Clásica Festival I: Gold im Museum und Gold von Schubert, Brahms und den Schumanns auf der Bühne

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Kolumbien? Kultur? Klassik? Da fällt mir zunächst außer Präkolumbianischem nicht viel ein. Und dann doch. Der Dirigent Andrés Orozco-Estrada kommt aus Medellín. Der studierte freilich seit er 20 war in Wien. Aber er hat doch da noch immer was mit Jugendorchestern laufen. Und waren nicht die Wiener Philharmoniker kürzlich in Bogotá? Dann gab es noch diese Einladung auf Tourneemitfahrt mit dem Deutschen Symphonie-Orchester vor einigen Jahren zu einem neuen Klassikfestival. Die wurde aber, wie auch die Tour, wieder gecanelt, der Veranstalter hatte nicht genug Geld. Und jetzt die neuerliche Anfrage: Festival Internacional de Música Clásica de Bogotá, in der Karwoche. Zum vierten Mal findet es statt. Dreieinhalb vollgepackte Tage, ganz der deutschen romantischen Musik gewidmet. „Bogotá es Brahms, Schubert, Schumann“. Beide sogar, auch Clara, dieses Jahr 200. Geburtstag feiernd, kommt ausführlich vor. Die Kodirektorin Yalilé Cardona lebt in Wien und erklärt: Es ist ein wenig wie die Folle Journée in Nantes, viele Konzerte zu einem Thema an einem Tag.“ Viel Begeisterung also, Musik als Masse, aber wer möchte bekommt auch ungeahnt viel mit und geboten. Bogotá war schon Beethoven, Mozart und russische Romantik. Jetzt sind wieder die Deutschen dran. Also, warum nicht? Mindestens schließt sich ein weiterer weißer Fleck auf meiner Weltmusikkarte.

Weit, weg ist. Sehr weit. Das merkt man immer dann, wenn die Monitorkarte vor dem Flugzeugsitz nur offenes Meer anzeigt. Lange Strecken über Festland zählen irgendwie nicht. Unten schweben Wolkenfetzen, die glitzernden Wellen sehen von hier oben sehr friedlich aus. Reine Poesie. Für Bogotá allein hätte sich der Trip freilich nicht gelohnt. Hier lebt zwar ein Sechstel des 49-Millionen-Volkes im zweitbevölkerungsreichsten südamerikanischen Staat nach Brasilien. Aber die neun Millionen habe sich in gerade in den letzten Jahrzehnten sehr unordentlich über dieses 2600 Meter zählenden Andenhochtal ergossen. Das sieht man vom Kloster Montserrate aus, auf den eine bequeme und entsprechend vielfrequentierte Zahnradbahn fährt.

Ein unendlicher Häuserteppich, mit Grün dazwischen, denn sehr oft regnet es. Die Jahreszeiten machen kaum einen Unterschied.

Viele Hochhäuser, wenig schön, in der nicht sehr gepflegten Stadtmitte. Das fantastische Goldmuseum, vor dem sie Riesenarscharmeisen als Aphrodisiakum verkaufen und mit hier gar nicht heimischen Lamas zum Reiten locken. Das von ihm mit einer Sammlung als Schenkung ausgestattete Botero-Museum, sehr reinlich und schön hergerichtet, in einem prächtigen Kolonialpalast mit modernen Anbauten. Mein Fall sind die gefälligen Dicken nicht, aber er hat eine überraschend gute Sammlung mit Werken anderen Künstlern dazugegeben.

Gegenüber liegt lethargisch die Nationalbibliothek in rostigem DDR-Charme, es gibt quirlige Lokale mit üppig-rustikaler Kost in alten Villen. An der Placa de Bolívar stehen sich das geballte Katholikentum in Barock, als bruitistisches Bollwerk der erst in den Achtzigern zuletzt bei einer Revolte zerstörte Justizpalast, das von einem Franzosen leicht mit Jugendstil überhauchte Rathaus und das Parlament im neoklassizistischen Kapitol gegenüber. Es gibt goldüberladene Kirchen und eine öde Kathedrale, in der die unbefleckte Empfängnis eben restauriert wird.

Und dann gehen schon die ersten Konzerte los. Hauptspielort und Veranstalter des Musikfestes in das Teatro Mayor das im Norden liegt, wo die Reichen wohnen. Die wollten nicht immer so weit zu den im alten Zentrum platzierten Vergnügungsstätten, also kam man ihnen entgegen. Vor neun Jahren. Viel Beton und Klinker, ein praktischer, nüchterner Zweckbau. Aber mit Möglichkeiten. Es gibt eine riesige öffentliche Bibliothek und eine weiträumige Kinderabteilung, behinderte Jugendliche sind in eine eigene Veranstaltungsreihe eingebunden. Das von einer Frau gemanagte Orquesta Filarmonica de Bogotá spielt einmal die Woche, fast das ganze Jahr über. In den Fluren hinter dem Bühneneingang hängen wie überall die unterschriebene Plakate von denen, die schon alle da waren: Gergiev, Nagano, Mehta, Fleming, Barenboim, Mattila, das Leipziger Ballett, das aus Monte Carlo, die Hamburger Oper – und in zwei Wochen kommt Simon Rattle mit seinem London Symphony Orchestra. Das Südamerika-Geschäft mit der Klassik läuft als wieder ganz ordentlich nach der Wirtschaftsdelle in Argentinien. Kolumbien ist im Kommen, mal sehen, was mit Brasilien wird.  

Festivalplakate sieht man an vielen Bushaltestellen, in den Kinos und im Fernsehen wird mit Romantikspots geworben. In Pastelltönen präsentieren sich die Silhouetten der Fab Romantic Four, gemeinsam und auch einzeln. Clara hat weiße Gesichtsfarbe, die anderen sind ein wenig gelblich angelaufen. Im jetzt gut gefüllten Foyer steht das Bogotá-Logo mit dem Star – 2600 Meter näher an den Sternen. Daneben kleben und liegen als Pforten, Puppentheater, Banderolen, Stelen die deutschen Komponisten.

Es beginnt – ganz intim und innerlich. Mit dem Liederkreis nach Eichendorff von Robert Schumann im kleinen Saal. Begrüßung, Dank an die Sponsoren, die Ermahnung, zwischendurch nicht zu klatschen. Im geradlinig holzwärmenden Teatro Estudio mit seinen 300 Sitzen ist es still und konzentriert, kein Husten, kein Handy. Und wenn im dritten Lied der in der Höhe etwas dünn gewordene, gleichwohl prima textverständliche und souverän deutende Christoph Prégardien mit seinem formidablen Klavierpartner Roger Vignoles von „der Hexe Lorelei“ singt, dann ist das wieder so ein Moment, wo man als Deutscher einfach angerührt sein muss, wie hier die Kolumbianer der deutschen Kunst förmlich an den Lippen hängen. Tausende Kilometer und soziale Welten vom Rhein entfernt. Doch der zarte Zauber dieser Musik, wie nach der Pause auch der der „Dichterliebe“, er hält alle gefangen. Mögen die deutschen Musikspiele beginnen! Vielleicht ist hinterher Bogotá wirklich ein bisschen Clara, Robert, Johannes und – als österreichischer Vetter – Franzl.

50 Konzerte, 12 davon gratis, an 12 Standorten vom Konzertsaal über Museum, Kirche, Stadtteilcenter, Bibliothek in ganz Bogotá verteilt, wurden in die drei Tage geschaufelt. Drei Orchester, eines auf alten Instrumenten spielend, kommen aus Europa und treffen auf vier lokale Klangkörper. Dazu kommen fünf Chöre, einer aus Wien. Sieben Dirigenten, 33 Solisten, vier Quartette, ein Trio und ein Ensemble haben sich, die meisten zum ersten Mal, aus 15 Ländern nach Kolumbien aufgemacht. Das erste große Konzert aber ist dem Hausensemble, dem Orquesta Filarmonica de Bogotá, vorbehalten. Der vorwiegend in den USA arbeitende deutsche Dirigent Eckart Preu gibt sein Debüt mit Schuberts Rosamunde-Ouvertüre, die zunächst ein wenig wie auf ausgelatschten Socken daher schlurft, aber schnell an Fahrt gewinnt.

Ordentlich wird Brahms 4. Sinfonie absolviert, die Hörner klingen mulmig, alles wirkt watteweich abgefedert. Dafür spielte zuvor die reif gewordene Lise de la Salle ihre Calling Card – das Schumann-Klavierkonzert – mit Verve und rhythmischer Pikanz. Und gibt, glitzerig armefrei, ein zärtlich ausgekostetes Schubert-Ständchen zu. Das Publikum liebt offenbar auch hier den Klatschmarsch.

Im Hotel, in jedem Theaternebenraum wird geübt, bei dem Mammutprogramm zählt jede Probenmöglichkeit und Minute. Auf sechs Konzerte komme ich am ersten Komplett-Festivaltag. Draußen hat es sich kräftig eingeregnet, Wasser spritzt und steht auf den Straßen, derer man – die Entfernungen zwischen allem sind lang – viele sieht. Witzige Viertel mit einer eklektischen Häusermischung zwischen orientalisch, spanisch und Tudor ziehen vorbei, schrille Kirchen, auch eine Moschee, viele Backsteinbauten, betonverschlungene Autobahnkreuze. Alles bröckelt, es herrscht würdevolle Tristesse, aber ein paar feine Viertel sind auch darunter.

tEs beginnt frühmorgens mit einer halben Stunde Trio Alba. Die ausgezeichneten Österreicher vertiefen sich Schuberts sehnsuchtsvolles 2. Klaviertrio B-Dur. Nach zwei Sätzen muss geschieden werden, im großen Saal lockt das Dresdner Festspielorchester, erstmals auf Auslandstour, unter Josep Caballé-Domenech. Der Ex-Hallenser GMD zwirbelt sie durch eine rasch, harsch, und knapp genommene Schumann-Zweite, das es knallt und knistert. Das auf alten Instrumenten spielende Projektorchester legt einen schnittigen Lauf hin. Und wieder kommt Rührung auf, wenn sich ein kolumbianischer Universitätschor, umschmeichelt von Brahmschen Streicherläufen an Schillers „Nänie“ und dem „Schicksalslied“ formvollendet die Latinozungen bricht. „Auch das Schöne muss sterben! Das Menschen und Götter bezwinget, / Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.“ Und solches in Bogotá!

Ab ins Auto, das Nationalmuseum wartet. Zum Glück sind die Straßen leer, über Ostern ist offenbar halb Bogotá, Stadt der Migranten, nach Hause oder aufs Land gefahren. Das Museum war früher ein Gefängnis, interessant, wie die relativ neue Dauerpräsentation in die kreuzförmig angeordneten Zellen und Gänge geschachtelt wurde. Der Konzertsaal hat rustikalen Charme, im Gegensatz zu den Frühkonzerten im Teatro Mayor ist er voll, auch hier behält das Publikum am liebsten die Jacken an, denn ein wenig klamm ist es. Doch das großartig harmonierende französische Quatuor Modigliani macht warm und heizt ein, mit einem musikalisch glanzvoll synchronen Schubert-Quartettsatz, dem tiefsinnigen 3. Brahms—Quartett B-Dur op. 67 und dem treffsicher und großflächig ausgebreiteten 3. Schumann-Vierer A-Dur op. 41 mit seinem tiefsinnig-dichten Adagio molto.

Schnell zurück zum Theater, kaum bleibt Zeit zum Essen, der Krabbencocktail mit scharfer Sauce an einem der Foyerstände des Theaters erweist sich als gut gewählt. Eine halbe Stunde mit dem Fusión Filarmónica Juvenil, OFB, der Best of der vier Jugendklangkörper, die das philharmonische Orchester auch noch mitbetreibt, zu den 20.000 Schülern, das es mit seiner dezentralen Jugendarbeit erreicht. Und die juvenile Best of gewinnt auch spielend den Hauptpreis für das bestangezogene Festivalorchester. Die Abendkleider der zahlreichen Damen sind eine Augenweide, so wie sich auch die griechische Dirigentin Zoe Zeniodi vor allem optisch gut verkauft.  Die Schumann-Erste als Hochzeitsgeschenk-Hommage an Clara lassen wir so durchgehen, repertoirewertvoller war die seltene Begegnung mit Claras Klavierkonzert op. 7. Und wieder veredelt eine kraftvoll symbolisch zubeißende Lise de la Salle (heute einärmelig weiß) die einfach gestrickte Virtuosen-Façon der damals 13-Jährigen. Und das auf einem plötzlich verstimmten, heftig klappernden Flügel.

Im kleinen Saal hat gleichzeitig bereits der Wiener Volksopern-Bariton Günter Haumer, im wahren Leben Ehemann von Direktorin Yalilé Cardona und auf der Bühne gerade noch Thielemanns Salzburger Konrad Nachtigall, bereits mit der „Winterreise“ begonnen. Die Textverständlichkeit könnte besser sein, aber die Stimme strömt besonders in den langsamen der 24 „schauerlichen“ Lieder ebenmäßig edel, die Interpretation ist angenehm geradlinig und schlicht, verliert sich nicht in Manierismen. Und wieder ist Roger Vignoles ein zurückhaltend subtiler Mitgestalter.

Noch einmal großer Saal und große Geste im 1300-Plätze-Auditorium mit seinen zwei rohen Betonrängen und den atmosphärisch leuchtenden Holzkästen im Konzertzimmer auf der Bühne. Die Akustik ist etwas trocken, der Amerikaner Robert Treviño setzt dem bereits in Schumanns Genoveva-Ouvertüre robuste Lautstärke entgegen. Das Antwerpener Sinfonieorchester kontert solches professionell. So wie es auch das Brahms-Violinkonzert mit prächtigem Klangrahmen anfüttert. Vor dem Ray Chen golden leuchtet. Der allzu smarte, in Australien aufgewachsen Taiwanese kommt nicht mehr ganz so glattgebügelt daher, wie noch vor einigen Jahren. Er spielt mit strahlend sicherem Ton, sucht durchaus Zwischentöne, ein leise nachhängendes Verharren im Adagio, aber die angeborene Brillanz des Werkes lässt ihn dann doch hin und wieder in den Honigtopf des Wiener Caféhausgeigers greifen. Ein angemessener Tagesabschluss, die Zweite-Brahms lasse ich aus, die wäre jetzt wie zu viel Sahne auf dem Eisbecher; zumal Chen (wie schon vor ihm de la Salle mit Bach) in der Zugabe den vorgeschriebenen Komponistenkanon verlässt. Als Hommage an Australien schmalzt er „Walzing Matilda“!

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Bogota Música Clásica Festival II: Preziosen in der Kirche, Präzision im Teatro Cólon. Und eine Stampfeinlage

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Gründonnerstag war es ruhig in Bogotá, Karfreitag geht es schon wieder belebter zu, zumindest im Zentrum. Lange Schlangen, lärmige Händler inklusive, an der Zahnradbahn. Und vergleichsweise wenige Leute auf der Placa Bolivar, wo jetzt eine Prozession startet. Manche Gläubige knien, manche scheinen es aber als ein weiteres Volksfest zu begreifen. Um den Platz verteilt stehen Polizisten in Galauniform mit einer Art von preußischen Pickelhauben. Sie halten jeweils Bilder der einzelnen Kreuzwegstationen hoch, an denen bald der Bischof vorbeiziehen wird, der gegenwärtig noch vor der Kathedrale zwischen blutigen und ehrfürchtigen Heilgenstatuen zelebriert. Hier ist offenbar Kirche und Staat noch sehr eng verwoben. Eigentlich wollten wir Früchte probieren, aber der Markt hat geschlossen. Also geht es stattdessen ins Museo Santa Clara, ein ehemaliger Nonnenkonvent und die prächtigste Kirche der Stadt. Wir sind im sagenhaften Eldorado, und ist auch hier die Altarwand goldüberkrustet. Viele Bilder warten auf Anbetung, unter den Statuen stehen farbenfrohe Keramiktöpfchen, in denen offenbar Opfergaben gebracht wurden. Verborgen Türen führen zu schmalen Beichtnischen, hinter der Wand ist ein Gang, von wo aus die Nonnen auf ihre Plätze huschen konnten.

