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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Die Mama von Castorf, Stone & Co: Pina Bauschs nach 27 Jahren wiederaufgenommene „Macbeth“-Paraphrase erweist ihre Strahlkraft

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Wahnsinn, die wilde Kreativität, die ungebremste Experimentierlust jener Zeit! 1978 ist Pina Bauschs Tanztheater in Wuppertal fünf Jahre und neun Stücke alt – vier davon werden bis heute gespielt. Und jetzt versucht sie sich erstmals an einer Zusammenarbeit dem Bochumer Schauspielhaus, Peter Zadek hat sie eingeladen, hat ihr Vitus Zeplichal, Volker Spengler, die Sängerschauspielerin Sona Cervana und eine junge Frau mit einer Bassstimme, Mechthild Großmann, zur Verfügung gestellt. Fünf Tänzer kommen dazu, darunter Jan Minarik, Dominique Mercy, Vivienne Newport und die ebenfalls junge Josephine Ann Endicott. 41 Jahre später, 27 davon, die das Stück mit dem Bandwurm-Titel „Er nimmt sie an der Hand und führt sie in sein Schloss, die anderen folgen“ nicht mehr zu sehen war, steht Endicott mit dem ebenfalls damals beteiligten Hans Dieter Knebel in der typisch untergehakten Bausch-Verbeugungsreihe. Sie haben das Stück wiedereinstudiert, die Prinzipalin ist nämlich seit zehn Jahren tot.

Fotos: Klaus Stratmann

„Er nimmt sie an der Hand…“ ist anders als die anderen. Hier hat sich die Bausch, bevor sie im selben Jahr in „Café Müller“ und „Kontakthof“ endgültig ihre eigene, bis heute umwerfende Art des Tanztheaters als drastisch geordneten Gefühlschaos und tänzerischer Vivisektion zwischenmenschlicher Zustände fand und ab 1984 jeweils im Mai nur noch eine Produktion pro Jahr vom Kreativstapel ließ, einmal noch stärker als sonst dem Schauspiel genähert: Shakespeares „Macbeth“, der Titel ist das Zitat einer Regieanweisung. Und lange, lange vor Frank Castorfs Dekonstruktionen, Nicolas Stemanns Wiederholungen, Falk Richters Tanzparaphrasen oder Simon Stones Textüberschreibungen hat sie deren Methoden alle schon mal ausprobiert und angerissen. Um sich dann wegzubewegen von den vorgegebenen Inhalten der Klassiker, mit denen sie sich bis dahin vorwiegend auseinandersetzte, hin zu den eigenen, den ihren, längst auch klassisch gewordenen Stoffen.

Beim Bochumer Shakespeare-Kongress wurde diese Versuchsanordnung von den Herren Professoren wüst ausgebuht, ebenso von den damaligen männlichen Tanzgroßkritikern – soweit überhaupt anwesend. Denn hier, in dieser sehr deutschen und doch sehr phantastischen Tanztheaterwelt, gibt es keine Hexen und keine Krieger, kein Schottland dun keinen Nebel. In Rolf Borziks kahler Großbürgervilla zerfleischen sich in der Morgendämmerung zwischen abgeranzten Sesseln und Sofas, Bettgestellen, einem Beichtstuhl, einer Dusche, einem verglasten Schrank und einer Jukebox bloß Männer und Frauen, die vermutlich Schlimmes erlebt haben, aber traumarisiert nicht voneinander lassen können. Dazu läuft ohne Unterlass Wasser aus einem Schlauch über den roten in eine Lache an der Rampe, Ersatz für einen anderen, besonderen Saft.

An der Rampe, die erste Stuhlreihe ist vorsichtigerweise mit Plastikfolie abgedeckt, weil sich Maik Solbach, der jetzt den am ehesten dem an seiner Schuld verzweifelnden Macbeth ähnelnden Mann spielt, sich kurz vor Schluss todesmutig in die Pfütze stürzt, steht eine Absperrkordel mit Messingstangen. Mutet das dreistündige, sauber durch eine Pause nach den ersten 90 Minuten getrennte Geschehen etwa museal an? Mitnichten. Pina Bausch, sie nennt sich hier für „Regie“ zuständig, während Fassbinder-Komponist Peer Raben für die später so typisch gewordenen Collage aus Tangos, „Spiel mir das Lied vom Tod“-Filmmusik, Verdi, Easy Listening und Kinderliedern verantwortlich zeichnet, lässt wenig tanzen. Sie erkundet ihren späteren Stil, nimmt sich ausgerechnet das Ehepaar Macbeth zwischen Blumen und ausgeleerten Spielzeugkisten als einem Friedhof der Kuscheltiere als Kronzeugen ihrer späteren selbstzerstörerischen Duos. Johanna Wokalek, sehr sexy, sehr tanztrainiert, malt sich die Lippen und erzählt als Lady M. (wie in England wird der Namen des verfluchten Stückes nie genannt) von ihren erschrecklichen Mord-Moritaten. Mal im Unterrock, mal in der weißen Glitzerrobe, mal als schwarzer Todeengel, am Ende tropfnass und immer noch seelisch befleckt. Sie reibt sich weiter die Hände, weil der imaginäre Blutfleck nicht abgeht.

Sie alle umtreiben Albträume, die sie sich in den Sesseln wälzen, in die Sofas hechten lässt, manisch, depressiv, dann wieder somnambul. Perfekt wechseln die Aggregatzustände, das Tempo, die Dynamik, die Themen und Szenenfolgen, bis sie endlich mal alle vereint in einer Kinosesselreihe lungern. Hier kann man das gebaute Konstrukt noch als rough cut studieren, später gelingen die Übergänge und Variationen der Bausch-Themen geschmeidiger.

Julie Shanahan und Jonathan Fredrickson sitzen auf einer Liebescouch und massieren sich trostlos, Oleg Stepanov wiederholt immer wieder seinen süßen Solotanz zum blechernen Synthie-Sound aus der Box. Man wechselt die Kleider auf der Bühne, ist aufgedreht und sediert. Vor der Pause gibt es eine dieser typischen Bausch-Diagonalen als extrovertiert verwirbeltes Posing-Defilée. Die meist jungen Akteure, die hysterisch überdrehte Asiatin Tsai-Wei Tien, der bärtige Douglas Letheren, die puppenhafte Stephanie Troyak, die steif auf dem Klavier in der Ecke abgelegt wird und die immer wieder um Tragehilfe bittet, der meist dandyhaft smokingtragende Michael Carter und die zwei Schauspieler, sie machen das fabelhaft, es ist ihr Stück geworden.