Mitten in einer belebten Gasse nicht weit, Straßenhändler verkaufen lautstark Fruchtsaft, Irgendwelche Kokosgelees, frittierte Kochbananen und Kartoffelchips, liegt das historische Teatro Colón. Golden und samtrot glänzt es. 2010 wurde es renoviert, Blumensträuße stehen im neoklassizistischen Foyer. Der Italiener Pietro Cantini hat es entworfen und 1892 wurde es anlässlich des 400. Jahrestages der Entdeckung Amerikas mit Verdis „Ernani“ eingeweiht. Die 700 Plätze sind selbst am Karfreitagmorgen ganz gut gefüllt, wenn hier ein österreichisches Trio Schubert spielt. Noch dazu das traumverlorene Notturno b-moll D897. Angeblich soll Schubert für das erste Thema eine Liedmelodie der Rammpfahlarbeiter aus Gmunden verwendet haben. Und die wird nun bis nach Kolumbien getragen…

Es schließen sich Clara Schumanns Klaviertrio und das davon inspirierte erste Trio d-moll ihres Gatten Robert an. Wunderbar getragen, intensiv, gespannt erklingen diese deutschen Klänge, gespielt vom Trio Alba. Hier wird zwischen den Sätzen geklatscht, nach der Pause erfolgt die entsprechende Ansage. Mit dem Hinweis, dass auf der letzten Seite des Programmbuchs (die sind kostenlos und es gibt drei: für den Großen wie Kleinen Saal im Teatro Mayor und für die Zentrumskonzerte) Platz ist für Autogramme der jeweiligen Lieblingskünstler. 

Zeit, ein wenig abzuschweifen, über Bogotá und die Deutschen nachzudenken. Wobei wir jetzt mal das angebliche CIA-Foto vergessen wollen, das Hitler 1955 in Kolumbien zeigt. Die ozeanübergreifenden Kontakte sind meist gar nicht braun und schon viel älter. Bogotá wurde formell und juristisch im April 1539 gegründet – von dem spanischen Conquistador Sebastián de Belalcázar und dem Ulmer Hauptmann und Handelsagent Nikolaus Federmann, der im Dienst der Augsburger Welser stand und El Dorado suchte. Vorher war er Statthalter über Klein-Venedig (Venezuela) gewesen. Seit 1968 ist nach Federmann ein Sektor des Stadtbezirks Teusaquillo benannt, auch ein Park und eine Klinik tragen seinen Namen. Und im Nationalmuseum liegt mitten in einem Gang die Grabplatte des Arnsbergers Justus Wolfram Schuttelius (1892-1941), der als Pionier der kolumbianischen Archäologie hochverehrt wird.

Seit sich in Südamerika die Dinge in Brasilien und Venezuela verschlechtern, sind die Kolumbianer, die vorerst in ihrem Land mit den Drogen und der Korruption zumindest großflächig aufgeräumt haben, für die Deutschen wichtigere Partner geworden. Nicht nur der Kaffeehandel und auch der Tourismus florieren (9 Prozent Zuwachs im letzten Jahr), man arbeitet besonders beim Klima- Und Regenwaldschutz enger zusammen.

Unübersehbar scheint aber vor allem auch die kolumbianische Vorliebe für deutsches Essen. Da gibt es Buden mit deutscher Wurst am Straßenrand, auch ein Oktoberfest findet statt. Die Speisekarten haben immer wieder Sopa Germana (mit Linsen und Kartoffeln) und Chorizo Aleman auf der Liste. Doch das wichtigste deutsche Kulturgut im Land heißt – Bavaria. Und ist natürlich eine Brauerei und frühere Biermarke. Das im Jahr 1889 von dem Offenbacher Leo S. Kopp (hier liebevoll „Don Leo“ genannt) gegründete Unternehmen (der erste Firmensitz gegenüber dem Nationalmuseum beherbergt aktuell eine posche Galerie) ist heute mit einer Produktion von 331 Millionen Hektolitern der größte Bierhersteller Kolumbiens sowie der zweitgrößte Südamerikas. Bavaria S.A. gehört seit 2005 zum Biergiganten SABMiller, einem Tochterunternehmen von Anheuser-Busch. Die Firma beschäftigt über 16.000 Mitarbeiter und hat Produktionsanlagen in allen größeren Städten Kolumbiens sowie in Ecuador, Peru und Panama.

Dass die an Chicha (Maisschnaps) und Guarapo (gegorener Zuckerrohrsaft) gewöhnten Kolumbianer nachhaltig zum Biertrinken bekehrt wurden, gereichte später einer gewissen Familie Santo Domingo zum Wohle, eine Erfolgsgeschichte, wie sie die Weltwirtschaft nur selten kennt. Durch die Enteignung der Familie Kopp im Zuge der Kriegserklärung Kolumbiens an das Deutsche Reich, kam Julio Mario Santo Domingo später in Besitz von 75 Prozent des Aktienpaketes. Und dank ökonomisch weiser Winkelzüge, Zukäufe und Fusionen wurde man zur reichsten Familie Kolumbiens. Bavaria ist heute für 98 % des kolumbianische Bierausstoßes verantwortlich. Und als die Santo Domingos 2005 verkauften, sollen sie ihr Vermögen um 7,8 Milliarden Dollar auf 15 Milliarden aufgestockt haben.

Einen icht unbedeutenden Teil davon besitzt übrigens Tatjana, das in Europa bekannteste Mitglied der Santo Domingos: die heute 35-Jährige heiratete 2013 in die monegassische Fürstenfamilie ein, indem sie Andrea Casiraghi, den ältesten Sohn von Prinzessin Caroline ehelichte. Dreifache Mutter ist sie inzwischen.

Warum so viel Bier- und Bunte-Geschichten, wo es hier doch um ein Musikfestival geht? Weil das Teatro Major, der Hauptspielort des Festival International de Música Clásica, vor neun Jahren von der Stiftung der Santo-Domingo-Familie der Stadt geschenkt wurde, benannt ist es im Untertitel nach Tatjanas Großvater, dem 2011 gestorbenen Julio Mario Santo Domingo, der die entscheidenden pekuniären Grundlagen gelegt hatte. Teutonisches, Bier und kolumbianisches Geld als harmonischer Kultur-Akkord. Und jetzt also ganz viel deutsche Musik. Umso seltsamer, dass weder der deutsche Botschafter noch das Goethe Institut Präsenz zeigen. Kein Grußwort, kein Empfang, kein Konzertbesuch…

Und dort, im Teatro Mayor, Sala Mayor, sind wir jetzt auch wieder, es geht weiter mit deutscher Romantik. Der vokalen Eigenart. Die ist nämlich ein weiterer Schwerpunkt von „Bogotá ist Brahms, Schubert, Schumann“ wie die vierte Festivalausgabe heißt. Fälschlicherweise als Sängergala angekündigt geht vielmehr als Verdauungsbeschleunigung frühmittäglich eine Schubertiade vonstatten, ein Sängertreffen, das sich in Duos, Trios und Quartetten von allen drei Komponisten verlustiert. Seltenst ist solches stimmliche Zwiegespräch nur noch in deutschen Landen anzutreffen, denn den meisten Veranstaltern reicht schon ein Liedsänger. Hier waren es derer gute vier: die akzentfreie Spanierin Elena Copons, der Mezzo Iris Vermillion, Tenor Christoph Prégardien und Bariton Günter Haumer.  Der gute Klaviergeist – natürlich Roger Vignoles

Das Publikum, das wie stets hier in der letzten Minute den zunächst leer anmutenden Saal füllt, hat seinen Spaß und war gerührt von den fein verschmelzenden Sangesorgangen. Zumal alle vier die Texte, die über der Bühne mitliefen, genüsslich zu servieren wussten. Ob Schumanns sonnig-selige Rückert-Vertonung „Ich bin dein Baum: o Gärtner, dessen Treue Mich hält in Liebespfleg‘ und süßer Zucht“, das terzmelancholische „Wenn ich ein Vöglein wär“, Schuberts fast als szenischer Sketch samt stumm grimassierender Vermillion dargebotener „Hochzeitsbraten“, Brahms’ schwelgersche „Schwestern“ oder die ersten 18 der Liebesliederwalzer als Quartett, man erfreute sich an diesem raren Repertoire, Ausführende wie Zuhörende.

Die Abendkonzerte sind hier immer gewichtig Orchestrales. Den Auftakt am zweiten Festivaltag, die Halbzeit ist schon vorbei, machen wieder die Dresdner. Das Festspielorchester erweist sich als der mit Abstand beste der hier auftretenden Klangkörper. Und unter Johannes Klumpp legen sie nochmal einen Zahn zu. Romantisch schwelgt, aber klar abgezirkelt stukturiert ist Brahms’ Tragische Ouvertüre. Zum Schumann-Cellokonzert gesellt sich dann Jan Vogler, der Dresdner Festivalchef und Hans-Dampf-in-allen-Gastiergassen, dazu. Sein eher elegisch-verschleierter Ton bietet einen starken Kontrast zum hellen, kurz angebundenen, temperamentknalligen Spiel des Orchesters. Auch spielt er mit allzu wenig Atem und freiem Rhythmus. Eine arg metronomische Angelegenheit.

Klumpp aber nutzt dann für Schuberts Unvollendete gerade die klaren, offenen, hellen Spielqualitäten des Orchesters für eine sorgsam austarierte, trotzdem ungezwungen dramatisierte Version der zwei so unterschiedlichen visionär-melodieseligen Sätze. Eine tolle, hervorragend gespielte Leistung – leider geschmälert durch die zirkushaft zerrissene Zugabe von Brahms’ Ungarischem Tanz Nr. 6. Sogar mit Stampfeinlage und Hüftwacklern wie beim alten Lennie B. Ob der gute Mann morgen dann gar wohl beim Deutschen Requiem zum Festivalfinale etwa noch den Radetzky-Marsch drauflegt?

Den Abschluss eines langen Konzerttages bildet Stephen Hough mit dem 1. Brahms-Klavierkonzert. Der Brite spielt den Brummer ungerührt, elastisch, sachlich, brillant. Eine Wohltat nach so vielen oft dickwattigen Annäherungen der Kollegen. Nur leider verharrt die Philharmonie Konstanz unter dem gemütlichen Finnen Ari Rasilainen bei einem arg romantisch weichen Brahms. Das passte nicht wirklich zusammen. Auch in Bogotá, so nahe an den Sternen, ist nicht alles eine Sternstunde.

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Bogota Festival Música Clásica III: Ekstase im Dorf, Enthusiasmus im Konzertsaal

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Dritter und letzter Tag beim Festival Internacional Música Clásica de Bogotá. Ermüdungserscheinungen? Eigentlich nicht. Bei Brahms, Schubert und den Schumanns (bei Clara allzumal) gibt es auch jenseits der hier beinahe komplett aufgeführten Sinfonien und Konzerte eine Überfülle zu entdecken. Ich bedauere eher, dass für die Kammermusik, gerade auch in ausgefalleneren Formationen, für Chorwerke und Lieder in diversen Besetzungen wenig Zeit bleibt. Wann hat man schon mal die Gelegenheit, drei Werkkataloge in einer solchen Fülle ohne Ablenkung und Anrechnung durch andere Handschriften (außer gelegentlich in den Zugaben) live mit durchzudeklinieren? Auch wenn die Konzerte zwischen einer und zwei Stunden lang sind, undurchsichtigerweise mal mit, mal ohne Pause, man schafft sowieso nicht alle. Zu nahe liegen die 50 Termine an drei Tagen zusammen, zu weit sind die Entfernungen zwischen den immerhin 15 Spielstätten in der immerhin über die Ostertage einigermaßen verkehrsflüssigen Mammutmetropole. Und zu begrenzt ist die menschliche Aufnahmefähigkeit. Spätestens nach dem sechsten Konzert an einem Tag ist Schluss. Und trotzdem sind alle entspannt, freudig am werkeln, die Organisation mit hunderten von Musikern klappt reibungslos; auch wenn nicht jeder den Konzertsaal vor dem eigentlichen Ereignis zu sehen und zu hören bekommt.

Heute geht es frühmorgens, der Wetterradar ist inzwischen auf Platzregen mit wenigen sonnigen, dafür schwülen Abschnitten eingestellt, wieder in die Innenstadt; aber zu einer anderen Spielstätte: Teatro Colsubsidio Roberto Arias Pérez. Das gehört einem Dienstleistungskonzert namens Colsubsidio, der hier einen ganzen Block bebaut hat, Supermarkt und Bürohäuser inklusive. Von außen wirkt es, wie so vieles hier, etwas schäbig und ungepflegt, doch das unauffällig eingebundene Theater erweist sich als elegant und stylish. 1981 eröffnet, hat es zwei Ränge mit kojenartigen Logen, eine breitgezogene Bühne, Foyers mit witzigen Lüstern, Spiegeln und kinetischer Kunst – jede Modeproduktion würde ein solches Ambiente adeln.

Hier gilt ebenfalls: Alle kommen in letzter Sekunde, man ist aufmerksam gespannt, aber oft hat man vergessen, das Handy auszuschalten. Nach der Pause klingelt es gleich zweimal, ortsüblich schrill, der subtile Tremolo-Beginn von Schuberts 15. Streichquartett muss dreimal wiederholt werden. Doch das Mandelring Quartett, das jetzt als puristischer Vierer auftritt, steckt das lächelnd weg.

Vorher freilich hat man sich nicht nur vor wechselnden Hintergrundprojektionen (Milchstraße, Wolkenhimmel, unscharfe Straßenschluchten) eingefunden, sondern auch in wechselnden Ergänzungen: Zum zweiten Streichquintett von Brahms gesellte sich Laurent Marfaing, der Bratscher des Quattro Modigliani. Zu Schumanns Klavierquartett fand sich der hier lebende und seit seiner Gründung 2003 fest beim Orquesta Sinfónica de Colombia spielende Russe Sergei Sichkov am Flügel ein. So gelingen konzentrierte, dichte, immer glasklar die Strukturen der jeweiligen Werke offenlegende Interpretationen.

Das war so intensiv, dass das eigentlich hinterher angepeilte Konzert mit Iris Vermillion, „Frauenliebe und Leben“, Clara-Schumann-Liedern und Brieflesungen leider nicht zu schaffen war. Aber auch der Food Court im nachbarlichen Supermarkt am Theater („Super“ ist hier wörtlich zu verstehen) bietet schnelle, schmackige Abwechslung zu dem dann doch schnell faden, weil überschaubaren Angebot an den Foyer-Ständen. Weiter geht es durch den Regen nach Suba, in ein ehemaliges Dorf auf einem Hügel, das längst von der gefräßig urbanen Fülle Bogotás umspült wurde.

Vor der Iglesia de Inmaculada Conceptión drängeln sich die Menschen, Kinder, Alte, Behinderte, alles dabei, nur freudestrahlende Gesichter. Gleich singt der WebernKammerchor der Wiener Musikuniversität gratis Chorsätze aller Festival-Komponisten. Die Tür bleibt offen, damit auch die noch draußen Drängelnden zuhören können, viele stehen, Hunde bellen, Autos hupen, Baby glucksen, Handys klingeln. Stört alles nicht, die Leute lauschen, atmen mit, klatschen sich nach jedem Block immer mehr Ekstase.

„Waldesnacht, du wunderkühle“, intoniert der feinbalancierte Chor glasklar Brahms vor der goldenen Altarwand, wo vorher noch schnell der Tabernakel geschlossen wurde. Es haucht sich aus mit Mozarts „Ave verum“ und als zweiter Zugabe einem kolumbianischen Wiegenlied, das den Beifall fast durch die Decke treibt.

So bleibt Zeit, die uniforme Chorkleidung zu studieren, immer ein großes Thema. Leiter Alois Glassner trägt eine rote Krawatte, bei den Männern spitzen rote Einstecktücher aus den Sakkos. Nur die Damen machen Freestyle mit ihren roten Blumen – im Haar, am Busen, am Revers, am Gürtel, mal operettig mit Pailletten und Federn, mal puristisch; eine hat sie gar durch rote Ohrringe ersetzt.

Wieder im Teatro Major ein letztes Mal. Das Reich von Ramiro Osorio Fonseca, der Chef des Theaters wie des Festivals. Der silberhaarige, feingliedrige Mann ist in Kolumbien so etwas wie ein Meister aller Kulturklassen. Er war in den Neunzigern ein Jahr Kultusminister, hat das Amt quasi als Architekt überhaupt erst eingerichtet. Außerdem wirkte er als Direktor des Iberoamerikanischen Theaterfestivals und als Generaldirektor des ARTeria-Projekts. Er war Berater der UNESCO und leitete sowohl das mexikanische Festival Cervantino de Guanajuato von 2001 bis 2006 wie 2005/06 das Festival de Sevilla Entre Culturas. Er kümmerte sich am in Madrid ansässigen iberoamerikanischen Generalsekretariats um die Kultur und war auch in den Neunzigern Botschafter. Er war 1994 in Mexiko. Seit neun Jahren schließlich ist er Direktor des Teatro Mayor sowie des seit seit 2013 abwechselnd mit einem Theaterfestival abgehaltenen Festival Internacional Música Clásica de Bogotá.

Das wollte die Stadt unbedingt haben, nachdem man 2012 von der Unesco zur City of Music erklärt wurde. Sieht die Stadt doch Musik als Motor für soziales, kulturelles und auch wirtschaftliche Entwicklung. 8 Millionen Einwohner, zu denen auch 68 indigene Gruppen gehören, vereint in der Musik, vor allem in den populären „Festivales Al Parque“, die es für Rock. Pop, Salsa, Folklore und Oper gibt. Das Programm startete 1995, mehr als 600.000 Besucher verzeichnen die inzwischen mehr als 60 Festivals an 400 Spielstätten. Nur ein großes Klassikfestival, das fehlte noch.

Der wachsende Ruf des Festival Internacional Música Clásica de Bogotá scheint sich in der ziemlich kleinen Musikerwelt herumzusprechen. Yalilé Cardona, die einige Künstler auch über die eigene Agentur gecastet hat, erzählt, wie einfach es war, für Kolumbien zu begeistern. Und beinahe alle sind sie extra gekommen, Jan Vogler gastiert anschließend in Florida, das Philharmonische Orchester Antwerpen tourt weiter nach Brasilien. Und die lokalen Musiker können sich konzentriert inspirieren lassen.

Jetzt ist aber der Geiger Johannes Fleischmann dran, der sich vor allem der Kammermusik widmet. Im Studio spielt er, wieder ist Sergei Sichkov sein Klavierpartner, Romanzen von Clara Schumann, die FAE-Sonate von Schumann, dessen Schüler Albert Dietrich und Brahms, Schumanns Violinsonate und das Rondo brillante von Schubert – alle mit spröden, hartem Ton, Akkuratesse und gestalterischem Feingefühl.

Zum Festivalfinale – diesmal ist es legitim – wartet dann im großen Saal ein Requiem, das „Deutsche“ natürlich, von Johannes Brahms. Immerhin verhallt das versöhnlich: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an / Ja der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.“ Vorher freilich hat es Johannes Klumpp am Pult des Dresdner Festspielorchester aber auch ganz schön, aber diszipliniert krachen lassen. Erstaunlich, was nicht einmal 30 Streicher doch für Lautstärke entfesseln können. Der Chor – einheimische Jugendliche und das Opernensemble – bringt viel Fantasie in der Diktion auf, klingt aber üppig und verinnerlicht zugleich. Nich sonderlich gut aber sind die spanischsprachigen Solisten, wabbelig der Bariton, zu unruhig der Sopran. Macht nix, der Saal jubelt erneut hell und lang, das Entzücken wie der Enthusiasmus sind übergroß.

Und wird nochmals lauter, als Fonseca und Cardona das Festspielthema für 2021 verkünden: Bogotá es barroco! Schon der Musiktrip zur deutschen Romantik in Kolumbien hat sich gelohnt.

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Daniele Gatti und das Concertgebouw Orchest: Kapitel abgeschlossen?

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Deckel zu, Angelegenheit erledigt? Denken das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester und ihr ehemaliger Chefdirigent Daniele Gatti, der letzten Sommer überraschend und mit sofortiger Wirkung gefeuert worden war, weil Musikerinnen ein „unangemessenes“ Verhalten ihres Chefs gemeldet hatten, dass jetzt – nach einer intern gütlichen Einigung dieses „Kapitel abgeschlossen“ sei, wie sie ihre Pressemitteilung übertitteln? Ist es in der Klassik nach wie vor so einfach? Es scheint so. Da war viel Rauch und wenig Feuer in der Affäre Gatti. Zwei Sängerinnen hatten in der „Washington Post“ angeklagt, dass sie von Gatti sexuell belästigt worden seien. Gatti entschuldigte sich eher peinlich für ein mögliches Fehlverhalten. In Amsterdam aber wurde er kurz danach rausgeworfen. Nicht genaues erfuhr die Öffentlichkeit nicht. Er wolle klagen, zeterten die Anwälte. Nichts ist passiert. Die seit Jahren schlingernde römische Oper machte ihm – nun mit viel Zeit versehen – nach der Premiere des Vergewaltigungsdrama „Rigoletto“ zum neuen Musikchef, abgesegnet von der Bürgermeisterin. Im Oktober dirigierte Gatti beim Bayerischen Rundfunk, ein alter Vertrag, den man nicht brechen wollte. Inzwischen hat man erklärt, Orchesterchef Mariss Jansons, ist da auch nicht unbedingt auf der Höhe des Zeitdiskurses, mit Gatti weiterarbeiten zu wollen. Auch in Dresden, da regiert der ebenfalls verhaltensauffällige, mit Temperament gesegnete Christian Thielemann, dem gerade wieder mal die Assistentin nach einem halben Jahr lang Krankschreibung nach Saarbrücken entfleucht ist, wird die Sächsische Staatskapelle Daniele Gatti weiterbeschäftigen. Die Berliner Philharmoniker, dort regiert eine Frau als Intendantin, entließen hingegen Gatti schon drei Monate vorher „wegen Krankheit“ aus seinem „Otello“-Vertrag für Ostern. Einspringer: Zubin Mehta, früher ebenfalls als Liebhaber der schönen Damenwelt bekannt. Ob Gatti weiterbeschäftigt wird: vielleicht am Montag auf der Jahrespressekonferenz der Berliner zu erfahren. Und was mit dem Bayreuther „Ring“ 2020 wird, für den er freilich bisher nicht offiziell angekündigt worden war, aber wohl einen Vertrag hat, ist noch völlig offen. Festspielchefin Katharina Wagner will nach einem skandalfreien letzten Sommer sicher keine offene Flanke bieten…

In Amsterdam aber wird es kein Zurück geben. Man hat sich, sicher ich auch Geld geflossen, der Posten ist auch längst wieder ausgeschrieben, intern geeinigt. Nach „konstruktiver Diskussion“ trenne man sich „einvernehmlich“. Haha! Aber Gatti geht nicht vor Gericht, was eher gegen ihn spricht. Die jetzt vom Orchester herausgegebene, für beide Seiten irreversible Presseerklärung ist kurz und klar: Man wolle in die Zukunft blicken, Gatti wird als „wichtig“ fürs Orchester bezeichnet und jetzt mit drei noch zu veröffentlichen CDs geehrt. Mit dabei die sexuell aufgeladene Oper „Salome“ – sehr komisch. Und das war’s. The Show must go on, alles bleibt ungeklärt Misstrauen steht einer im Raum. Aber auf dem Podium wird weiter einer Illusion des guten, wahren dun Schönen gefrönt. Und gelernt hat man nichts. Nur ein weiters Mal die dreckigen Felsbrocken unter den Notenteppich gekehrt.

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Herz der Nazi-Finsternis: Jonathan Littells „Les Bienveillants“ als immer noch grässliche, aber überzeugende Oper in Antwerpen

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Ein weißer Raum. Hell neonerleuchtet. Hinten, in halbhohen Wänden, neun Türen. Ein Stuhl, ein Tisch, ein Mann. Ein etwas stilisierte „Tatort“-Verhörsituation, installativ, ausgestellt. Hier wird aber kein normaler Sonntagskrimifall verhandelt, hier legt einer Zeugnis ab über eine der wiederwärtigsten Existenzen, die die Literaturgeschichte kennt: die des schwulen SS-Offiziers Max Aue, der Mutter und Stiefvater ermordet, seiner Schwester inzestuös verbunden sowie für die Ermordung unzähliger Juden in der Sowjetunion und später in Auschwitz verantwortlich. Der entkommt, der nichts bereut, der sich an den Qualen seiner Opfer weiter weidet, sie kultiviert und in fast abstrakter, dann wieder sehr gewöhnlicher Sprache reflektiert. Und der jetzt doch davon berichtet, als alter Mann und Geschäftsführer in der Spitzenfabrikation. Ausgerechnet. Ein Herr mit sehr weißer, dabei sehr dreckiger Weste. Deshalb wird auch bald kack- wie nazibraune Brühe die Bühne von Rebeca Ringst fluten, die Anwesenden werden besudelt, wälzen sich darin, und auch die Wände werden dreckig. Bis sie ausgerechnet von Aues Zwillingskindern mit blauen Blümchen der Hoffnung bemalt werden, während vorne so abstrakt wie möglich von Auschwitz gesungen wird und oben zwei Frauen aus kleinen Maschinen Theatergasnebel verdampfen. Man kann das kitschig finden, theaterhilflos, aber irgendwie kann man sich dem nicht entziehen. Auch weil dazu eine Musik stampft, wütet, klagt, leer fleht, zart barmt, einfach nur ruhig begleitet – und am Anfang wie Ende einfach stumm schweigt.

Fotos: Annemie Augustijns

Als 2006 das 1400 Seiten dicke Romanpamphlet „Les Bienveillants“ des damals weitgehend unbekannten Amerikaners Jonathan Littell auf Französisch erschien und gleich mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, da machte das Furore und Skandal zugleich. Immerhin 16 Mal wurde „Die Wohlgesinnten“, das meint die wieder befriedigten Rachegöttinnen, die Erinnyen im dritten Teil der „Orestie“ des Aischylos, seither für die Bühne dramatisiert. Jetzt, auch Littell war erstmals dabei, aber kam das Buch auf die Opernbühne – an der Opera Vlaanderen in Antwerpen, mit seinem starken, deutlich sichtbaren jüdischen Bevölkerungsanteil. Deren nach Genf abwandernder Intendant Aviel Cahn setzt damit einen markanten, auch durch einen vier Kilo schweren Buchklotz markierten Schlusspunkt unter seine zehnjährige Ära – und beauftragte das musiktheatererfahrene Team Hèctor Parra und Händl Klaus mit dieser eigentlich unmöglichen, natürlich provokativ gemeinten Uraufführung. Verstörend ist am Ende freilich, wenn der monströse, aber eben leider stets menschliche Täter sich auszieht und sich Schmutz wie Schande vom Körper duscht, das nach wie vor grässliche Thema, und die etwas überzogene Länge – eine halbe Stunde weniger täte not und gut. Ansonsten war es sehr – wohlmeinend.

Ian Borstridge und Kurt Streit wollten die fast schon heldenhaft anmutende Tenorrolle des Max Aue erst gar nicht singen, Rainer Trost musste sie als zu schwer abgeben; auch die als Mutterhexe anvisierte Nadja Michael kam der Produktion abhanden. Machte aber nichts, der Ersatz war sehr gut. Der Amerikaner Peter Tantsits arbeitet sich mit Stehvermögen und Leuchtkraft durch eine der wohl längsten Tenorpartien, geht durch die Abgründe des Charakters wie der Noten. Rachel Hanisch mit ihrem intensiven Sopran ist die schwer greifbare, ambivalente und dann doch anrührende Schwester Una. Natscha Petrinsky schreit das Muttermonster ähnlich grell und famos wie Claudio Otelli diverse Nazis bellt und brüllt. Günter Papendell gibt fast sanft den Freund, der dann die fatale Frage stellt: „Max, hast du Lust auf ein Sonderkommando?“. Händl Klaus hat diesmal, unter Beibehaltung der „in sieben Bewegungen“ eingeteilten Barocksuitenfolge des Romans (Max liebt Bach), ein sehr gutes Libretto erstellt, deutsch und französisch (Max ist beides), delikat und ordinär, poetisch und gossig.

Und der Katalane Hèctor Parra hat eine moderne, sparsam Elektronik einsetzende Partitur verfertigt, die eben nicht austauschbar ist, die direkt auf die Szene reagiert, auch einen Pissstrahl in Musik umsetzt, sie dann eben doch abstrahiert, manchmal auch negiert. Mit hat gemeißelten Akkorden, dann wieder polyphon verästelt. Das Symphonisch Orchest Opera Vlaanderen unter dem souveränen Peter Rundel setzt solches großartig in beißende, schneidende, schartige, überlaute, dann wieder leise, durchscheinenden, sich verlierende Klänge, ebenso engagiert der vor allem auch darstellerisch geforderte Chor.

Den hat hier einmal mehr Calixto Beito inszeniert, und er macht ihn – ähnlich wie gerade in Wien in Mendelssohns Oratorium „Elias“ zu einem Haupthandelnden. Man könnte es fast das schwarze, schließlich gnädig von Schnee aufgehellte Gegenstück zu diesem Weg eines christlich suchenden Propheten sehen. Denn Max Aue findet –  nichts, so sehr er auch in seine eigene schwarze Seele blickt, und Befriedigung bekommt er nur, wenn das Wälsungenblut zwischen ihm und Una blüht. Doch ist hier von Babyn Jar oder anderen Kriegsgreuel zu hören, gibt es keine SS-Uniformen und keinen Naturalismus, exekutiert wird mit dem gezogenen Zeigefinger, die ferne Gewehrschüsse werden durch auf die Kleidung geklopfte Handschuhe erzeugt. Eine nackte Frau und ein nackter Mann stehen als eben nicht mehr paradiesisches Paar stellvertretend für alle Opfer. Bieito und Parra brauchen keinen Realismus, um klar zu machen, was hier gerade verhandelt wird. Freilich bleibt das in seiner, man muss es sagen: geschmackvollen Reduktion selbst beim Scheißen, Kotzen, Ficken hinter dem oft so ekelhaft sadistisch redseligen Buch in seiner grellen Schärfe zurück.

Die Musik, das Opernhafte verklärt – wieder einmal – und besänftigt, auch wenn sie noch zu aggressiv kreischt. Immer wieder kommt das Passionshafte, das Parra mit seinen Holzbläsern aufscheinen lässt, die Nähe zu Bach, zum eben nicht naturalistischen Oratorium durch, die auf Distanz hält, den Zuhörer meist objektiven Beobachter bleiben lässt. Eine Chronik der Schrecken, aber als kontrapunktisches Kunstwerk inszeniert, bei dem sich bisweilen sogar ein Flügel samt kultivierter Spielerin über Leichen und Morast herabsenkt. Und das als bewusst gesetztes Gegenstück zu den hochabstrakten Klangbildern und -szenen, mit denen hier vor zwei Jahren Chaya Czernowin in „Infinite now“ das Inferno des Ersten Weltkrieges in der Spiegelung durch Erich Maria Remarque an der Opera Vlaanderen in Gent Musiktheater werden ließ. Man nennt das auch eine gelungene Dramaturgie. Als nächstes zu sehen beim Koproduktionspartner – Nürnberg.

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Eine Drohne namens Samiel: Jossi Wieler und Sergio Morabitos halbgarer Straßburger „Freischütz“

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 Ist nicht so schlimm. Am „Freischütz“ samt Jägerchor und Jungfernkranz, deutschem Wald und teutonischer Innigkeit, Dämonie und Kleinbürgergraus sind schon ganz andere Regiegroßmeister gescheitert. Und diesmal eben das siamesische Zwillingsduo Jossi Wieler und Sergio Morabito bei ihrer einzigen Regieneuarbeit der Saison – und seit Jahren mal wieder jenseits von Stuttgart. Nach Ende ihrer Intendanz hatte sie deren ehemalige Betriebsdirektorin Eva Kleinitz an ihrer neue Wirkungsstätte Opéra National du Rhin gebeten. Und auf dem Weg zu den Koproduzenten in Brüssel und Nürnberg kann bestimmt noch weiter daran geschliffen werden – auf dass sein Gewehrlauf weniger verbogen ist, die Freikugeln auch deutungsmäßig besser flutschen. Jetzt sah man eher eine Materialsammlung, irgendwo zwischen Blattschuss und Rohrkrepierer. Dabei macht Patrick Lange am Pult des gut aufgelegten Orchestre Symphonique de Mulhouse schon beim lauernd dräuenden Ouvertürenbeginn samt bedrohlich anwachsendem C und angenehmen Holzbläsermischungen deutlich, dass er seinen Weber Ernst nimmt ohne ihn zu dämonisieren oder kontrastiv zu überspannen.