So wie auch schon die jungen Tänzer beim Bayerischen Staatsballett sich „1980“ angeeignet haben, vorher die Tänzer des Pariser Opernballetts die mit dem Kanon noch stärker verbundenen Pina-Bausch-Werke „Sacre du Printemps“ und „Orfeo ed Euridice“ zu den ihren gemacht haben. Und auch den Mitgliedern des Dresdner Semperoper Balletts steht zum Ende der Spielzeit Ähnliches mit der Neueinstudierung der frühen „Iphigenie auf Tauris“ von 1974 bevor.

Pina Bauschs Werk lebt weiter. Sie hätte wohlmöglich bei „Sie nahm ihn an der Hand…“ ein wenig gekürzt, zugespitzt, aber auch so erkennt man noch sehr gut die Sprengkraft, die dieses völlig neue dramaturgische Konstrukt einst hatte. Erstmals hat sie hier die Tänzer befragt und die Antworten tanzen lassen, so wie es jetzt Julie Shanahan als anglophile Blondhaar-Domina liebeswürdig selbstironisch vorführt. Und auch wenn man sich bis in die Typographie des Programmhefts retro gibt, das Bühnengeschehen ist sehr heutig.

Und legitimiert unbedingt den Wunsch, der auf unschönste Art geschassten Intendantin Adolphe Binder (bis jetzt hat sie sämtliche Arbeitsprozesse gewonnen, da wird wohl ordentlich Geld von der Stadt Wuppertal plus Kompensation für massive Rufschädigung fällig), nach zwei ersten, spektakulären, abendfüllenden Uraufführungen in der letzten Spielzeit, innezuhalten, sich zu besinnen, mit diesem sehr besonderen, auch sperrigen Stück zurück zu den Wuppertaler Wurzeln zu gehen.

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Wien bleibt Wien: „Die Frau ohne Schatten“ zum 150. Staatsopernjubiläum als szenischer Flop und musikalisches Top-Ereignis

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„Übermächte sind im Spiel“. So endet der zweite Akt der „Frau ohne Schatten“ im atonalen Krawumm, in einer Orchesterentladung, wie sie sich selbst der robust-lautstärkeaffine Richard Strauss hinterher nie wieder gönnte. Und ein besseres Stück hätte man nach der Entlarvung Österreichs als auch politischer Operettenrepublik zur davon naturgemäß nur leicht überschatteten Feier zum 150. Jubiläum der Wiener Staatsoper eigentlich kaum finden können. Zumal auch der 100. Jahrestag der Uraufführung dieses seltsamen Musiktheaterdinosauriers anstand. Schon damals, 1919, nach Kriegsniederlage, Dynastie- wie Landverlust und Elend, als die ewig imperiale Staatsoper aus der kakanischen Ringstraßen-Belle-Etage politisch in die Färberhaus-Vorstadtniederungen der bis heute andauernden Operettenrepublik hinabgesunken war, fand sich das monströse Musikding eigentlich ganz passend zur Stelle. Der weltschmerzende Hugo von Hofmannsthal konnte als Librettist einmal mehr in die dünne Kunstmärchenatmosphäre der „südöstlichen Inseln“ ein- und aus dem aktuellen Übel abtauchen. Und der Richard, der durfte hier stundenlang, blechgepanzert und streicherkunsthonigseimsabbernd so richtig die Strauss-Sau rauslassen. Was er mit Wonne und Können, ja sogar mit einem expressiv schroffen Wagemut tat, der ihn danach leider verlassen hat. Und dem Haus am Ring bescherte das kuriose Duo aus silbenschmackigem Ästheten und bayerischem Tondreschflegel einen seiner wenigen Uraufführungen von Bedeutung.

Fotos: Michael Pöhn

Was aber auch passt. Denn schon 1869 zog man aus dem Kärtnertortheater (wo heute das Hotel Sacher steht) einen Häuserblock weiter an die neue Ringstraße eher der Repräsentation denn der Erneuerung der Gattung wegen. Die Wiener Staatsoper war und ist ein Hort des Bewahrens, der Tradition. Revolutionen gehen von anderswo aus, hier gefällt man sich als mal besseres, mal staubiges Museum des wohlmöglich fragwürdig gewordenen Repertoiretheaters mit weltweit konkurrenzlosen 58 Titeln (plus Balletten) im Jahresspielplan – und möglichst keinen Regieexperimenten. So wie jetzt, wo ausgerechnet für dieses komplexe, gerade in Wien besonders gern gekürzte und verunstaltete Unikum, das zuletzt 1999 in einer klugen, sogar beim Publikum akzeptierten Robert-Carsen-Produktion herauskam, wieder mal ein totaler No-Name erwählt wurde.

Vincent Huguet stand Patrice Chéreau nahe und betreute als Assistent seine beiden letzten Operninszenierungen. Er selbst hat bisher nur ein einzige herkömmliche Oper herausgebracht, „Lakmé“ in Montpellier. Und so war diese verschwurbelte Hohelied auf Mutterschaft und Fruchtbarkeit, womit die Autoren vielleicht nach dem Blutzoll, die der Weltkrieg unter der jungen Generation gefordert hat, an die Weiterexistenz der Menschheit appellieren wollten, das aber jeder modernen Frau schon rein textlich Migräne bereiten muss, nun in Wien als in keinster Weise hinterfragte Interpretation die Bankrotterklärung einer Inszenierung. Und noch nicht einmal zu einem exotisch bunten Bilderbogen langte es. An der Berliner Staatsoper soll Huguet nächste Saison einen neuen Mozart/da Ponte-Zyklus starten. Bisher hat er zum Glück nur einen „Così fan tutte“-Vertrag.

Ausstatter, die besser ungenannt bleiben, behängten das frohgemut mit dem Armen rudernde Singpersonal mit mal blauen, mal roten, grauen oder schwarzen, in der Regel unkleidsamen, rein gar nichts bedeutenden Lappen. Arrangiert wurde alles rampennah nichtssagend vor sich türmenden Felsen, die entweder als Dauerwerbung für Oper im Steinbruch St. Margareten durchgehen, oder endlich belegen, dass der ominöse Kaiserinnenvater und Geisterkönig Keikobad in Wirklichkeit Styroporfabrikant ist. Dazu gab es noch einen windschiefen Pavillon, einen (Achtung, Regie-Idee!) offenbar als „Walküren“-Reminiszenz zwischen toten Helden auf der Walstatt jagenden Kaiser, viele schwarze Vorhänge für die völlig unspektakulären Szenenwechsel und im banalen C-Dur-Jubelfinale embryonale Lichterketten mit den „Stimmen der Ungeborenen“. Schließlich wirbelten Spektralpunkte, die selbst die 91-jährige Frau Kammersängerin Christa Ludwig – eine der berühmtesten Färberinnen überhaupt – darüber nachgrübeln ließen, ob das wohlmöglich „kosmisches Sperma“ sein könnte.

Sei es drum, viereineinhalb Stunden passierte auf einer dunklen, vollgestellten Bühne bis auf die Erscheinung eine nackten Statistenjünglings, der sich gleich leblos daniedersetzte, rein gar nichts – und das in denkbar hässlichstem Ambiente. Wien, bleibt eben Wien, Augen zu und musikalisch durch. Im Graben waltete wieder mal Christian Thielemann. Mit den Philharmonikern hatte er 2011 in Salzburg einen exemplarisch modernen, gehärteten unsentimentalen Strauss-„FroSch“ dirigiert. Jetzt gerieten ihm die Tempi eher gefährlich breit, man delektierte sich allzu sehr am süffigen Sound. Erst zum Ende des zweiten Aktes kamen nicht nur die „Übermächte“, sondern auch ein schnittiger Drive und kantiger Klang ins übersüßliche Spiel, für das im dritten Finale sogar die Glasharmonika aufgeboten wurde. Mit 65 Minuten Spielzeit war dies vermutlich der vollständigste dritte Akt überhaupt.

Was der hier aufgefächerten vorfreudianischen Paartherapie und ihren szenischen wie inhaltlichen Zumutungen, inklusive Geigensolo, Melodram und fötalem Jubelchor auch nicht zugute kam. Aber insbesondere durch die vielen geöffneten Striche die herausragend sopranlichte Kaiserin von Camilla Nylund und die als schartige Mezzoscherbe grandios klirrende Amme der leider tiefendünnen Evelyn Herlitzius nobilitierte. Über sein Rollenzenit hinaus, aber mit sattelsicheren Stentortönen prunkend stand Stephen Gould den undankbar-uninteressanten Kaiser noch stoischer aus als sonst. Und der vokal üppiger und feinrunder gewordene Wolfgang Koch war ein rolleneckend tumber Barack mit speckigem Fetthaar. Sehr menschlich anrührend die Debütantin Nina Stemme als Färberin, ohne jede Keifattacke, ratlos in ihrer verletzten Liebessuche. Nur ein wenig mehr legatogebunden könnte sie ihre warm flutenden, im Stimmkeller wohligen Töne singen. Aus den Restrollen ragte Samuel Hasselhorn als baritonklarer einäugiger Barak-Bruder heraus.

Für ein solches Ereignis war der Applaus letztlich schnell endenwollend. Strauss-Ekstasen und Mutterschutz-Paroxysmus haben an der Wiener Staatsoper schon ganz anders geklungen.

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Gluck aus dem Geist des Tanzes: Sidi Larbi Cherkaoui und Antonello Manacorda vitalisieren in München „Alceste“

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Hier wird viel getrauert. Und viel getanzt. Das ist schon im Original so. Weil Christoph Willibald Gluck die ewige Ariensingerei der Opera Seria à la Händel, an der sich inzwischen auch das Publikum übergessen hatte, Leid war, und weil er – wieder mal – zurück zu den Tragödienursprüngen der Griechen rückwärts wollte. Die man fälschlicherweise mit Musiktheater verwechselte. Ein schöner Irrtum. In Glucks Reformopern wurden jedenfalls die Arien kürzer und weniger virtuos, dafür die Chöre mehr und die Tänze erst Recht. Das konnte er sich von der französischen Hofoper abschauen. Er hatte zudem choreografische Kollaborateure sowie in Marie-Antoinette von Frankreich eine Königin, die er noch als Erzherzogin Maria Antonia am Wiener Hof unterrichtet hatte und die ihn später nach Paris einlud. Dort reformierte er nochmals einige seine Reformwerke, so auch neun Jahre später die 1767 erstmals in Wien gegebene „Alcestis“, welche vom Schicksal der thessalischen Königin erzählt, die sich anstelle ihres sterbenskranken Mannes in die Unterwelt begibt. Bei Gluck wurden zwar große Szenenkomplexe daraus, aber die sind oft ein wenig statisch. Und die besondere Gabe zündender Melodien war ihm auch nur selten gegeben. So hat es Gluck – „Orfeo ed Euridice“ mal beiseite gelassen – heute schwer auf der Bühne. Er gilt als spröde und öde, im besten Fall als vorweggenommene Eurhythmie. Das aber muss es nicht sein, wie jetzt bei der „Alceste“-Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper zu erleben: Er vermag durchaus musikalisch mitzureißen. Strahlend, schmeichelnd, tröstend, sanftmütig und auffahrend, unterschwellig erotisiert. Gluck als erster universeller und europäisch stilbildender Komponist, der der barocken Oper das der Sängereitelkeit geschuldete Koloraturfeuerwerk nahm, stattdessen edle Einfalt und stille Größe als Zurück zu den Ursprüngen verordnete. Seine tönenden Dramen sind so modern, weil sie ganz psycholgisch für die gleichen Gefühle immer wieder neue Nuancen des Ausdrucks finden. Die man zeigen muss.

Fotos: Wilfried Hösl

An diesem Abend kommt, auch wenn es traurig ist, aus dem hochgefahrenen Graben Freunde und Spaß. Da fahren die Tänze auf, rauschen die Unisoni im Crescendo wie Raketen los, schlängeln Oboen ihre Schleifen, setzten Flöten zum Höhenflug an, gluckern unten die Naturhörner und schallen oben die Trompeten. Kraftvoll beweglich klingen dazwischen die Arien, breit, doch flexibel wallen die Chöre. Mit gezackten Lautstärkeschüben und wohlgestaffelten Akzenten wird besonders der jeweilige Ab- und Aufgang in die und aus der Unterwelt behandelt. Antonello Manacorda steht in seiner ersten Premiere mit genau ausgezirkelter Gestik am Pult, Tanzmeister und Dirigent, bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Er versucht eine Gratwanderung: einen historisch informierten Gluck auf weitgehend neuzeitlichen Instrumenten für ein großes Haus, mit variantenreichen Tempi, hell, tänzerisch, ohne den biestig keifenden Furor so mancher Alter-Musik-Spezialisten.