Fotos: Klara Beck

Wir sind im Elsass, hier mag es ok sein, dass man den deutschen „Freischütz“ wählt. Freilich ist gerade auch Laurence Equilbey samt Insula Orchestra und Choeur Accentus mit dieser Version unterwegs. Dabei wäre, zuletzt geschah dies 2011 in Paris unter John Eliot Gardiner, durchaus mal wieder „Robin du Bois“ angesagt gewesen, wie das Werk hier verfälscht hieß. Denn wir haben Berlioz-Jahr, 150. Todestag. Und dieser hat 1841 für seine Pariser Fassung nicht nur die Wolfsschlucht in Gorge-aux-Loups umbenannt. Der böse Kaspar heißt Gaspard, das neckische Ännchen Annette, und Max, dieser zauderndste aller treudeutschen Opernhelden, singt nicht mit voller Stimme „Durch die Wälder, durch die Auen“, sondern lyrisch schmiegsam „Fraîs vallons, forêts, vastes plaines“. 

Dieser „Le Freischütz“ war die einzige deutsche Oper, die vor Wagners Musikdramen im 19. Jahrhundert jenseits des Rheins reüssierte. Die Sprache ist freilich französisch, es gibt gesungene Rezitative und die die an der Grand Opéra übliche Balletteinlage – freilich erst kurz vor dem Finale. Dafür orchestrierte Berlioz Webers Klavierrondo „Auforderung zum Tanz“. Während die komplette Berlioz-Fassung als Kuriosität sonst im Archiv ruht, erfuhr die gewohnt brillant instrumentierte Einlage ein Eigenleben im Konzertsaal wie auch auf der Ballettbühne – unter dem Titel „Le Spectre de la Rose“ als eine der berühmtesten, von Michail Fokine für Vaslav Nijinsky choreografierten Kreationen. Das Berlioz/Weber-Kuriosum, von dem nur eine einzige, mäßige Aufnahme existiert, unterstreicht, dass sich der Weg zur deutschen Nationaloper zu einem nicht unwichtigen Teil auf dem Pfad der Opéra comique bewegte. man hört das deutlich in den Berlioz-Zusätzen, die glätten, die die musikalisch durchlaufenden Szenen vergrößern, die in den breiteren neukomponierten Abschnitten markant Webers Motive aufnehmen und diese doch „berliozisch“ einfärben. Die Brüche zwischen gemütvoll und grausig, derb und edel sind damit ausgeglichen, wobei der teuflische Samiel eine Sprechrolle bleibt, aber sein Helfershelfer Kaspar in der Wolfsschlucht singt.


Wie gesagt, wäre schön gewesen. So müssen sich Wieler/Morabito in Straßburg den Vergleich mit der seit 1980 in Stuttgart laufenden, längst legendären Achim-Freyer-Fassung mit ihren surreal verdrehten Volkskunstelementen und ihrem primitiv-perfiden Bauerntheater gefallen lassen. Der fällt nicht günstig aus, obwohl sie eine ähnlich dezidierte Bildsprache suchten. Und mit der glücklicherweise einmal der arg abgedroschen Viebrock-Ästhetik entkommenden Nina von Mechow als Ausstatten auch fanden. Zusammen mit den Videos von Voxi Bärenklau entsteht da eine sehr eigenwillige, aus Manga, Videospiel und Comic gespeiste, total künstliche Ästhetik, der stärkste Eindruck der ungleichgewichtigen Aufführung, in der sich die beiden Hauptprotagonisten, der wehleidige Max von Jussi Myllys und die spitze, dünne, flache Agathe Lenneke Ruiten nicht nur vokal quälten. Sie und alle anderen hatte nämlich ihre Dialoge roboterartig wie ein Übersetzungscomputer zu sprechen, sollten sich wohl der Lautsprecherstimme des Samiel annähern, der hier nur als Drohne auftaucht.

Bereits als Schatten ist er zu Anfang auf dem virtuellen Videovorhang zusehen, vor der Pause landet das surrende Ding mit den rotblühenden Elektroaugen mitten in der Wolfsschlucht. Die ist dann freilich schon zerstoben – als fauler Bühnenbildzauber aus gepixelten Hängekulissen und wild ballerndem Killerspiel, verschnitten mit grobkörnigen Reality-Bilder von allem, was schlecht ist auf der Welt. So wie vorher schon das böhmische Dorf nur eine grob gezimmerte Westernstadtkulisse war, wo man zwischen menschlichen Zielscheiben in Tarnuniformen und mit Paintball Guns Survivalcamp spielt. Der Wald ist rotes, baumloses Prospektgeäst, und wie ein gestrandetes Schiff thront das Schloss von Fürst Ottokar über den Wipfeln.

Die bocklosen Mädels in der mit Discokugel ausgestatteten Erbförsterei vertreiben sich die Zeit mit Comicfiguren und irgendwie leicht lesbischen Spielen. Gelungen ist die Jungfernkranz-Szene mit mutwilligen Manga-Brautjungfern, die gleich zum Freiwild für den Jägerchor im grauen Anzug werden, sich dem aber widersetzen und dann den als Cheerleaders vor sich hintreiben. Emanzipation auf dem Dorfe? Zumindest ein bisschen. Da ist manches gut und richtig beobachtet, doch dann schlafft es wieder ziellos ab, und schlurft ohne Lust und Lustigkeit dahin, vor allem in den gewollt drögen Dialogen. Am Ende taucht aus dem Hausdach unversehens der alles auflösende Eremit auf, und das um ein Jahr hinausgezögerte Happy End scheint durch den ausrastenden Kilian (Jean-François Filou) bedroht, der alle mit einem Messer befuchtelt.

Dabei hätte es durchaus gepasst, so moritatenartig und bildgrellaggressiv in diesen Weber zu starten. Ist das schöne, aber eben auch schwere Werk, vor dem alle Angst haben, Regisseure, Dirigenten, Sänger, keineswegs nur naiver Romantikbilderbogen, sondern eine durchaus spannende Parabel über Kriegspsychosen, männerbündische Mutproben, Versagensängste, restriktiven Sittenkodex. Bei dem es am Ende ausgerechnet der Himmel richten soll, Menschen sich wieder unter die Knute der Religion ducken. 
Während Patrick Lange die so heimelige wie doppeldeutig-visionäre Partitur durchforste, sein klanglicher Ansatz ist meist rein und geradlinig, er freut sich über weite Strecken am prächtigen, wenn auch nicht immer ganz synchronen Orchesterspiel und an harmlos hüpfenden Spielopernrhythmen, so geht es auf der Bühne einigermaßen konfus zu. Im Graben wird diese musikalische Wundertüte gefüllt mit sorgsam ausbalancierter Innigkeit und Wärme, aber auch mit dumpfem Dämonengeblöke, doch szenisch ist schnell die Luft draußen. Die wirkliche „Freischütz“-Verfremdung oder Verwandlung, sie findet nicht statt.

Und auch sängerisch regiert diesmal linksrheinisch nur der Durchschnitt, am stärksten trumpft noch der vokal ebenfalls schlanke Kaspar von David Steffens. Josefin Feiler ist ein sexgierig schrilles, spätes Girlie-Ännchen, vokal vergnüglich. Frank van Hove als Erbförster Kuno bricht ein wenig am Bassrand ein, Ashley David Prewetts Fürst Ottokar klingt verzagt. Roman Polisadov ist ein vokal opulenter, wie gestanzt phrasierender Eremit. Und am Ende gibt es Rosen für alle – auch wenn da nicht allen gefällt.
   

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Im Operettenorkus: Franz von Suppés „Der Teufel auf Erden“ vermag zu dessen 200. Geburtstag in Chemnitz leider nur höllisch müde zu funkeln

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In der Hölle ist der Teufel los, zumindest eine Zeit lang. Wir sind zwar nicht mit Offenbach in dieser rotglühenden, schönkulissengemalten, opulent luziferrrot kostümausstaffierten Unterwelt, aber mit Franz von Suppé mitten in einem Monstermaul. Und hier haben sich die Diktatoren der Oberwelt nicht zum Cancan, aber zum Fegefeuertanz versammelt: Hitler und Stalin, Gaddafi und Bin Laden, Nero und Margaret Thatcher. Dazu moussiert der Rhythmus, düster-dämonisch wurde das bereits klangeröffnet. Und ein anderer wartet brav und vorzeitig auf den Einlass, um dann beim Pförtner verwirrt im Siedekessel zu krakeelen: Donald Trump. Da geht es also, Beelzebub, Kasperl und Krampus tanzen zudem herzig herum, wirklich „fantastisch-burlesk“ zu, so wie es der Untertitel zu dieser satanischen Recherche als Liebesdienst an einem vergessenen Komponisten im Opernhaus Chemnitz verspricht. Doch leider hält in der Folge von fünf Bildern und drei Akten die Wiederentdeckung „Der Teufel auf Erden“ von Franz von Suppé nicht, was er verspricht. Und das hat mehrere Gründe.

Fotos: Nasser Hashemi

So wird wohl, der 200. Geburtstag am 18. April wurde außer in Sachsen vor allem in Wien schmählich übergangen, der Schöpfer von „Boccaccio“ und Fatinitza“ und vielen weiteren, ja sogar der ersten („Das Pensionat“) der Wiener Operetten, weiterhin höchstens noch durch die kaum mehr vorhandenen Kurkonzerte als Ouvertüren-Lieferant spuken. Auch mit diesem, erst 2016 in München für Deutschland erstaufgeführten mephistofelischen Dreiakter, der mit dem Premierenjahr 1878 genau zwischen Suppés beiden Erfolgsstücken steht.

Immerhin gab es kürzlich eine de-Luxe-Neuaufnahme mit dem spritzigen, intelligenten Vorspielen des 1819 im dalmatischen Split geborenen Francesco Ezechiele Ermenegildo Cavaliere Suppè-Demelli, den die Klassikwelt nur als Franz von Suppé kennt. Und der als Wiener Pionier eines neuen musiktheatralischen Unterhaltungstheaters auch mit seinen kompletten Werken immer noch auf die frechen Operetten-Archäologen wartet.

Beim in dieser Musik bestens bewanderten Münchner Rundfunkorchester ist Suppé durchaus Chefsache, und der ebenfalls in Kroatien geborene Ivan Repusic löffelt seine Suppé-Suppe dirigentisch vorzüglich. Da tanzen die Rubati in der Offenbach-beschwingten Einleitung zur „Schönen Galathée“, und im „Dichter und Bauer“-Vorspiel intoniert das Solocello völlig ölfrei die berühmte, freilich durch Freddy Brecks „Rote Rosen“-Schlager berüchtigt gewordene Melodie. Repušic bedient hier mit acht sattsam bekannten Titeln gustiös den Kanon, die unbekannten Werke mit ihren berühmten Ouvertüren wie „Leichte Kavallerie“, „Banditenstreiche“, Pique Dame“, „Ein Morgen, ein Mittag, ein Abend in Wien“ sind dabei, als auch Suppés ewigen Hits wie der andere Banditenstreich „Boccaccio“. Im Rhythmischen wie im Melodischen stimmt das, Repušic setzt nicht nur auf Knalleffekt und Gimmick, sucht Farben und gestaltet schön schwingende Legato-Bögen. So geht Operettenkultur.

Das versucht in Chemnitz auch der in das Genre verliebte Kapellmeister Jakob Brenner durchaus mit Erfolg am Pult der höllenfeuerhellen Robert-Schumann-Philharmonie. Doch gerade im Vergleich zu Offenbachs boshaft strahlender Parodie glimmen hier die Knallfrösche nur müde, wartet man vergeblich auf den Kanonenschlag-Schlager. Suppé verfertigte allzu harmlose, sich eher an der Spieloper orientierte old fashioned Unterhaltungsmusik. Ohne jeden höllisch scharfen Chilipuder dudelt und diddelt das dahin, bei Teufels wenigstens noch rhythmisch pikant gewürzt.

Doch auf Erden wird es schnell dröge: Ruprecht, der Höllenknecht, muss oben den Satan suchen, der schon vor Zeiten auf einer Werbungsmission abhanden gekommen ist – und landet im Kloster. Alter Komödientrick, hier will er nicht wirklich frivol funkeln. Zwar entpuppt sich zum Aktende die schon am Schwänzchen zu entlarvende Mutter Oberin Aglaia (die verdiente Operettendiva Dagmar Schellenberger lässt mit Verve welke Stimmbänder klirren) als wahre Teufelsbraut, die nicht nur mit dem Pförtner ein Kind, sondern auch den Klosterschatz geplündert hat. Aber bis zu dieser Antiapotheose bleibt die anvisierte, im zeitgenössisch spießigen Wien einst wohl für Zensurempörung sorgende Kleruskritik bigott und harmlos. Die Nönnchen trippeln aufgescheucht im Chor, und zwei Novizinnen sind schnell an zufällig anwesende Freier gebracht; was sich dahinzieht.

Obwohl massiv bearbeitet und aktualisiert wurde. Alexander Kuchinka, der nicht nur wienerisch krauternd den aufmüpfigen Ruprecht stelzefußt, zeichnet auch für die textliche Neufassung verantwortlich. Man sei hier, so wird Kuchinka, im Programmheft zitiert, vorgegangen wie bei der Chemnitzer Oper – außen historisch, innen neu. Ja aber, möchte man hinzufügen, wir dort mit dem Nostalgiecharme einer marmoraufgeblähten Nineties-Krankenkassenempfangshalle. Wirklich modern ist das nicht, und die Witze zünden nur teilweise.


Am besten funktioniert, auch weil unser bei einem Militärkapellmeister angelernte Suppé ein wunderbar hüftzuckender Marschlieferant war, die Soldatenburleske im zweiten Akt. Das hat Charme und Schmackes, da streicheln sich die feschen Gefreiten auch mal verschämt über den Hintern – in Erwartung des Wochenendes wie der zwei Nichten des Hauptmanns, die einen Stock höher weggesperrt sind. Das arg brave Libretto von Karl Juin und Julius Hopp spielt nämlich dreimal die gleiche Situation durch: Teufelsknecht und ein unterwegs aufgelesener, leicht angetunteter Schutzengel (Matthias Winter) suchen seinen Herren und stiftet dabei sechs Ehen, im Kloster, in der Kaserne und in der Tanzschule. In Chemnitz wird immerhin auch optisch noch eine Zeitreise im 200er Schritt von 17. bis ins 21. Jahrhundert unternommen.

Nützt aber auch nichts. Hinrich Horstkotte, in bewährt eigener, opulent fantasievoll den alten Kulissenzauber zitierenden und wiedergebender Ausstattung wider den öden Humana-Teitgeist, gelingt diesmal keine zweite Bühnenwirklichkeit. Alles bleibt pappig und allzu bieder, ganz besonders der puschig provinziell anmutende dritte Teil. Jetzt nämlich sind Teufelchen und sein Publikum, der Satan wurde inzwischen als Oberst Donnerbach (basswuchtig: Gerhard Ernst) ganz vergnüglich und mit viel Dampf und Radau entlarvt, endgültig in der örtlichen Chemnitzer Tanzschule angekommen.

Da wird zum anstehenden Opernball geübt, aber die kommunikationsgestörten Paare (die Teufelei unserer Social-Media-Ära) walzen nur noch jeder für sich als lemurenhafte Ich-AGs in pseudoprolligen „Fack ju Göte“-Dialogen über’s Parkett. Benimm-Prinzipal (Thilo Kühl-Schimmel) und Opernintendant (Christoph Dittrich) spielen sich hölzern selbst, das wackere Sänger-Quartett (Franziska Krötenheerdt, Sylvia Rena Ziegler, Reto Rosin, Andreas Beinhauer) kleidet sich unerschrocken ein letztes Mal in Tussi-Leggins und fiese Migranten-Plastikperücken, bevor die höllischroten Paare mit Blinkehörnchen zum finalen Ballvergnügen „Alles Walzer“ vor einem Logenrund hereinfluten.

Themen aus dem Werk wurden später übrigens zum „Teufelsmarsch“ kompiliert, und finden sich unter dem Titel „Mit feuriger heißer Lust“ auch in einer „Banditenstreiche“-Adaption. Solche feurig heiße Lust freilich vermisst man in dieser doch über weite Strecken faden Chemnitzer Premiere – einer Koproduktion mit der Wiener Volksoper, wo dieser Suppé dann frühesten ab 2020/21 vermutlich wieder in den Operettenorkus fährt.