Und weil auch auf der Bühne strikte Moderne herrscht, sind manche Tänze etwas langsamer als sonst, es fehlten die krassen Dynamikunterschiede. Getanzt wird freilich vom ersten Ouvertürentakt an, denn man hat die Regie konsequenterweise einem Choreografen übertragen, noch dazu einem der besonders innovativen, vielfältig beschäftigten unserer Tage: Sidi Larbi Cherkaoui. Der ist in München kein Unbekannter, hat er doch schon Rameaus „Les Indes galantes“ visualisiert, freilich politisch zugespitzt und inhaltlich verengt als religiös determinierte Asylantengeschichte.

So viel Konzept gibt es bei „Alceste“ nicht. Alles ist reduziert auf den Grundkonflikt: Lässt der Mann zu, dass seinen Frau sich für ihn opfert? Das geht einher mit vielen Leidensmelodien für den Partner, das gemeinsame Schicksal, die Grausamkeit der Götter. Die freilich kommen als Dei ex machina. Erst räumt der tumbe Herkules in der Unterwelt auf, dann gewährt Apollo den Gatten Gnade. Im Grunde weiß man das von Anfang an, also inszeniert Cherkaoui eine meist helle, kinetische Versuchsanordnung. Getanzt wird kraftvoll, energetisch und doch leicht, mit vielen kleinen Sprüngen, Drehungen, Verschlingungen. Die Arme schießen in starke Dynamik hoch und quer. Das mischt sich immer wieder gut mit den engagierten Chören, meidet die Starrheit, hat bisweilen auch das Dekorative einer hippen Modenschau, und viele flattrige, locker die Körper umfließende Kleidermodelle von Jan-Jan van Essche defilieren über den imaginären Catwalk.

Auch das dienende Bühnenbild von Henrik Ahr ist nur ein Rahmen für die Arrangements, die bewusst immer wieder ausgestellten Tableaux: ein paar helle Stufen, jeweils drei schwenk- und in sich drehbare Paneele, die ein wenig schraffiert sind und für die Unterwelt Käfige offenbaren. Im Hintergrund fährt ein Tor rauf und runter, das Personen einsaugt und ausspuckt.

Vieles ist da Ritual und Zelebration, aber locker aufgelöst, nicht immer symmetrisch. Konfetti fliegen, Bewegung wird Musik, auch wenn Alcestes’ Traueroden mit Tüchern umfangen und verschlungen werden, die Königin auf Stoffbahnen gedreht und gezogen, von den Tänzern erhoben, wie beim Stage Diving im Popkonzert über den Köpfen getragen wird. So geschieht es auch Admète, ihrem Mann, kommt der vom Krankenlager wieder. Er in Schwarz, sie in folkloristisch Gelb, auch Herkules trägt einfach nur einen gescheckten Hirtenmantel. Dieses Griechenland liegt in Multikultien.

Cherkaoui versucht diese im Ungefähren, Design-Schicken zu verorten, Beziehungen der Ehepartner durch Bewegung zu vergrößern und zu verlängern. Und schießt bisweilen über das Klassenziel hinaus. Die lange, intensive Zweierszene im zweiten Akt hätte man gern ganz konzentriert ohne Tänzerbeilagen gesehen, ebenso sind die Protagonisten oftmals singend an die Wände gedrückt, weil Chor und die fabelhaft diversifizierte Eastman Company ihren Platztribut fordern. Nur die Geschöpfe der Unterwelt, nebelumwallte Stelzevierfüßler in Schwarz ergeben groteske Arrangements.

Selbst vokal wollte man diesmal einen heute fast schon mutigen Mittelweg zwischen den stilistischen Meinungslagern gehen. Früher wurde die Alceste gerne mit einer dramatischen Heroine besetzt, reine Barockstimmen wirken bei der Partie gern zu dünn und verhungert. Dorothea Röschmann hat Alte-Musik-Erfahrung, aber jetzt ist sie eine reife, lebenserfahrene Sopranistin mit immer noch lyrischem Ansatz, aber dickerer Mittellage und fülligen, selten gespreizten Tönen. Natürlich ist das Jungmädchenhafte dahin, aber ihre Intensität füllt die Bühne als Monument des Leidens. Auch Charles Castronovo ist sonst meist latin lover im italienisch lyrischen Fach, hier Ersatz für einen französischen Haute-Contre; was er mit metallischeren, auch mal gepressten, durchaus lauten, aber schön timbrierten Tönen wettmacht.

Michael Nagy wirkt als orakelnder Priester und verschmitzter Hercule etwas verhärtet. Aus den sorgfältig besetzten kleineren Rollen fällt wieder einmal die selbst kopfüber zauberhaft sopranrein singende Anna El-Khashem beglückend positiv auf. insgesamt ein Gluck, der sich selbst genug ist, auf den Grundkonflikt konzentriert, minimalistisch der Musik huldigend. Die viel bunter, vitaler, mitreißender klingt als wohlmöglich gedacht!

Am 1. Juni live und kostenlos auf staatsoper.tv, dann 30 Tage in der Mediathek von br-klassik.de/concert

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Ein seltsam dämmriges Strauss-Glück: Christof Loy hält am Teatro Real in Madrid „Capriccio“ ganz wundersam in einer Zeitschleife gefangen

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Eine taubengraue, leicht gekrümmte Wandfläche. Nur gegliedert durch eine Lambris. Oben abgeschlossen mit sanft glimmender Milichglasdecke. Ein marmorgrauer Kamin, halb von einem Leintuch verdeckt, ein kerzenloser Bronzeleuchter auf dem Sims, dahinter ein hoher, angelaufener Spiegel in schnörkellosem Goldrahmen. Ein paar Sitzmöbel, ebenfalls unter Schutzdecken, locker im Raum verteilt, ein umgefallener Stuhl. Und eine Tapetentür nach draußen. Das ist es, was sich Raimund Orfeo Voigt als minimalistisches, meist in diffuses, oft sogar trübes Licht eines Vilhelm-Hammershøi- Bildes getauchtes Einheitsdekor für das „Capriccio“ von Richard Strauss erdacht hat. Und doch ist dieses jüngste Madrider Beispiel wieder eines dieser weltverlorenen, realitätsfernen, ganz im psychologischen Zwischenreich der Oper spielenden Christof-Loy-Settings zwischen Traum und Wirklichkeit geworden. Sehr bedeutungsvoll, oft kaum zu entschlüsseln, gerade aber in seinem nur angedeuteten Moment des Unsagbaren interessant.

Fotos: Javier de Real

Erst zweimal ist dieses spröde, schöne, diskursschwere, parlandoleichte, aber eben auch intrikate Spätwerk des letzten Großkomponisten des 19. Jahrhunderts in Spanien gespielt worden. Und am Teatro Real scheint es noch auf Reste einer gut konservierten, durchaus ihre Statussymbole zur Schau stellenden Ständegesellschaft zu stoßen. Deren südländischer Lebensfreude freilich dieser theoriesatte Wort-Florettfechterei über die Vorherrschaft der Musik über den Text oder umgekehrt gänzlich fremd ist. Und trotzdem folgte das Publikum einigermaßen aufmerksam, es gab langen Beifall, Loy hat es also gebannt und in in seine melancholisch wehe Zeitreise hineingezogen.

Hier bleibt alles in der Schwebe, wir sind nämlich sicher nicht in in der Kulisse der in den kurzzeitig verwendeten Kostümen angedeuteten Rokoko-Epoche, in welcher die eigentlich, knappe „Capriccio“-Handlung spielt: als frivole Liebesversuchsanordnung zwischen der verwitweten Gräfin Madeleine und der sie umbuhlenden Rivalen, dem Dichter Olivier und dem Komponisten Flamand, in dem sich natürlich Strauss porträtierte. Die sollen sich erst in einem Sonett, dann in einer Oper künstlerisch um die Zuneigung der Adeligen messen. Und dann ist da noch deren Bruder, der sich zu der Schauspielerin Clairon hingezogen fühlt, während der Theaterdirektor La Roche Sein und Schein inszeniert und arrangiert.

Dem wiederum ist Regisseur Loy übergeordnet. Und er tut es auf sehr subtile. eigentlich alles in der Schwebe lassende Art. Da sind, wie gesagt, die Rokokoreste im Raum, Diener in ebensolchen Livreen, eine jugendlich gealterte Ballerina, die geisterhaft weiß übers Parkett zu trippeln scheinen. Und da ist eine Dame im Reisemantel, die grauen Haare zum Knoten geschlungen, die sich graziös mit einem Begleiter durch die Szene bewegt. Möbel werde aufgestellt, Hussen entfernt, zwei weitere Herren, offenbar Olivier und Flamand, kommen mit Stift und Blatt, möge das Spiel beginnen!

Die Dame ist wieder verschwunden, statt dessen tritt ein weitere, jüngere, ihr Ähnliche auf: die Gräfin Madeleine im Diskurs mit ihrem Bruder. Und Malin Byström wird, auch wenn sie Bühne bisweilen verlässt, stetig präsent sein. Sie ist der gleißend schöne, auch ein wenig kühle Soprankristall, in dem sich – „morgen mittag um elf!“ – bis zur gustiös ausgekosteten Schlussszene das Geschehen bündelt und bricht. Sie ist Dreh- und Angelpunkt dieses gedanklichen, gespielten und gesungenen Konstrukts, das sich – als Überlagerung mehrere Zeitebenen – möglicherweise in ihrem Kopf abspielt. Denn im Verlauf der folgenden zweieinhalb Stunden zeigt sich, die ältere Dame und die junge Ballerina, das Lustmädchen des gänzlich #MeToo-unangekränkelten Theaterdirektors, die er zum Plaisir der Müßiggängergesellschaft im Salon antreten lassen wird – sie sind ein und dieselbe Person. Wenn sie im Finale in fast identisch weißer Organzablütenrobe (zauberhafte Kostüme: Klaus Bruns) alle drei abwechselnd dahingleiten, dann wird das endlich klar.

So deutet Christof Loy auf intelligente Weise an, lässt den elfenbeinturmgeschmäcklerischen Metadiskurs des alten Strauss mit seinem Librettisten-Dingenten Clemens Krauss in Kriegs- und Nazizeiten 1942 ablaufen, und unterlegt ihm noch weitere Bedeutungsebenen. Ist die alte Dame, die Gräfin, wohlmöglich Jüdin, die nach erfolgreicher Flucht in ihr bewahrtes Schloss zurückkehrt? Oder ist das nur eine „Kathedrale der Erinnerung“, so wie in Korngolds „Die tote Stadt“? Für wen auch immer? Die Kleider sind meist zeitlos, alle Personen sind oftmals auf der Szene, auch wenn sie das gar nicht müssen; selbst die bisweilen oftmals sich unbotmäßig flegelnden Diener. Es ergeben sich ganz neue Konstellationen der Charaktere, diese agieren schärfer, konkreter als im Stück vorgesehen, auch in ihrem Bewegungshabitus moderner, als es die stetig – als Theaterkostüm? – auftauchenden Bauschröcke und Kniebundhosen meinen.

Die Szene der italienischen Sänger (sehr rollendeckend: Leonor Bonilla und Juan José de Leon) wird wirklich als Opernspiel mit wechselnden Requisiten inszeniert uns scheint doch einem neorealistischen Film entsprungen. Wer aber ist hier eigentlich der Regisseur? La Roche nicht wirklich. Immerhin, seine Apologie auf die Bühne führt zu einem vokal wunderbar durcheinanderkreuzenden Wortscharmützel aller an der Rampe. Olivier hat immer noch ein Auge auf die Clairon, einem vergangenen Flirt, die Gräfin oszilliert zwischen allen. Ruckelt plötzlich als greisenhaft gewordene Ballerina dazwischen. Und geht am Ende mit dem Majordomus (Torben Jürgens) weg, jetzt mit Schnurrbart als ihr gealterter Begleiter des Anfangs identifizierbar.

Christof Loy, der dieses präzise, komplexe, wie in den letzten Regietheaterjahren (Carsen, Gürbaca, Fassbaender) aber auch sichtbar sehr tiefenscharfe Stück, ganz offenbar liebt, hält die Aufmerksamkeit wach und lässt vieles offen. Weil es so gerade nicht zueinanderpasst, aber doch irgendwie Sinn macht. Das schärft die Aufmerksamkeit auch über die berüchtigt trockenen „Capriccio“-Stellen hinweg.

Und getragen wird das, von Asher Fish robust dirigiert, aber geläufig, nie zu langsam werdend, im Sextett und der Mondscheinmusik freilich mehr Zartheit und farbenschillernde Durchsicht brauchend, von einem erstklassigen Ensemble von lauter Debütanten. Die Byström überstrahlt mit ihrem Glanz von Künstlichkeit alle und füllt diese facettenreich undurchsichtige Figur vollkommen aus. Wie eine schaumgeborene Venus segelt auf den sämigen Schlagobers-Wellen dieser Musik dahin, beinahe gemäß der „Rosenkavalier“-Marschallin „ein halb Mal lustig, ein halb Mal traurig“ formt sie ihre kaum greifbaren, im Vagen so wohlig schönengeistige Silhouette.