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Grand Théâtre de Genève: Anna Catarina Antonacci ist eine faszinierend fiese Medée

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In der braven Schweiz ist man gegenwärtig sehr fasziniert von einer wilden, ungefügten, ja monströsen Opernfrau: Medea. Luigi Cherubinis erst in jüngster Zeit durch eine Neuedition wieder in ihrer originalen französischen Fassung mit Dialogen zu Ehren gekommene „Medée“ von 1797 wird wieder vermehrt gespielt, so auch 2015 in Genf. Innerhalb kurzer Zeit ging freilich auch in Basel, Zürich und nun am Grand Théâtre de Genève die 100 Jahre ältere tragédie lyrique gleichen Namens von Marc-Antoine Charpentier über die Bühne. Hier hatte man auch schon vor zwei Jahren eine für heutiges Verständnis von dem Stoff eher irritierende Variante aufgeführt, die freilich im 17. Jahrhundert besonders erfolgreich war: „Giasone“ von Francesco Cavalli brachte 1649 als Drama musicale um einen schon Offenbach vorausahnenden Schützenjäger diverser griechischer Damen die Menschen in Venedig zum Lachen. Und in Genf setzt der scheidende Intendant Tobias Richter zudem – wie es hier auch schon der öfters beschäftigte Christof Loy mit Jennifer Larmore praktiziert hat – auf die Überwältigungskraft einer reiferen Sängerinnenpersönlichkeit: Was ihm jetzt mit der in jedem Ton und jeder Sekunde ihres Spiels faszinierenden Anna Catarina Antonacci einmal mehr gelungen ist.

Fotos: Magalie Dougados

Wobei wieder erstaunt, wie gut und eigentlich unverständlich unbekannt nach wie vor Charpentiers einsames, von Pierre Corneilles Bruder Thomas getextetes Meisterwerk ist. Darin in diesem Jahrhundert eigentlich nur den früheren Geniestreichen Monteverdis ebenbürtig. Obwohl hier, gemäß französischen Musiktheatermaximen, eine ganz andere Ästhetik verfolgt wird. Die fünf Akte (der obligatorische Huldigungsprolog für König Ludwig XIV. kann, wie bei dieser Produktion  geschehen, vernachlässigt werden) drehen und angeln sich nur um diese eifersüchtige Frau, die am Königshof von Korinth mit ihrem ihr abspenstig werdenden Gatten Jason zu kämpfen hat, der trotz zweier Kinder seine Frau zugunsten der jüngeren, rangmäßig ihn aufwertenden Prinzessin Kreusa verlassen will. Zu diesem fatalen Dreieck kommen als Hauptrollen nur noch deren Vater, der herrische König Kreon, sowie Orontes, der König von Argos hinzu, dem als Dank für seine Waffenbrüderschaft suggeriert wird, auch er könne die als Pfand hin und her geschobene Kreusa heiraten. 

Aber eigentlich geht es nur um die Gefühle der Medea, als ältere, abgeschobene Gattin, als Frau, Mutter, Fremde und misstrauisch beobachtete Zauberin. Das ist psychologisch wie musikalisch brillant ausformuliert. Zwar schildern Charpentier und Corneille in ihrem meist parlandohaftem, sich selten arios ausweitenden Idiom auch die Gefühle und Strategien von Kreon, Kreusa und Orontes, aber die Oper fokussiert sich stetig stärker auf ein Psychogram der immer mehr an den Rand des Nervenzusammenbruchs und Wahnsinns geratenden Medea. Die kiefert sich furiose Duelle mit dem schwachen Jason, tötet ihre Rivalin, den König Kreon und ihre Kinder, lässt alles hinter sich und wird zur ewigen Rachefurie. Das kulminiert, elegant symmetrisch im dritten, ihr fast ganz allein gehörigen Akt, wenn sie die Geister und Furien der Unterwelt beschwört, um ihren Vernichtungsfeldzug zu starten. 

Anna Catarina Antonacci, immer noch eine der großen, souveränen Tragödinnen der Singszene, trägt die ganze Zeit ein schwarzes Bussinesskostüm, möchte als souveräne Gestalterin alle Fäden in der Hand halten, auch wenn ihr diese zu entgleiten drohen. Bannend in jedem Ton, mal fahl, mal fordernd, mal leidenschaftlich, schließlich verzweifelt, wütend und fatal beherrscht sie die Bühne, schwingt sich aus reflektierenden Momenten zur später Tod und Schrecken bringenden Rachefurie auf. In den ersten zwei Akten, scheint sie noch das Geschehen aus einer passiven Position zu beobachten und zu analysieren, dann aber legt sie brutal los. Eine psychologisch packende Tour de Force, vokal wie darstellerisch als grandiose Charakterstudie einer zerrissenen, aber sich selbst treu bleiben müssenden Frau aufgezäumt. Die Antonacci, gleißend, durchscheinend, macht das grandios: Sie beherrscht die Bühne, auch wenn sie nur auf einem Stuhl in der Ecke sitzt. 

Inszeniert hat dies als bannenden Protagonistinnen-Alleingang in einem klassizistischen, nur durch Spiegel geschmückten, durch seinen reflektierenden Boden seltsam irrlichternd leuchtenen Salon (Ausstattung: Bunny Christie) vor sechs Jahren David McVicar an der English National Opera. Eine zeitlos schlüssige, konzentrierte, auch den anderen Protagonisten Raum und Aufmerksamkeit einräumende Produktion, angesiedelt in der Zeit des zweiten Weltkriegs mit Militärs und eleganten Damen; die freilich auch die reizvollen, aber heute nicht selten umständlich und ablenkenden, in der französischen Hofoper obligatorischen Tanzdivertissement wirkungsvoll integriert. Im zweiten Akt hat Lynne Page, fast als Hommage an die frühen Astaire/Rodgers-Paarungen, ein paillettenglitzerndes Musical-Ballett auf einem in den Salon rollenden Miniflugzeug choreografiert. Im dritten Akt wüten die blutig verschmierten, aus dem rauchenden Höllenschlund im Parkettboden kriechenden Dämonen der Unterwelt, und im vierten Akt wird der vergeblich Widerstand leistende Kreon samt Soldateska unschädlich gemacht. Im fünften Akt schließlich stirbt Kreusa in ihrem von Medea vergifteten Kleid, Jason heult untröstlich über den toten Kindern in ihren blutverschmierten Schlafanzügen, und im Hintergrund schwingt sich Medea in der aufgesprengten Zimmerecke nach einem letzten Fluch nebelumwabert in die Lüfte. Wow!

Im hochgefahrenen Orchestergraben walten – nunmehr ebenfalls zum vierten Mal in Genf – Leonardo García Alarcón und seine Cappella Mediterranea. Das Originalklang-Ensemble klingt hell und voll, hat eine große Farbenpalette zur Verfügung und, gefällt durch seine dramatisch kraftvolle Varianz in dieser kleinteiligen, aber feingeistigen Partitur. Die Generalbassgruppe mit Theorbe, Gitarre, Fagott, Violone, Cembalo und Orgel macht viel Spaß, Windmaschinen und Donnerblech sorgen für Effekte. 

Und auch die übrige Vokalbesetzung verblasst nicht hinter der überragenden Protagonistin. Der Jason von Cyril Auvity ist ein schwacher, winselnder, dauernd die Fraktion wechselnder leichtgewichtiger Tenortyp, der sich überall einschleimt und alles verliert. Willard Whites ordenrasselnder Kreon mag zwar inzwischen stimmlich mürbe sein, hat aber die selbstverständliche Autorität eines alten Haudegens. Der Bariton Charles Rice als Oronte trägt zwar fesche Fliegeruniform und hat vokale Stärke, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er der Gelackmeierte ist. Kreusa (die sopranzarte, aparte Keri Fuge) ist einmal mehr eine Trophy Woman, die zwar Gefühle hat, aber sich zu fügen weiß und als diplomatisches Werkzeug missbraucht wird. Und der Chor ist sowieso nur auf luxuriöse Party und Büffet aus. 

So hat sich Tobias Richter als Genfer Intendant einmal mehr bewährt, er übergibt – ein „Maskenball“ steht noch aus – ein gut aufgestelltes, stilistisch offenes und bunt aufgefächertes Haus. Das zudem zumindest in den Publikumsbereichen aufwändig renoviert wurde. Die Foyers strahlen wieder im alten Belle-Époque-Glanz, Bars wurden aufgehübscht, unterirdisch hat man Platz für Probenräume dazugewonnen. 

Aviel Cahn, endlich wieder ein Schweizer, kann also als neuer Intendant ab Herbst beginnen. Zehn Jahre war er erfolgreich und ehrgeizig an der Opera Vlaanderen in Antwerpen/Gent, seine Handschrift nimmt er nun auch mit in die Suisse romande. Für seine erste Spielzeit, die er unter eines dieser heute so wohlfeilen Motti, hier „Die Hoffnung wagen“ gestellt hat, sieht er neun Premieren inklusive einer Uraufführung sowie vier Ballettpremieren vor, die natürlich die unvermeidlichen „Fragen von heute“ als dem 21. Jahrhundert strikt zugewandte Kunstform beantworten sollen. Der ganz große Bumm soll die gerade wieder vielgespielte Meyerbeer-Oper „Les Huguenots“ werden, die Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenieren und mal wieder Marc Minkowski dirigiert.

Vorher gibt es aber noch Monumentaleres, „Einstein on the Beach“ von Philip Glass (Dirigat: Titus Engel; Regie: Daniele Finzi Pasca). Auch Olivier Messiaens bewährt spektakelnder „Saint François d’Assise“, wird, ein helvetisches First, gegeben. Der bildende Künstler Adel Abdessemed gestaltet, Jonathan Nott dirigiert. Der ebenfalls sehr präsente Christian Jost komponiert die Oper „Voyage vers l’espoir“ nach dem Oscar-prämierten Schweizer Film von Xavier Koller, Kornél Mundruczó führt Regie, Gabriel Feltz dirigiert. Die im Exil lebende türkische Autorin Asli Erdogan wird mit dem Regisseur Luk Perceval das Libretto von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ bearbeiten; Fabio Biondi steht am Pult. Ballett und Oper bringen Rameaus „Les Indes galantes“ auf die Bühne, Lydia Steier und Demis Volpi zeichnen verantwortlich, Leonardo García Alarcón dirigiert erneut seine Cappella Mediterranea. Außerdem gibt es „Aida“ (Phelim McDermott; Antonino Fogliani), der Anti-Regisseur Iván Fischer kümmert sich szenisch wie musikalisch um Monteverdis „L’Orfeo“, Laurent Pelly um „La Cenerentola“, die Stefano Montanari dirigiert. 

Das Ballett des Grand Théâtre wird nach wie vor von Philippe Cohen geleitet.  Der Dreiteiler „Minimal Maximal“ wird als Echo auf „Einstein on the Beach“ choreografiert von Sidi Larbi Cherkaoui, Andonis Foniadakis und Ioannis Mandafounis. Beschlossen wird die Tanzsaison mit einer Kreation des jungen Choreografen Jérémy Tran: „Ce qu’il nous reste“. 


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Nationaltheater Prag: Fast 400 Mitarbeiter sprechen dem designierten Intendanten Per Boye Hansen das Misstrauen aus

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Irgendwie ähneln sich die Vorgänge. In einem offenen Brief an den Direktor des Prager Nationaltheaters, Jan Burian, haben die fast 400 Opernmitarbeiter des Dreispartentheaters (Oper, Theater, Ballett) mit den Spielstätten Nationaltheater, Ständetheater und Staatsoper Besorgnis über die derzeitige “kritische Lage” in der Institution geäußert. Aus ihrer Sicht ist diese Situation auf die undurchsichtige Auswahl des neuen Intendanten, Per Boye Hansen, ab der Spielzeit 2019/2020 zurückzuführen. Hansen arbeitet derzeit als Berater des Nationalen Theaterdirektors. Über ihm steht eigentlich auch noch die Operndirektorin Silvia Hroncova, deren Kompetenzen wohl beschnitten wurden. Nach Ansicht der Unterzeichner des Briefes habe Hansen keine grundlegende Vision und führe die Oper in einer Krise. Ihm wird auch mangelnde Kommunikation, ständige Umplanungen und wenig Souveränität in der Gestaltung des Spielplans vorgeworfen. Alles Dinge, die auch laut wurden im Zusammenhang mit seinem unfreiwilligen Abgang an der Oper in Oslo im Jahr 2017.   

 Unter den Unterzeichnern des Briefes sind Silvia Hroncova, der künstlerischer Leiter Petr Kofroň, der Musikdirektor des Nationaltheaters Jaroslav Kyzlink, der Musikdirektor der Staatsoper Andreas Sebastian Weiser, Dirigenten, Solisten, Orchestermusiker und Choristen sowie weitere Arbeitnehmer des Nationaltheaters. Der Brief wurde von den Sängern Sona Cervena, Adam Plachetka, Jaroslav Brezina und anderen unterzeichnet. 

 Hansen sagte im Februar den Medien, er wolle die internationale Position des vor noch nicht lange Zeit aus den zwei Häusern (Nationaltheater mit Ständetheater und Staatsoper) zuammengelegten Großbetrieb stärken, die Geschichte der tschechischen Oper wieder aufleben lassen, die Zahl der Neuproduktionen erhöhen und beide künstlerischen Ensembles bekannter machen. Hansens Team, zu dem der deutsche Dirigent und zukünftige Musikdirektor Karl-Heinz Steffens gehört, mit dem er bereits in Oslo gearbeitet hat, der aber auch schnell das dortige Haus verlassen hat, konzentriere sich darauf, das historische Gebäude der Staatsoper nach einem umfassenden Umbau wieder zu eröffnen. Zum ersten Mal sollte sich die neue Staatsoper am 5. Januar nächsten Jahres bei einer konzertanten Operngala mit Wagners “Meistersinger” präsentieren – was nicht auf sonderlich viel Beifall gestoßen war.  

Die Tschechische Nationaloper ist eine Institution an der sicher, angefangen bei der Technik, einiges renovierungsbedüftig erscheint, Hansen hat auch bereits in einer Antwort auf den offenen Brief geschrieben, er wolle unbedingt das Ensemble vergrößern, er hat sich dafür aber offenbar bisher nicht das Vertrauen der auch nationalstolzen, vorwiegend tschechischen Mitarbeiter gewinnen können. Viele haben offenbar Angst, dass aus ihrer Oper ein gesichtsloser Betrieb werden würde, in den die gerade modischen Namen des internationalen Betriebs eingepflegt werden, ohne das wirkliche Spitzenkräfte hier zum Zuge kommen. Vor allem der Umgang mit dem Ensemble und mit Gastsängern wird massiv kritisiert. Hier scheint also in nächster Zeit viel Vermittlungsarbeit gefragt, damit die Moldau direkt vor dem Nationaltheater wieder in ruhigerem Fahrwasser fließt…. 

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Händel mit Hundekeule: ein schön gesungener „Rodrigo“ im Shabby Chic zur Eröffnung der Göttinger Festspiele

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Zufall internationaler Opernspielpläne: Die 42 Opern des Georg Friedrich Händel, die vor 99 Jahren wiederentdeckt und neu befragt wurden, haben in den letzten 30 Jahren eine solche Renaissance erfahren, dass sie wirklich wieder im Repertoire verankert sind. Und so konnte man – Greta Thunberg, bitte weghören – mal schnell von Madrid nach Göttingen fliegen, um zwei chronologisch aufeinanderfolgende Frühwerke zu erleben. Freilich in umgekehrter Reihung. Im Teatro Real machte eine sechsteilige, stargespickte Tournee mit Il Pomo d’Oro unter Maxim Emelyanychev konzertant Station und man konnte als wonniglich-verdorbenes Mutter-Sohn-Paar Joyce DiDonato und Franco Fagioli als Nero und Agrippina in der gleichnamigen Oper von 1709 genießen. Und zur Eröffnung der Göttinger Händel-Festspiele, dort wo eben 1920 mit „Rodelinde“ alles (wieder) begann, dort gab es die Opernnummer 5. War „Agrippina“ bereits für Venedig komponiert worden, so wurde der Vorgänger „Rodrigo“ als Handels erste italienische Oper im Auftrag des Principe Ferdinando de’ Medici vermutlich im Sommer 1707 während seines Aufenthaltes beim Marchese Francesco Maria Ruspoli in Rom geschrieben. Die Florentiner Uraufführung im gleichen November scheint inzwischen verbürgt. Da der dritte Akt lange als verschollen galt, wurde das endlich vervollständigte Werk erst 1984 in Innsbruck wiederaufgeführt. Und jetzt erstmals in Göttingen gegeben.