Zehn Personen machen – wild durcheinander singend – bei diesem „Konversationsstück für Musik“ den schönsten Lärm der Welt. Sie streiten über die Vorherrschaft des Wortes oder des Gesangs in der Oper. Nicht wirklich prickelnd, möchte man meinen. Aber allerfeinst vorgetragen. Bis es in herrlicher Dur-Schwebe und schönster, delikatester Strauss-Geigenapotheose endet. Der junge, nachdrücklich artikulierende Bariton Josef Wagner ist ein unreifer, ungestümer, aber sympathischer Graf, der ständig an der flapsige Actrice Clairon im Hosenanzug (mit ungestümem Hosenrollenmezzo: Theresa Kronthaler) hängt. Norman Reinhardt mit hellem, bisweilen flachem Tenor (Flamand) und der baritonbissfeste, fesche André Schuen (Olivier) sind auf leidenschaftliche, ja sinnliche Art in ihre Liebes- wie Kunsthändel verstrickt und geben ihnen plastisch moderne Kontur. Der basssaftige Christof Fischesser als wirkliche Menschen in den Kulissen suchenden Theaterdirektor La Roche wird hier nicht nur zum Thesenträger. Und den schläfrigen, vergessenen Souffleur-Grottenolm Monsieur Taube, er ebenfalls am Anfang wie ein Überbleibsel im Sessel vergessen saß, adelt John Graham-Hall zur zwielichtigen Figur. Ja, selbst die acht Diener, hier sehr viel länger als sonst auf der Bühne, gewinnen vokales Eigenleben.

Und schließlich sitzt da wieder die Tänzerin in jung und spielt mit einer bereits am Anfang achtlos liegengelassenen Marionette. Und Madeleine lässt das Sonett, um das sich alles dreht, auf den Boden fallen. Gliederpuppen ihrer Autoren, den Regisseur eingeschlossen, sie alle. Man hat am Teatro Real (in Koproduktion mit dem Opernhaus Zürich) also viel übrig für das von Strauss geforderte „Verstandestheater, Kopfgrütze, trockenen Witz!“. Aber man hat noch mehr: Trauer, Wachheit, heiter-schwarzumflorte Gelassenheit.

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Viel zu früh: Eva Kleinitz, die Intendantin der Opéra National du Rhin, ist tot

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Eva Kleinitz, die Intendantin der Opéra national du Rhin, ist heute gestorben. Sie hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Sie wurde 47 Jahre alt. Wieder eine Frau. Und wieder viel zu früh. Da kommen sofort Erinnerungen an Ulrike Hessler, die Intendantin der Semperoper auf, die 2012 nach nur eineinhalb Jahren Amtszeit an einem Gehirntumor verstarb. Eva Kleinitz war auch nicht viel mehr Zeit in Straßburg vergönnt, während so mancher alte Mann in der Opernwelt immer weiter an seinem Sessel klebt. Beide haben sie sich hochgearbeitet, fleißig, exzellent vernetzt, klug, intuitiv, auch mutig. Zwar sind in Straßburg mindestens noch die nächsten zwei Spielzeiten geplant, aber die Frucht ihrer Anstrengung war eben erst dabei, wirklich aufzugehen.

Eva Kleinitz wurde 1972 in Langenhagen geboren. Sie studierte Musikwissenschaft, Psychologie und italienische Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Mit einer Magisterarbeit über Zandonais „Francesca da Rimini“ schloss sie ihr Studium 1998 erfolgreich ab. Ab 1991 war sie Regieassistentin und Spielleiterin, unter anderem bei den Bregenzer Festspielen sowie in Theatern und Opernhäusern in Klagenfurt, Avignon, Nîmes, Paris, Straßburg, Spoleto, Köln und Schwetzingen.

1998 wechselte sie unter Alfred Wopmann ins künstlerische Betriebsbüro der Bregenzer Festspiele, war verantwortlich für Casting, Dramaturgie, Verträge, Werkstätten und die Redaktion des Programms. 2000 übernahm sie die Leitung des künstlerischen Betriebsbüros und war bis 2003 persönliche Referentin des Intendanten. 2003 bis 2006 arbeitete sie als Operndirektorin und stellvertretende Intendantin der Bregenzer Festspiele sowie als Prokuristin unter dem neuen künstlerischen Leiter David Pountney.

2006 bis 2010 übernahm sie die Direktion für künstlerische Planung und Produktion an der Brüsseler Oper La Monnaie. Ab der Spielzeit 2007/08 war sie dort ebenfalls künstlerische Referentin des neuen Intendanten Peter de Caluwe. Ab Herbst 2011 war Eva Kleinitz Operndirektorin und stellvertretende Intendantin im Leitungsteam der Oper Stuttgart, zusammen mit Jossi Wieler (Generalintendant), Sylvain Cambreling (Generalmusikdirektor) und Sergio Morabito (Chefdramaturg). Im Oktober 2013 wurde sie beim Herbstkongress in Wexford als erste Frau und erste Deutsche zur Präsidentin von Opera Europa gewählt; das Amt bekleidete sie bis Mai 2017. Seit 2005 hielt sie regelmäßig im Sommer Gastvorlesungen und Workshops an der Showa University of Music in Shinyurigaoka im von ihr so sehr geliebten Japan. Sie gab ebenfalls regelmäßig Kurse an der Accademia della Scala di Milano.

Von Januar 2015 bis Mai 2017 war sie Mitglied der Opera Platform, einem gemeinsamen Projekt von Opera Europa und dem Fernsehsender Arte. Darüber hinaus war sie regelmäßig Jurorin bei internationalen Gesangswettbewerben, unter anderem bei der Francisco Viñas Competition, dem Concorso Lirico Internationale di Portofino, dem AsLiCo Como, der Paris Opera Competition etc.

Am 31. März 2016 wurde Eva Kleinitz einstimmig zur Generalintendantin der Opéra national du Rhin ab der Spielzeit 2017/2018 berufen. Am 1. September 2017 trat sie die Nachfolge von Marc Clémeur an, der dort seit 2009 als Intendant tätig war. Mit großer Kühnheit würdigte Eva Kleinitz in ihrer viel zu kurzen Zeit als Intendantin besonders Werke, die ihrer Meinung nach zu wenig Beachtung fanden, wie „Francesca da Rimini“, „Der Tempelbrand“ von Mayuzumi, und in der laufenden Spielzeit „Barkouf!“ von Offenbach, „La divisione del mondo“ von Legrenzi und jüngst „Beatrix Cenci“ von Ginastera. Ihr Bestreben, die Opéra du Rhin für neue Wege zu öffnen, verwirklichte sie unter anderem mit dem interdisziplinären Festival Arsmondo, das sie in Zusammenarbeit mit ihrem künstlerischen Berater und Dramaturgen Christian Longchamp gestaltete. Nachdem die ersten Ausgaben des Festivals 2018 Japan und 2019 Argentinien gewidmet waren, wird 2020 Indien das Gastland sein.