Während der etwas überlang mehrteiligen Ouvertüre samt Pantomime im shabby schicken Einheitsbühnenbild von Dorota Karolczak ist viel Zeit für Nachdenkliches. Was hier zu hören ist, scheint typisch festlicher, melodienstrammer Händel, der 25-Jährige ist komplett sattelfest in seinem Idiom. Aber es fehlt – in „Agrippina“ ist das gemeistert – noch ein wirklich dramatischer, musiktheatralischer Zugang zum Stoff. Die Geschichte von Roderich, dem letzten König der Westgoten, dessen Untergang in Spanien um 711 im Legendären verdämmert ist, bleibt einigermaßen im Ungefähren. Hier also kann die melodramatische Oper einsetzen. Und die tut das, indem sie eine Liebesbeziehung des blutrünstig haltlosen Rodrigo zur von ihm bereits geschwängerten Florinda konstruiert. Von dieser will der Machtmacho aber ebensowenig etwas wissen, wie von seiner kinderlosen Gattin Esilena. Dann gibt es noch den aragonesischen König Evanco, den der Feldherr Guliano gefangen genommen hat. Nach seiner Befreiung verbindet er sich mit diesem und der rachsüchtigen Florinda gegen Rodrigo. Ein weiterer Militär, Fernando, spielt ebenfalls eine Nebenrolle, und schon vor „Giulio Cesare“ gibt es einen abgeschlagenen Gegnerkopf, mit dem auf der Bühne hantiert wird.

Wie gesagt, schon während der kaugummiartigen, aber hübschen Ouvertüre wird deutlich: Laurence Cummings, der in drei Jahren die Leitung des FestspielOrchesters Göttingen an George Petrou abgibt, hat einen wunderbaren Klangkörper aufgebaut, knusprig, satt, gut ausbalanciert, scharf und zackig phrasierend, das macht Hörspaß. Aber man merkt auch bald, der doch noch unerfahrene Händel hat sein szenisches Pulver nach etwa einer Stunde verschossen, dann sind die Konflikte auserzählt und alles tritt, trotz köstlicher, aus seinem weltlichen Kantatenwerk ausgeborgter Melodien, ein wenig auf der Stelle. So wie auch die behäbig trashige Inszenierung von Walter Sutcliffe, die nur Variationen des immer wieder Gleichen bereithält.

Natürlich ist auch der einzige Schauplatz nicht eben erkenntnisfördernd, obwohl er liebevoll so marode wie das ganzen Westgotenreich gemacht wurde. Pittoresk schimmeln da die labyrinthisch verteilten Wände, soweit sie überhaupt noch vorhanden sind. Es gibt Durchschläge, brechende Türstürze, heraushängende Kabel, nach der Pause liegt der Lüster in pinkem Licht am Boden, überall ist Müll verstreut. Und als Erinnerung an eine vergangene Zivilisation ist sogar das aus dem Museum entliehene Original des Göttinger Wahrzeichens aufgestellt: das Gänseliesel auf dem Markbrunnen. Aber in der Mitte warten Sitzlandschaft und Barwagen auf ihren Einsatz, denn militärisch ist nur die ausufernde, mit Alkohol und immer wieder aufflammenden Zärtlichkeiten ausgetragene Zimmerschlacht zwischen den ein wenig messihaft agierenden, new-wavig Neon-Eighties gestylten Geschlechtern. Und am Ende, da sitzen sie dann alle, Rodrigo ist eliminiert, hungrig um dessen toten Hund und grillen eine Keule. Auch das gab es noch in keiner Händel-Inszenierung.

Gesungen wird sehr schön und virtuos, nur nicht vom Countertenor Russell Harcourt, der sich eher anhört wie vom Stamme Capra – bei der heutigen Sängervarianz auch in diesem Fach fast schon eine Seltenheit. Der weniger stimmverhaltensauffällige Leandro Marziotte (Fernando) hat freilich schon von Händels Seite her nur wenig zu melden. Erica Eloff ist ein so widerlich-weinerlicher wie wie sopranstarker Titelheld in Drag; die Maske hat ganze Arbeit geleistet. Trotzdem tönt sie betörend und berührend. Anna Dennis’ Sopran steigert sich großmächtig vor allem in den temperamentvollen Arien, aber auch nur geigenbegleitet entfaltet sie unerwarteten Liebreiz. Während Fflur Wyn (Esilena) für die sorgfältig gestalteten Legatobögen und herrlich glockige Spitzentöne zuständig ist. Jorge Navarro Colorado (Giuliano) wird auch in schnellstem Temp nicht aus den Koloraturkurven getragen.

Gerade im unmittelbaren Vergleich wird freilich deutlich: Georg Friedrich Händel hat in nur zwei italienischen Jahren unheimlich viel gelernt: nach der Fingerübung „Rodrigo“ mit ihrem noch schematischem Personal und wenig spezifischer Gesangsbehandlung, gelingt ihm in „Agrippina“ ein erstes, echtes Opernmeisterwerk. Für Göttingen war es freilich durchaus ein bedeutender Abend. Und im nächsten dem 100. Jahr, da greift man wirklich nach den Händel-Sternen. Da sollen alle 42 Operntitel in den unterschiedlichsten Formaten präsentiert werden: szenisch, konzertant, als Jazz-Arrangement, Puppentheater, Film oder Lesung.

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Neue Ausdruckshöhe: Glanzvolle Rehabilitation für Kenneth MacMillans kakanischen Totentanz „Mayerling“ – vor allem wegen Friedemann Vogels Anti-Märchenprinzen

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Sieben Pas de Deux. Vier Variationen. Das ist der technische Aspekt. Diese Figur ist eigentlich permanent auf der Bühne. Friedemann Vogel fliegt, springt, rennt, hebt, hebelt, führt, wird getrieben, agiert, reagiert, verändert sich – in über drei Spielstunden. Denn dieser Kronprinz Rudolf, schwach, aber ehrgeizig, jähzornig und feige, liebesbedürftig und abweisend, zärtlich und brutal, zurückgewiesen von seinen Verwandten wie von seiner Zeit, er ist die wohl anspruchvolllste Rolle die ein erzählendes Ballet für einen Ballerino vorhält. 1978 hat sie Kenneth MacMillan geschaffen. Und sein „Mayerling“ ist, eben beim Stuttgarter Ballett als eigene Inszenierung in Deutschland erstaufgeführt, eben nicht nur der sehr genau beobachtete, psychologisch komplexe Totentanz einer erstarrten Ständegesellschaft und einer dysfunktionalen Herrscherfamilie. Diese royale Selbstmordgeschichte Anno 1889 bietet auch neben einer Reihe von schlaglichtartig ausgeleuchteten Frauenporträts unterschiedlichster Charakteristik eine ungemein komplexe, gar nicht sympathische, alles dominierende männlichen Hauptpartie.

Fotos: Stuttgarter Ballett

Und in die steigert sich voll Grandezza, Grazie und Größe der schwäbische Startänzer, der sich nicht nur seinen Akzent bewahrt hat, sondern auch seine jungenhaft bescheidende Art. Dabei ist er seit zwei Dezennien als Ballettprofi im Geschäft, eben ist er 40 Jahre alt geworden. Die sieht man ihm nicht an, dafür eine immer noch ungebrochene Lust auf Arbeit, Herausforderung, Tanzfutter. Und ähnlich wie 2010 in Marco Goeckes „Orlando“ hat Friedemann Vogel hier eine neue Stufe seiner Karriere erklommen. Die wirklich auf einem körperlichen Höhepunkt scheint. War der androgyne, durch die Jahrhunderte wandernde Protagonist nach Virginia Woolf eine mimische Herausforderung, Goeckes eigenwillige Technik war ihm ja schon länger vertraut, so ist der sterbensmüd’ morbide, aber eben auch ruppige k.u.k.-Thronfolger eine psychologische, dabei ebenso athletische Herausforderung.

Verhalten, sogar technisch unsicher wirkt dieser Rudolf anfangs noch im imperialen, sich wie ein Korsett ihn einschnürenden Pomp seiner Hochzeit mit der ungeliebten belgischen Prinzessin Stefanie. Während um ihn herum die Hofgesellschaft walzt und flutet – Jürgen Rose entfaltet mit nonchalanter Defilee-Geste die ganze Pracht seiner stofflichen Leidenschaften – wirkt der blasse, hellgrau bleiche Prinz wie ein Niemand, verschwindet beinahe zwischen dem Karussell zur Schau gestellter Egos und Ambitionen. Die Frauen umschwirren den bald syphiliskranken Erben des 600-jährig maroden Haus Habsburg wie Motten das Licht. Und Friedemann Vogel leuchtet stetig heller, konturenstärker.

Immer Vollgas gibt er, täglich ab dem ihm so lebensnotwendigen Training, und sieht auch nach langer Probe unangestrengt aus. Das sich selbst Schinden ist ihm zweite körperliche Natur. Wo sieht er sich selbst zwischen den beiden gegenwärtigen Tänzer-Extremen, zwischen Bad Boy Sergej Polunin und Glamour Boy Roberto Bolle? „Weiss nicht“, kommt es zunächst wortkarg. „Schubladendenken mag ich nicht. Ich versuche, mich in allen Boxen wiederzufinden, sonst entdeckt man auch nichts Neues mehr an sich. Schienen und Schubladen sind unkünstlerisch. Ich weiß nicht, wohin ich mich für die Außenwelt stecken soll.“

Er lässt es auf sich zukommen. So hat es immer funktioniert. Und das in einem Beruf, wo der Blick in den Spiegel dazugehört, inzwischen fast jeden Tag auch das sich Selbst-Inszenieren in den sozialen Medien. Friedemann Vogel, die Website bräuchte ein Update, auf Wikipedia gibt es ihn nur in Englisch, auf Instagram postet er sparsam, hält auf Abstand. Er gibt ja alles auf der Bühne, zeigt fast jeden Zoll seines geschmeidigen Körpers. „Kürzlich habe ich längere Zeit in einem provisorischen Saal ohne Spiegel geprobt. Das war interessant. Ich finde so meinen Körper wieder ganz anders, kann mich nicht sehen, korrigieren, muss spüren, fühlen. Wobei wir ja Spiegel gewöhnt sind, er ist Arbeits-, nicht Eitelkeitsinstrument. Meine Lehrerin hat immer gesagt, man muss den Platz immer wechseln, um nicht in die Routine der immer gleichen Selbstkontrolle zu verfallen.“ Alles also eine Frage der Perspektive. „Das Körpergefühl muss letztlich von innen kommen, dann ist es authentisch und einzigartig. Deswegen mag ich Videos auch nicht so gern. Ich sehe da nie, was ich gefühlt habe. Und wenn ich etwas verändere, dann wohlmöglich das, was mich ausmacht. Und in meinem Karrierestadium geht es ja kaum noch um Technisches, höchsten als Mittel zum Ausdruckszweck.“

Neben Birgit Keil scheint Vogel nicht nur der einzige deutsche Tänzer, der in Stuttgart zu Ruhm gereift ist. Er ist nach dem lange schon abgetretenen Peter Breuer auch der einzige Kerl, dem das international geglückt ist. Friedemann Vogel ist in Mailand und Moskau, in New York, Japan und Paris gefragt, er hat sie nie beworben, die Ballettchefs wollten ihn. Nur in Deutschland, da ist er kaum bekannt, obwohl er in Hamburg, München, Berlin gastiert. Freiheiten, die ihm sein Lebensmittelpunkt Stuttgart bietet, weshalb er auch immer hie geblieben ist, obwohl es genügend Abwerbungsversuche gab. Er springt mal für eine Porsche-Anzeige, ein andere Werbefoto, wir er scheinbar auf dem Eckensee vor der Oper tanzt, ging endlich auch mal im Internet viral.

Kürzlich hat er in Rom für Dior getanzt und ist beim San-Remo-Schlagerfestival im Fernsehen zu sehen gewesen. „Wahnsinn, was das ausmacht, wie man so für eine in Deutschland gern übersehene Kunstform wirbt. Tags zuvor hatte ich noch eine für mich fantastische ,Kameliendame’ in Stuttgart getanzt und bin danach einfach heimgegangen. Und wegen ein wenig Tanzeinlage im TV ist man gleich im Gespräch.“ Nein, für „Let’s dance“ sei er nie angefragt worden, nur mal für irgendeine Ninja-Warrior-Sendung: „Die wollten einfach nur einen durchtrainieren Körper vorzeigen.“

Er geht nicht ins Sportstudio, sein früher weicher Körper, der alles konnte, hat sich verfestigt, ist stärker, athletischer geworden. Noch immer ist er ein Lyriker, aber er hat inzwischen – siehe „Mayerling“ – auch den Frauen mißbrauchenden Macho drauf. Und er ist fast schon dankbar, für seine Verletzungspause 2005. Eine Stressfraktur, die sich zum Tumor auswuchs, erst nicht richtig erkannt, dann schnell und gezielt behandelt: „Ich wusste nicht, ob es weitergeht, es hat mich reifer und vorsichtiger gemacht. Und wohlmöglich vor dem Ausbrennen bewahrt.“ In dieser Zeit, sein langjähriger Partner Thomas Lempertz hat eben zu tanzen aufgehört, versucht er sich auch mit einem Laden und einem Modelabel. Goldknopf, hieß es. „Ich mag Mode. Aber nach einiger Zeit habe icha gemerkt, dass das nichts für meine Zukunft war. Ich will dem Tanz auch nach meiner aktiven Karriere verbunden bleiben.“

Wann wird das sein? „Ich weiß es nicht, werde es schon spüren. Gegenwärtig kann ich noch alles tanzen, schmerzfrei, die Jünglinge, die Prinzen, alle abstrakten Rollen. Ich genieße das. Ich plane nicht so gern.“

Friedemann Vogel hat vier Brüder, er ist der Nachzügler, fast wie ein Einzelkind mit mehreren Vätern, „die haben sich in meine Erziehung eingemischt“. Der Älteste Bruder ist ihm 18 Jahre voraus, der mittlere, Roland, zwölf Jahre. Der war schon vor ihm Solist am Stuttgarter Ballett. „Der hat mich mitgenommen aus Tübingen, so hatte ich schon früh direkten professioneller Kontakt mit der Tanzwelt. Ich wollte das schon immer machen. Ich haben nie darüber nachgedacht. Erst Privatschule in Tübingen, es war mir nicht genug, deshalb gleich Cranko Schule in Stuttgart. Ich habe mich nicht bremsen lassen.“

Alle Brüder sind künstlerisch tätig, Oboist, Klarinettist, Tänzer, Schauspieler-Dramaturg. Zwei der Brüder sind schwul, so war es auch für ihn nie ein großes Ding. „Kein Coming Out. Mein ältester Bruder saß schon mit Typen auf der Couch, das war normal, ohne jedes Versteckspiel.“

Im MacMillan-Stil ist er bewandert. Das sieht man in „Mayerling“, besonders, je länger der Abend dauert, die Anforderungen sich bis zu dem atemraubend athletisch-expressiven Todesduo steigern: „Das macht noch immer Spaß, man merkt, warum das Stück so erfolgreich ist. Die Schritte, sind einfach gut, sind einzigartig und machen Sinn. Ein wird zum Marathon mit wechselnden Partnerinnen, ist körperlich wie darstellerisch erfüllend. Das brauche ich und da habe ich auch keine Routine, bin voll dabei, arbeite an mir. Das Training ist da wie mein Wasser.“

Und am Ende, wenn Jürgen Rose, der dieses als plüschig und staubig verschriene Werk durch seine neue, lichte, weitgehend monochrome Ausstattung wieder auf seine moderne Essenz zurückgeführt hat, nur noch einen Paravent mit dem toten Kronprinzen umfallen lässt, dann wird eine weiteres Geständnis von Friedemann Vogel klar: „Ich liebe große Bühnen, die leere Fläche ist etwas Schönes. Ich bremse nicht, das macht mich müde, ich brauche den Fluss, die Weite.“ So wie Friedemann Vogel auch Stuttgart braucht, den Alltag, den Kokon, die Zweisamkeit.

Auch auf der Szene. Denn er wird ebenfalls als Partner geschätzt. Fünf Frauen, sind es in „Mayerling“, mit denen er tanzt, die er prügelt, benutzt. Glasklar brutal ist das erzählt, MacMillan versteckt nichts hinter Ballett-Prüderie. Elisa Badenes ist großäugig lüstern die erotisch aufgeladene Mary Vetsera, die Rudolf als Todesengel dient. Diana Ionescu verkörpert die fade, zurückgewiesene Gattin Stephanie. Miriam Kakerova gibt die romantische, aber gefühlskalte Mutter Elisabeth, in deren Schoß sich der Sohn schmiegt. Alicia Amatriain ist ganz wunderbar als ehemalige Maitresse Gräfin Larisch, beide würden eigentlich zusammenpassen, sie versteht ihn als einzige. Und Anna Osadcenko ist eine ostentativ zupackende Gunstgewerblerin Mitzi. Zudem stehen in dieser denkwürdigen Galapremiere, die dem neuen Intendanten Tamas Detrich ein glanzvolles Spielzeitfinale beschert, drei weitere Stuttgart-Legenden auf der Bühne: Marcia Haydée als eigentlich damals längst tote Erzherzogin Sophie mit der längsten Schleppe, Egon Madsen als zu alter, aber feiner Kaiser Franz Joseph. Und die 91-jährige Georgette Tsingurides als Hofdame.