Eva Kleinitz’ Begeisterung für große Künstler kannte keine Grenzen und unter ihrer Leitung schärfte sich das Profil der Opéra du Rhin weiter als einer der wichtigsten Musiktheater in Frankreich (gleich nach Paris und Lyon) und auch international. Sie ludt Mariame Clément, Tatjana Gürbaca, Barrie Kosky, Jetske Mijnssen, Mariano Pensotti, David Pountney, Nicola Raab, Nicolas Stemann, Frederic Wake-Walker, Jossi Wieler & Sergio Morabito ein, hier zu arbeiten. Durch die fruchtbare Zusammenarbeit mit Marko Letonja, dem musikalischen Leiter des Orchestre Philharmonique de Strasbourg, sowie mit Patrick Davin und dann Jacques Lacombe, den Leitern des Orchestre Symphonique de Mulhouse, entsprachen die von ihr programmierten Opernproduktionen stets einem anspruchsvollen
musikalischen Niveau. Eva Kleinitz ermöglichte zahlreichen Sängerinnen in neuen Rollen zu debütieren und sie unterstützte und betreute die jüngsten unter ihnen, vor allem die Jahrgänge des Opernstudios, mit der allergrößten Herzlichkeit. Ihre Begeisterung und Unterstützung galt ebenfalls der Arbeit des von ihr berufenen Bruno Bouché als des Balletts der Opéra national du Rhin.

Wie gut ihr Haus aufgestellt war, das bezeugt auch die hervorragende Arbeit die dort in den letzten Monaten geleistet wurde, als Eva Kleinitz selbst schon nicht mehr dabei sein konnte, aber alle Entscheidungen noch vorbereitet und mitgetragen hat. Die Opernwelt wird ihre Kenntnis, ihre Freundlichkeit und Teambereitschaft, ihren Witz, Enthusiasmus und ihren unermüdlichen Einsatz für das Strahlen der Gattung sehr vermissen. Aber sie wird in unseren Herzen weiterstahlen.

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Bedeutungsgrätschend durchs Musiktheater-Dasein: Jules Massenet und Paul Abraham an Berliner Opernbühnen

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Wäre es so schlimm, wenn ein Regisseur Spanien und einen alten Mann auf die Bühne bringen würde, wenn in dem Stück Spanien und ein alter Mann die Hauptrollen spielen? Oder hat selbst ein von der Oper Unbeleckter wie der schwedisch-dänische Mime, Pantomine und Zauberkünstler Jakop Ahlbom offenbar Angst, dass ihm die der gewöhnliche deutsche Opernintendant die Hand abhacken würde, wenn er nicht wenigsten ein paar Regietheater-Klischees bedient? Da mag also hier in seinem Alterswerk „Don Quichotte“ der reizvoll das Komponierenkönnen seines Jahrhunderts in französischem Klangparfüm aufgehen lassende Jules Massenet noch so sehr mit den Kastagnetten klappern, mit den Füße stampfen, Gitarren imitieren und iberisches Temperament evozieren, in der Deutschen Oper Berlin wird das negiert. Total. Da ist – hatten wir das nicht gerade in der Uraufführung „Oceane“? – der Grundton wieder grau, und statt auf einem temperamentsplatzenden Dorfplatz in der Mancha befinden wir uns auf einer öden Betriebsfeier in einer Kantine, die offenbar, so zeigen es die Panoramafenster, im verschneiten Schwarzwald liegt. Hierhinein, wo fehlende Choraktivität durch viel Statisten- und Tänzerdollerei wettgemacht werden muss, verirren sich also Don Quichotte und sein Diener Sancho Pansa.

Fotos: Thomas Aurin /Deutsche Oper Berlin

Der Ritter von der in der Manifestation Alex Espositos gar nicht dürrtraurigen, eher gedrungen durchtrainierten Gestalt, war einst eine Traumaltersrolle von Fjodor Schaljapin. Das Publikum im mondänen Monte Carlo sollte sich 1910, im Spätherbst der Belle Epoque, mit nicht zu viel ranziger Literatur à la Cervantes aufhalten. Massenet griff lieber auf das seichte Schauspiel von Jacques Le Lorraine zurück, das die ausufernde Handlung der Ritterschwarte in nicht einmal zwei Stunden und fünf Akten auf ein paar charakteristische Szenen eindampft und reduziert. Er hat dafür aber eine elegante, ja ergreifende Musik mit Solocello, wehmütigen Spanienerinnerungen, einer abblätternden, gerne vom Englischhorn intonierten Liebe und einer wunderbaren Buddy-Beziehung zwischen zwei sehr schrägen Typen verfertigt. Und selbst die nur als Phantasmagorie vorhandene Dulcinea verbreitet ihren vokalen Liebreiz.

Theoretisch zumindest. Und bei Götz Friedrich, der das Stück Anfang der Siebzigerjahre an der Komischen Oper und später noch einmal in Hamburg in seinem Ambiente beließ und es trotzdem als politisch begriff, war solches auch zu sehen. Nicht so an der Deutschen Oper. Da reitet also ein kleiner, fescher Mann in Trekkie-Uniform und Silberstiefeletten herein, der auf einem als Pferd Verkleideten sitzt. Dieser, die Rosinante vorgebende Sancho Pansa, voluminös dunkel intoniert von Seth Carico, der einen besseren Don abgeben hätte, muss zum Singen immer erst seinen Tierschädel abnehme., Alex Esposito, zu jung und zu hell timbriert hat hingegen als Quichotte so gar nichts Weltabschiedsbewegends, gar Verwirrtes.

Also müssen ein paar surreale Requisiten her. Ein von Händen flankierter Riesenkopf, aus dem später eine Monsterzunge quillt, auf der Käfer krabbeln, ein seltsames Trio ohne Beine, ohne Kopf und zwergwüchsig, das einfach nur dumm rumsteht, und eine graugrünstichmäusige Kellnerin, die in eine rotbenachthemdete Dulcinea verzaubertrickst wird. Dabei behält die hübsch orgelnde und trotzdem seltsam neutral als Transe rüberkommende Clémentine Margaine die ganze Zeit ihre spektakulär hässlich plastikbehaarte Dagmar-Koller-Perücke auf und spielt mit tumbem Edith-Schröder-Charme wie sonst nur der Berliner Prolldamenimitator Ades Zabel. Für die Windmühlen hat es gerade mal zu einer Tischdekoration gelangt, und gestorben wird bei Festbeleuchtung denkbar gefühlsarm. Immerhin weiß Emmanuel Villaume viel französischen Charme aus dem geneigten Orchester der Deutschen Oper zu kitzeln. So leuchtet wenigstens eine feinsinnige Partitur ohne Sopran und Tenor angemessen, wenn der schon jede szenische Strahlkraft dumpfbackig verweigert wird.