Doch diesen gründerzeitlich düsteren Bilderbogen, dessen schwerblütige, von John Lanchbery orchestrierte Liszt-Partitur das Staatsorchester unter Mikhail Arrest aufglühen lässt, hält besonders Friedemann Vogel als Anti-Ballettprinz mit dem Hamlet-Totenschädel zusammen. Der immer wieder anders aussieht, ein großes emotionales Spektrum durchmisst, sich Morphium spritzt, seine Frau vergewaltigt, sich den drohenden Kopf hält, mit dem Revolver spielt und mit dem Jagdgewehr einen Menschen tötet. Und das alles – Genius MacMillan – durch Tanz verkörpert, aus seinem Körper heraus entstehen lässt. Mal sehen, war die Kunstform für diesen besonderen Ballerino noch bereit hält.

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Eineinhalb Jahre nach der Eröffnung: Eindrückliche Stichprobe an der Griechischen Nationaloper als moderne Kunst-Akropolis mit Fanny Ardants „Lady Macbeth“-Produktion

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Es ist voll hier. Sonntagnachmittag, das Wetter lädt in die Plaka oder gleich auf das ägäische Meer, die Bucht von Faliro liegt Blaugrau im Sonnendunst. Doch die Menschen wuseln durch die Bibliothek, sitzen am Computer, mampfen mit gutem Appetit im Café, stehen bei den diversen fliegenden Verkäufern um ein Neskaffeefrappé an, das heimliche Lieblingsgetränk der Griechen, kaufen im Shop netten Tinnef oder sie steigen gleich dem Opernhaus aufs Dach. Das mit Vorliebe. Im achten Stock geht es aus dem Panoramaaufzug hin zum Panoramablick mit Glasboden auf Akropolis und Hymettos oder zum Lighthouse, dem durchsichtigen Bar-Kubus unter dem aufgestelzten Sonnenkollektorendachsegel, hinter dem der Sardonische Golf und die Inseln locken. Zu Stadtseite aber fallen die Dächer, darunter sind auch die Parkhäuser und Funktionsgebäude, sanft als großzügige, abwechslungsreiche, sehr grüne, Olivenbaum durchsetzte Parklandschaft ab, mediterran, formal, als Spielecke, mit Brunnen, Labyrinth, Laufstrecke. Links zirkelt sich ein 400 Meter langer Kanal als symbolische Verbindung zum Meer. Er liegt trocken, wird gerade gereinigt. An den Rändern dieses Panoramablicks glitzern die sich die Hügel hochfressenden Häuser dieser eigentlich gar nicht so schönen Stadt trügerisch im griechischen Licht. Und kein Geräusch ist hier oben mehr von der sechsspurigen Posidoinios-Avenue zu hören, die einen mit dem Shuttlebus erstaunlich schnell aus dem Athener Zentrum zum Hafen bringt. Keine Frage, eineinhalb Jahre nach der offiziellen Eröffnung des neuen Domizils der 1940 gegründeten Griechischen Nationaloper als Teil des Kulturzentrum der Stavros-Niarchos-Stiftung brummt es. Und jetzt ist auf dem ehemaligen Rennbahn- und Sportgelände wirklich die „Kallithea“, die „schöne Aussicht“ vorhanden, nach der die gesichtslose Vorstadt zwischen Piräus und der Bucht von Faliro benannt ist.

Die Menschen kommen gern, füllen den Kunst- und Wissenskoloss namens Stavros Niarchos Foundation Cultural Center (SNFCC) mit Leben. Nicht nur drinnen und draußen in der Beton- und Glas-, aber eben auch Baum- und Graslandschaft, die Renzo Piano entworfen hat. Und auch die anschließende Vorstellung ist voll, obwohl ungewohnte Kost geboten wird: Dmitri Schostakowitschs wildwütiges Jugendwerk „Lady Macbeth von Mzensk“, inszeniert von einem Weltstar, den man eher nicht in der Oper vermutet, der aber gute Regiearbeit geleistet hat: Fanny Ardant, inzwischen 70 Jahre alt.

In warmem, typischen Renz-Piano-Rot sind der Sitze und die Holzverkleidung aus amerikanischem Kirschbaum im intimen, aber auch großzügigen Zuschauerraum mit seinen 1400 Sitzen gehalten, der nüchtern und doch festlich wirkt. In ausgewaschenem Rot prunkt auch Tobias Hoheisels hölzernes Einheitskonstrukt. Es drückt bühnenfüllend nach hinten in eine Ecke, links sind drei Öffnungen und ein Tür, rechts, unter einem Balkon, geht es zum doppelten Scheunentor. Ein dekonstruktivertes Bauernhaus. In der Mitte, eine Wand lässt sich zurückschieben, ist das Schlafzimmer Katerinas aufgebockt, Dreh- und Angelpunkt dieser Gesichte. Es ist großflächig gemustert, so wie auch die Bettdecken, und ganz sparsam die Kostüme der Oscar-Preisträgerin Milena Canonero und von Petra Reinhardt. Nur am Ende ist die Bühne leer, hinten symbolisieren gebrochene Zaunlatten die sibirischen Wälder.

Fotos: Sakalakis

Diese Oper, die ihren Komponisten fast das Leben kostete, nachdem Genosse Stalin sie zwei Jahre später, 1936, begutachtet und für „Chaos statt Musik“ befunden hatte, sie funktioniert eigentlich immer. Als eines der wirkungsvollsten Werke des 20. Jahrhunderts und als sicherer Erfolg.Weil die nicht eben erfreuliche Geschichte klar und effektiv erzählt wird. Weil die Posaunen japsen nach dem kleinen Orgasmus-Tod am Ende des ersten Aktes, wenn der superpotente Angestellte Sergej die sinnlich unerfüllte Kaufmannsgattin Katerina beglückt. Zum schamlosen Sex kommt ein heilloses Menschenbild hinzu, dass von Herzlosigkeit und Brutalität, Langeweile und Stupidität kündet. Plus der Darstellung einer dumpfen Dorfgemeinschaft aus lethargischen Mitwissern, einem dämlichen Popen wie einer korrupt blöden, zu einem saftig kruden Marsch antanzenden Polizei.

Das gipfelt, nach greller Satire, kruder Mordlust und unverstellter Geilheit, in der melancholisch-melodiöse Humanität atmenden, dabei hoffnungslosen Verlorenheit eines sibirischen Straflagers, wo die von ihrem Geliebte verlassene Katerina dessen neue Maitresse mit in den nassen Tod zieht.

Katastrophe und Katharsis, das kennt hier alle aus ihren griechischen Tragödien. Und so inszeniert es Fanny Ardant auch, uneitel, professionell und auf den Punkt gebracht. Dazu braucht sie keine allfällige Aktualisierung, wie man sie gegenwärtig auch bei diesem eigentlich zeitlosen Stück meist zu sehen bekommt. Die Ardant traut sich sogar ein wenig russische Folkore, vor allem in der Hochzeitsszene, wenn es endlich mal bunt wird. Sonst wird das triste Leben auf dem russischen Land nicht verschwiegen. Den spielfreudigen Chor führt sie gern im Kollektiv als Block, die Personen sind immer an der richtigen Stelle.

Am Anfang, wenn Katerina brütend am Fenster sitzt, balzen im Hof zwei nackte Männer mit einem Art Hahnenradschwanz in Weiß und Schwarz auf dem Rücken. Es geht hier um Machtgehabe, und so gibt Fanny Ardant, die bisher nur in Paris Messagers Operette „Veronique“ und Stephen Sondheims „Passion“ inszeniert hat, in dieser von ihr gewünschten Oper, dem stilisierten Realismus immer wieder ein Touch Metaphysik. In der Bettszene, wälzen sich hinter der Scheunentür die Leibe. Sind alle tot, dann trägt letztmalig ein nackter Hahn eine leblose Eva herein. Das Collectif (La)Horde ist dafür zuständig.

Gesungen wird ähnlich schlagkräftig und geradlinig, dies ist kein Stück für Subtilitäten. Svetlana Sozdateleva, eine als Katerina Ismailova vielgefragte Sängerin, wartet mit einer breiten Mittellage und etwas gaumigen Tönen auf. Lust und Frust lassen ihren Körper erbeben, den Mord als angeekelter Befreiungsversuch aus freudlosem Ehegefängnis glaubt man ihr sofort: Da steht kein Monster, sondern eine haltlose Frau, von den Verhältnissen verbogen. Sergey Semishkur als Sergej schwitzt Testosteron, was sein gepresster Tenor klar macht. Auch die Gegnerin im Gefangenenlager, Victoria Mayfatova, ist russischsprachig, das ganze andere Ensemble sind Griechen. Yannis Yannisis trumpft basstoll als notgeil erpresserischer Schwiegervater. Yannis Christopoulos ist tenorgrell der impotenter Gatte.

Schostakowitschs griffig-grelle Provinzmordsatire gelingt so als übersexualisiertes Zeit- und Zerrbild eine virtuos-meisterliche Partitur, als funkensprühendes Wunderwerk aus witziger Instrumentierungskunst, neuer Sachlichkeit und famos übersteigertem Menschheitspathos. Es mäht auch sein Athener Publikum im Beifallssturm nieder.

Der in Deutschland lebende Vassilis Christopoulos, der auch schon die Eröffnung des Hauses mit der Erstaufführung (!) von Strauss’ „Elektra“ leitete, und sein williges Opernorchester schärfen Ecken und Kanten dieser buntscheckigen Partitur, rhythmusknatternd werfen sie sich in Walzer und Märsche. Tuba und Posaunen verröcheln triebhaft in ihren berühmten Orgasmus-Glissandi, aus jedem Streichersolo träufelt Honig, scheinbar weichherzige Holzbläser-Soli verklären unsympathische Menschen. Man versteht es, die Härte dieser rhythmisch aufgeladenen Musik mit Eleganz und dichtem Schwung zu servieren, Christopoulos erweist sich als wacher Sängerbegleiter und gelassen vorantreibender Geschichtenerzähler. Ihm gelingt robuste Sinnlichkeit, unter Dampf, etwas mehr verlorene Melancholie hätte man noch aufspüren können. Dies ist siegestaumelnder Schostakowitsch, wie er singt und mordet – ohne jede blinde Stelle.

„Als die Leute den Beginn der Bauarbeiten sahen, wurde es ein Leuchtturm der Hoffnung“, sagte man über dieses symbolhafte Kulturzentrums. Es ging voran, ganz nach Plan. Es war für sie. Dem Staat geschenkt, beschlossen schon 2009, von der wohl größten privaten Wohltätigkeitsorganisation im Land. Die der 1996 gestorbene Reeder Niarchos, Buddy und Konkurrent von Aristoteles Onassis, gegründet hat. Gespeist aus einem Teil seiner – weitgehend steuerfrei – angehäuften Milliarden. Griechische Gegensätze. 670 Millionen Euro hat das SNFCC am Ende gekostet, und natürlich war und ist ein neuer öffentlicher Platz zum Lesen und Musikhören gerade in Griechenland ein unglaublicher Luxus. Aber ein lebenswerter.

In der zweiten Spielzeit im neuen Haus, läuft alles nach Plan. Hier gibt es drei Hinterbühnen, die freilich auch für Proben herhalten müssen, großzügige Ballett-, Chor- und Orchesterräume. Auch ein Großteil der Verwaltung und die Kostümabteilung arbeiten im Haus. Die „Lady“ ist die 17. Produktion der Saison im großen Auditorium, 38 waren es bereits im Studio. Man findet im Spielplan natürlich viel Italienisches, aber eben auch Zeitgenössisches – und griechische Operetten, von denen es eine ganze Menge gibt. Im alten Haus, dem Olympia-Theater aus den Fünfzigerjahren in der Akadimias-Straße, unweit dem von Theophil Hansen erbauten Stammsitz der Nationalbibliothek, lässt jetzt die Stadt studentische Musiktheaterproduktionen speilen. Und auch das Megarom-Konzerthaus produziert ab und an Oper in seinem eigenen Theater. So scheint die Musiktheatersituation in Athen reicher als gedacht. Auch nach der Übergabe an den Staat, der etwa 12 Millionen Euro pro Jahr zuschiesst, wird die Niarchos-Stiftung das Kulturzentrum für zunächst fünf Jahre weiter subventionieren. Zehn Millionen Euro jährlich sind eingeplant, die Hälfte für die laufenden Kosten von Park und Kulturzentrum, die andere Hälfte für Veranstaltungen.

Wie sagt doch Operndirektor Giorgos Koumendakis, ein Komponist, der unter anderem die Musik für die Eröffnungsfeier der Athener Olympischen Spiele im Jahr 2004 schrieb? „Die neue griechische Nationaloper ist das Symbol eines Neuanfangs. Sie steht für eine Freiheit, die leider nicht vielen Menschen in unserem Land vergönnt ist. Für künstlerische Arbeit unter bestmöglichen Bedingungen.“ Und ja, Athen hat nicht nur ein herrliches Akropolis-Museum, es hat nun, in beziehungsreicher Sichtweite, auch so etwas wie eine neue Kunst-Akropolis.

Der Beitrag Eineinhalb Jahre nach der Eröffnung: Eindrückliche Stichprobe an der Griechischen Nationaloper als moderne Kunst-Akropolis mit Fanny Ardants „Lady Macbeth“-Produktion erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

Glückwunsch: Der hippe Finne Santtu-Matias Rouvali wird neuer Chefdirigent des London Philharmonie – und verlängert in Göteborg

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Ein großer Karrieresprung, aber nicht unerwartet. Santtu-Matias Rouvali, 33-jähriger finnischer Dirigent und Perkussionist, wird ab 2021/22 neuer Musikdirektor des Philharmonia Orchestra London. Er folgt Esa-Pekka Salonen nach. Seit 2013 ist er Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters Tampere. Seit 2017 ist er zudem Chefdirigent der Göteborger Symphoniker, wo er soeben seinen Vertrag verlängert hat. Er hat bereits die Münchner Philharmoniker dirigiert, musste kürzlich leider beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin absagen und er wird im Herbst erstmals am Pult der Berliner Philharmoniker stehen. Der leicht verstrahlt wirkende, supersympathische Wuschelkopf ist ein neues heißes Eisen aus der offenbar unerschöpflichen Talenteschmiede Finnlands.

Der jüngste dreier Brüder entstammt einer musikalischen Familie: Rouvalis Eltern spielten im Symphonischen Orchester Lahti. Bevor er sich mit 22 mehr dem Dirigieren zuwandte, spielte er als Perkussionist unter anderem mit dem Finnischen Radio-Sinfonie-Orchester und dem Symphonischen Orchester Lahti. An der Sibelius-Akademie wurde er von Jorma Panula, Leif Segerstam und Hannu Lintu unterrichtet. Rouvali hat Aufnahmen mit dem Philharmonischen Orchester Oulu und mit dem Philharmonischen Orchester Tampere gemacht. Kürzlich ist bei Alpha seine erste CD mit den Göteborgern erschienen: eine mitreißende Einspielung von Sibelius’ 1. Sinfonie und En Saga. Sehr gelungen sind auch die Violinkonzerte von Nielsen und Sibelius mit Baiba Skride (Orfeo)

Seit der Saison 2017/18 war Santtu-Matias Rouvali bereits ständiger Gastdirigent des Philharmonia Orchestra. Gefeiert vom Guardian als „der neuste Dirigent der großartigen finnischen Dirigententradition, dem man aufmerksam zuhören muss“, dirigierte er lange die Kopenhagen Philharmoniker als Gast. In naher Zukunft wird Rouvali sein Debüt mit dem Leipziger Gewandhausorchester und dem Orquesta Nacionale de España in Madrid geben, sowie seine regelmäßigen künstlerischen Beziehungen zu Orchestern europaweit pflegen, zum Beispiel zum Orchestre Philharmonique de Radio France in Paris und den Oslo Philharmonikern. Er hat außerdem ambitionierte Pläne für Tourneen mit seinen eigenen Orchestern in Europa, Japan und Nordamerika. Als ehemaliger Dudamel-Fellow des Dirigentenprogramms der Los Angeles Philharmonics kehrte er in inzwischen auch für Konzerte zurück nach L.A. Er debütierte außerdem mit den Minnesota und Cincinnati Symphonikern.

Über sich selbst sagt Rouvali: „Hoch im Norden, in Skandinavien, ist es leichter, Stücke auf seine eigene Art zu interpretieren. Ich habe einen starken Willen. Wenn ich etwas erreichen will, dann mit aller Kraft, und ich muss versuchen, die Musiker dazu zu bringen. 70 Prozent unserer Arbeit ist die eines Psychologen, um andere Menschen für die eigene Sache zu gewinnen.“

Und was macht er sonst? „Ich gehe gerne jagen und manchmal auch fischen – und danach ich in die Sauna. Und dann schlafen.Ich rauche immer noch, ich muss damit aufhören. Aber in der Raucherecke treffe ich immer Leute, die mir eine Kneipe empfehlen. Und dann gehen wir dort hin. Und danach gibt‘s etwas Essen – ich liebe Fastfood. Kebab und Hotdogs. Irgendwie finde ich immer eine Currywurstbude.“

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Prag liegt am Inn: Und die Moldau fließt durch Tirol. Denn Jakob Hrůša gastierte mit Smetana und den Bamberger Symphonikern

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Der Saal heißt „Tirol“, im atmosphärelosen Foyer lautet das Motto „Kristall“ und ja, in einem Glaskasten häufen sich die Glitzersternchen der Firma S. Wir sind also in Innsbruck, im bockhässlichen, braungetäfelten Congress mit seiner Seventies-Anmutung, wo nix zusammenpasst, alles ein Geschmacksverbrechen ist, zugestellt, unübersichtlich und zudem mit grässlicher Kunst am Bau dekoriert. Macht aber nichts, der Klang im später ausverkauften Saal ist anständig, und gespielt wird hier einfach fein. Die Bamberger Symphoniker sind mal wieder auf der Durchreise und haben etwas entschieden Heimatliches dabei: „Má vlast“, Bedrich Smetanas sechsteilig patriotische Dichtung, die wenigstens klanglich zur Erstarkung eines tschechischen Nationalstaates beitragen sollte – wenn man schon politisch weiterhin von dem Österreichern abhängig war. Aktuell haben die Ösis andere Sorgen, die Tschechen (längst wieder ohne Slowakei) gerieren sich bisweilen nationalistischer als im 19. Jahrhundert Aber ein deutsches Orchester in Tirol lässt die slawische Seele glühen. Und ein Ideal des goldenen Prag liegt plötzlich im wolkenverhangenen, verregneten Inntal (ein goldenes Dacherl gibt es hier ja immerhin), wo die sich schlängelnde Moldau geistige wie tönende Gestalt annimmt. Und das auf die liebenswürdigste, strahlendste und eleganteste Art. Denn die Bamberger Symphoniker, 1946 aus Emigranten der Deutschen Philharmonie in Prag unter Joseph Keilberth gegründet und schnell zu internationalem Ruhm geführt, heute Bayerische Staatsphilharmonie, sie haben schließlich seit einiger Zeit einen tschechischen Chef. Noch dazu einen besonders vielversprechenden, längst von allen großen Orchestern weltweit umschwärmten, der sich trotzdem bis mindestens 2026 nach Bamberg verpflichtet hat: Jakub Hrůša. Und der noch nicht einmal 38-Jährige wollte jetzt, in seiner dritten Saison an der Regnitz, wissen. Bis zum Ende der Spielzeit wird er 13 Mal eben dieses so stolzerfüllte, mythenschwangerere, choralpralle, geschichtsbewusste, blechsatte aber eben auch so himmlisch melodiös danhinschwebende, tänzerisch schwungvolle, melancholisch in sich gekehrte „Mein Vaterland“ aufgeführt haben.

Auf CD gebannt (Tudor) hat man den ominösen Zyklus bereits zu Jakub Hrůšas Amtsantritt in Oberfranken. Doch jetzt wollte er die große Live-Tournee, „damit es richtig im Orchester sitzt, damit wird jeden Abend daran feilen und Spaß haben können“. Gerade ist Halbzeit. Die Elbphilharmonie und andere Orte folgen noch.

Die aktuelle Tour freilich begann gleich mit einem Prager Paukenschlag. Die dort obligatorische „vlast“-Version zum Auftakt des ebenfalls 1946 gestarteten, den politischen Unruhen von 1968 den Namen gebenden Musikfestivals „Prager Frühling“, sie durfte dieses Jahr das einstige Exilantenorchester und seinem tschechischen Chef im Smetana-Saal des jugendstiligen Gemeindehauses spielen. Hochpolitisch also. Mit Rundfunk und Fernsehen, doppelt Besetztem Holz und Blech (plus vier Harfen!) und viel Prominenz.

Ein zu Herzen gehendes, tief emotionales Konzert, wie alle sagen. Wie stets, am Todestag Smetanas, dem 12. Mai. Mehr Komponistenverehrung geht nicht. Im tschechischen TV ist es in der Mediathek noch zu überprüfen. Es war gar nicht hochamtig. Aber auch Jakub Hrůša, der schon einmal den „Frühling“ damit am Pult seiner damaligen Prager Kammerphilharmonie gestartet hat, er war natürlich tief gerührt, wie er bei der Innsbrucker Einführung erzählt. Fast scheinen die kalten Kristalle anzulaufen.

Und auch vorher, bei der kurzen, sachlichen Anspielprobe vor einem ganz besonders schauerlichen, rotverspritzten Rückprospekt auf dem Podium („es passt zwar zu meinem Pullover, aber ist da dem vorherigen Pauker etwas Schlimmes zugestoßen?“, scherzt Hrůša) wird schnell klar: Hier sind Dirigent wie Orchester vollkommen in ihrem Idiom. Da wird nur wenig justiert, eine besonders schön ausschwingende Holzbläser-Stelle in „Vysehrad“ probiert, das Blech in „Sárka“ von der Leine gelassen, was er sich aus dem Sixpack wählt wird nach Lust und Laune entschieden, „um die Spannung zu halten“. Dabei klingt es auch ohne Publikum schon richtig tschechisch groovy.

Was sich dann im anschließenden Konzert bewährt. Es tönt böhmisch in Tirol wie es böhmischer nicht geht. Und das durch viel, nicht-böhmische Musikergenerationen bewahrt. Holzbläserzentriert, mit knackigem Blech und auch mal fiedelnden, meist synchronsatten Streichern. Aber ohne Mehlschwitze, dicke Knödeltunke, Powidl-Übersüße. Das hüpft und swingt, das singt und tönt immer wird leise, leicht, transparent fesselnd, strukturklar. Aber durchaus auch mit der ganzen, blechgepanzert knackigen Armada patriotischer Schwellmuskeln.

Der Zyklus viertelstundenkurzer sinfonischer Dichtungen, mal konkret, mal stimmungszauberhaft, er wölbt sich wirklich mit sinfonischem Bogen, da sind Themen wieder zu erkennen, variieren und mäandern sich durch das Sextett, als fließe die Moldau durch alle davon. Man hört es selten gesammelt und noch seltener so überlege disponiert, so genießerisch ausgekostet und hellwach, so subtil, aber auch laut grollend, wenn die Stromschnellen (die lautetste Stelle!) rauschen, wenn die mittelalterlichen Mann sich sammeln, die Hussiten ihren Choral singen, Landsmutter Libussa auf hohem Felsen winkt oder die Jahreszeiten durch die sprichwörtlich böhmischen Haine und Flure wehen und weben.

Ob in 54 Jahren dabeigewesene Innsbrucker davon ebenso schwärmen werden wie in der Pause drei Greise vom Bamberger Gastspiel unter Keilberth Anno 1965?

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Jetzt leuchtet die „Moldau“ auch im LAC: Die Bamberger Symphoniker fahren weiter nach Lugano

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Innsbruck, wir müssen Dich lassen. Was nicht besonders schwer fällt, weil hier auf norddeutsch Schietwetter herrscht, keiner der berühmten Gipfel zu sehen ist und Il Ticino, das Tessin, lockt. Dazwischen liegen freilich einige Hundert Kilometer, viele Berge und diverse Pässe. Intendant und Chefdirigent Jakub Hruša (er muss sich mit diversen neuen Partituren beschäftigen, darunter, für eine Einspielung, das Klavierkonzert des Spätromantikers Vítězslav Novák, so eine Art tschechischer Strauss) nehmen den umständlicheren Zug, der länger dauert und wo man weniger sieht. Die Bamberger Symphoniker besteigen die unter tiefhängenden Wolken bereitstehenden Busse. Auf der anderen Arlbergseite ist es zwar auch noch regnerisch, nass glänzt die Raststation samt „Heidiland“. Aber dann wird es, immer am Rhein entlang (wir kommen auf dieser, natürlich die „Moldau“ inkludierenden „Má vlast“-Reise von den Flüssen nicht los!), doch noch eine schöne Panoramafahrt in Smetanas Namen. Vorbei an Schneegipfeln und Wasserfällen, über Brücken und durch Tunnels, fällt die Straße vom Splügenpass dramatisch ins bald sonnenhelle Tessin ab, zwischen dem geballten Lugano-Bank- und Zweitsitzbeton schauen die Gipfel des Monte Brè und des Monte San Salatore zwischen Palmkronen empor. An der Anlegestelle Paradiso strahlt der Himmel mit der Schweizer Fahne um die Wette, und rosarot, innen ein wenig plüschmuffig, gibt sich das freundliche Hôtel de la Paix. Alles sind happy, allein schon, weil es nun 24 Stunden frei gibt – bis zur nächsten musikalischen Eroberung Tschechiens auf helvetischem Boden zwischen Italienisch Sprechenden.

Beim Abendessen mit mächtig viel Fisch lässt Jakub Hruša keineswegs die 80 Mal „Moldau“ Revue passieren, die er bisher dirigentisch von der Quelle bis zur Prager Burg Vysherad durchschwommen hat, auch den ganzen Zyklus hat er schon ordentlich viel mal absolviert. Aber dem gebürtigen Brünner wird es nicht langweilig damit. „Jetzt haben wir uns gerade so richtig warmgelaufen“.

Am nächstens Tag, man mag sich kaum aus dem Pensionistentraum dieses Tessiner Sonnentages reißen, geht es mittags zum Lokaltermin zum neuen Spielort LAC Lugano Arte e Cultura, wie die seit Herbst 2015 offene Combo aus Landesmuseum samt Wechselausstellungsfläche und multifunktionalem Auditorium heißt, zu der man sich als Kulturzentrum der italienischsprachigen Schweiz nach jahrelangem Ringen endlich entschlossen hat. Eine Nürnberger Delegation ist zu den Bambergern gestoßen, die sich hier umsehen will, schließlich steht dort der Neubau einer Konzerthalle für Symphoniker und Opernorchester hinter der zu sanierenden Meistersingerhalle an, die dann nur noch für Kongresse dienen soll. Man ist schon recht weit in der Planung, möchte natürlich auch gerne vor den ungeliebten Münchnern und ihrer Pfanni-Philharmonie im Werksviertel am Ostbahnhof fertig werden.

Links ist die mit grünem Marmor verkleidete, in den See weisende Bilderkiste schwebend an der Uferpromenade aufgebockt, in der Mitte flutet geradlinig der Glasvorhang des lichten, großzügigen Foyers. Rechts, nicht sichtbar, liegt der knapp 1000 Plätze fassende Saal, davor fügt sich die alte Fassade des lange schon aufgebenden und abbrannten Hotel Palace zum Platz-U. Hinter dieser liegen Luxuswohnungen, weiter rechts, zum Beginn von Altstadt und Fußgängerzone, schmiegen sich der alte Klosterkreuzgang und die 500-jährige Renaissance-Kirche Santa Maria degli Angioli mit ihrem berühmten Freskenzyklus an das Neue und Bewahrte.

Es führt Etienne Reymond, der Chef von LuganoMusica, hervorgegangen aus dem Lugano Festival, der jetzt das LAC die ganze Saison über musikalisch bespielt. Er klagt zwar über zu wenig Bar- und Restaurantplatz im Haus, den stiefmütterlich hinter eine Steinwand geschobenen, aber gut sortierten Shop, und träumt von einem 300-Plätze-Saal für Kammermusik auf der hinteren Terrasse (von wo so manches millionenteure Luxusappartement wie eine Gefängniszelle aussieht), der das nur 100 Besucher fassende Studio entlassen soll.

Aber sonst kann Reymond nicht meckern. Der völlig holzverkleidete Saal, der trotz der großen Bühne nahtlos in ein Konzertzimmer umgewandelt werden kann, klingt – akustisch von Müller BBM in München betreut – gut und kompakt. Dank der hier obligatorischen Sponsorenfülle kann man klotzen. Natürlich auch um den Saal zu etablieren, seinen durchaus guten Leumund in der Musikgeschäftswelt zirkulieren zu lassen. Neben eingekauften und heimischen Schauspielproduktionen, zeigte man zu Beginn dieser Spielzeit auch die erste eigene Operninszenierung – „Der Barbier von Sevilla“, denn der dem Chor des Radiotelevisone Svizzera Italiana vorstehende Diego Fasolis dirigierte. Zum Glück hat der Schweizer Rundfunk davon abgesehen, sein einziges, hier ansässiges italienisches Orchester einzusparen; was letztes Jahr mal ventiliert wurde.

Unter seinem Chef Markus Poschner gibt es jährlich zehn Konzerte im LAC, weitere zehn kauft sich Etienne Reymond ein – und zwar nur vom Feinsten: die Wiener und die Berliner Philharmoniker waren diese Saison schon da, das Orchester de Paris unter Daniel Harding, das DSO Berlin, das Bayerische Staatsorchester mit Krill Petrenko, das zeitweilig wiederbelebte Orchestra Mozart unter Bernard Haitink, eben das Orchestre de la Suisse Romande unter seinem Chef Jonathan Nott, vormals Bamberg. So schließt sich jetzt sinnig der sinfonische Reigen mit den Gästen aus Oberfranken.

Und dann ist auch schon wieder Anspielprobe, ewig gleichbleibendes Tourneeritual. Jakub Hruša behält diesmal seine Lieblingsstellen bei, wieder die beiden mittig links und rechst aufgestellten, die Bardengesänge symbolisierenden Harfen aus „Vysherad“, die sich vor der Pause auch verbeugen dürfen, dann ein paar „Sárka“-Ausschnitte. Hier klingt es schnittiger, geradliniger. Und trotzdem versteht es Hruša, Hartes sofort in Weiches zu verwandeln, ein Fortefortissimo bruchlos und hauchzart abschwellen zu lassen.

Im Konzert malt er schön die anfängliche, oft eingetrübte Elegie der alten Burgruinen aus, die Blechchoräle, die Niederlage, das kraftvolle sich Aufbäumen der Nation. Energetisch fließt und springt, mäandert und wellt sich die „Moldau“, jetzt wirkt das Panorama wie scharf eingestellt. Die männermordende Amazone „Sárka“ erscheint selbstbewusst, unaufhaltsam geht es in den Untergang der Kerle mit viel Krawumm. Dann ist Pause. Die Zäsur, die nicht sein muss, tut dem Stück freilich gut, man jagt nicht von einem Höhepunkt zum nächsten.

In der Elbphilharmonie nächste Woche werden die Bläser wieder verdoppelt sein, im LAC Lugano langt es einfach, und trotzdem entfaltet „Böhmens Hain und Flur“ seinen rustikal tänzerischen Zauber, der Landschaftsbeschreibung und Volksbelustigung gekonnt miteinander verwebt und verweht. Das kann sich mitunter böse ballen, so wie sich dann auch die beiden letzten, inhaltlich wie musikalisch thematisch verbundenen Teile „Tabór“ und „Blaník“ nicht nur einmal aggressiv zuspitzen, zwischen fugenartig geschichteten Chorälen auch ein verteidigungsbereites Land spüren lassen. Bis sich am Ende alles sehr präzise, mit einem klar konturierten Schlusschor in den diversen Motiven gleichberechtigt entspannt auflöst. Von welchen anderen Land würden wie uns solches heute noch im Konzertsaal bieten lassen? Die Bamberger Symphoniker unter Jakub Hruša sind jedenfalls wunderbare Museumsverwalter dieses kostbaren wie nationalistischen Klangrelikts. Das irgendwie mythische Heimat für alle Hörenden ist.

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