Fotos: Iko Freese / Komische Oper Berlin

Besser unterhält man sich als Hauptstädter doch doch wieder in der Komischen Oper, wo diesmal im Rahmen des Operetten-Zyklus von Paul-Abraham-Werken mit „Roxy und ihr Wunderteam“ glamourös weitergekickt wird. Handelt es sich doch dabei um die welteinzige Fußballoperette, ein angesichts der gruseligen Zeitumstände 1936 in Budapest uraufgeführtes Exilwerk von äußerst frivoler Bauart. Vom Freistoß über die Handarbeit bis zum Grätschen als Lebensphilosophie und andere Gymnastik wird hier alles sehr eindeutig serviert, aber köstlich komisch, weil eine durchgebrannte Braut mit einem Fussballmannschaft am Plattensee auf eine Mädchenpensionats-Equipe trifft. Am Ende hat jeder Libero sein Ballmädchen, auch die älteren Semester.

Obwohl nicht wirklich inhaltlich oder inszenatorisch klar wird, warum als ältliche Lilian Harvey Christoph Marti seinen Damenmann Roxy steht, er macht das mit viel Girlie-Geraspel und Selbstironie, erobert sich so immer mehr das von ihm und nur für seine Ursli-Pfister-Figur geschaffene Fach der wasserwellengelockten Gender-Schabracke. Und wie schon bei „Clivia“, wo die Operetta Queen from Outer Space etwas mehr rockte, sind auch die beiden andere Geschwister Pfister am Unterhaltungsort. Andreja Schneider wuchtet brummend ihre Pensionsleiterin mit Pünktchenschwäche auf die Entertainment-Bretter. Toni Pfister alias ein verschlankter Tobias Bonn ist einmal mehr der seine Roxy (und seinen echten Ehemann) küssen dürfenden Libero mit mürbem Filmbeau-Grinsen. Während als männliche Diva Torwart Jörn-Felix Alt die Latte für den Nachwuchs aufpflanzt. Der kann bühnenfüllend singen, spielen, tanzen, grinsen und charmieren, dass es eine Operettenfreude ist.

Dribbelnd inszeniert hat den schon in Dortmund und in einer schwulen Variante in Augsburg bewährten Mittelstürmer-Spaß mit viel Glimmer und Hüftgewackel als paprikaschmackiges Moulin Rouge samt Badenixen am Balaton bewährt glatt ablaufend Stefan Huber. Die Nebenrollenplayer (allen voran Uwe Schönbecks schottengeiziger Onkel) sind alle super, und Danny Costello lässt die Boys & Girls chorografisch flutschend von der Leine- Stephan Prattes lässt zwischen Edelholzfurnier einen halbrunden Fußballglobus auf dem Turnhallenboden rotieren, der ein ganzes ungarisch aufgerüschtes Stadion beherbergt – oder wahlweise das Pensionat als blümchenumrankte Kitschpostkartenansicht. Und auch der zudem als Akkordeonspieler und Bearbeiter geforderte Kai Tietje am Pult lässt die Truppe tanzen, freudvoll animiert im Graben und auf der Bühne. Da knallt der Kukuruz- und schmeichelt der Jazz, Magyar und USA sind musikalisch friedlich vereint.

Die Komische Oper lässt also Operette Operette sein, mit Tempo, Witz und Augenzwinkern. Warum aber muss an der Deutschen Oper selbst das Leichte mit Trauerrand erdenschwer und teutonisch dröge sein?

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Deprimierender „Rigoletto“: die Berliner Staatsoper als öder Verdi-Rangierbahnhof

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Was für eine deprimierende letzte Berliner Opernpremiere! Ohne Sinn und Verstand, Herz und Leidenschaft. Und leider auch ohne besonders viel Intelligenz und Können. Und dabei hätte die Staatsoper einen guten, neuen „Rigoletto“ durchaus brauchen können, die letzte Premiere liegt bald 30 Jahre zurück. Aber diese geschmacksneutrale Koproduktion mit der Metropolitan Opera (wo man freilich noch einen ganz gut funktionierenden, in Las Vegas angesiedelten hat)? Die taugt höchstens, um darin die Stars und Sternchen des internationalen Opernreisezirkus problemlos durchschleusen zu können. Verdi als Verschiebebahnhof. Denn diese banale Inszenierung des Musical-Routiniers Bartlett Sher bewältigt noch der Schlichteste auf Autopilot. Und vielleicht sagt man den Staatsopern-Teams auch mal, dass es dort diese Spielzeit bereits die dritte, in einem Treppenhaus spielende Produktion war („die Stufen des Musiktheaters“ als Saisonmotto ist uns irgendwie entgangen) und dass „Berlin in den Dreißigern“ als Konzept hier auch bereits ziemlich ausgekaut ist. Zumal die Staatsoper das alle paar Jahre entdeckt, wir sagen nur: der „Dix“-Ballettabend, „Fledermaus“ im Berghain, „Turco in Italia“ in Kreuzberg, „Falstaff“ in Mitte…und es beim „Rigoletto“ im öden Einheitssaalbühnenbild als George-Grosz-Flair nur zu ein paar Wimmelfresken an den Wänden als austauschbarem Lokalkolorit langte. Dazu kommen Bekleidungen von der Stange, ein wenig Operettenlametta für die ganz und gar unauthentischen Militärs (auch der Duca) und einer schüchternen Pseudo-SS-Uniform für den Marullo. Der Rest, inklusive der von der Seite hereinfahrenden Rigoletto- und Sparafucile-Behausungen, war Opernkonvention der flachsten Sorte – aber wenigstens mit Buckel und Sack.

Fotos: Brinkhoff/Mögenburg

Am Pult der pauschal lärmenden Staatskapelle stand der wenig von Oper beleckte Andrés Orozco-Estrada, der künftig wohl mehr davon als Chef der Wiener Symphoniker im Theater an der Wien machen wird. Hier röchelten schon die Trompeten des Anfangs, vieles war umkoordiniert in den Übergängen, man spielte nebeneinanderher, die Tempi waren seltsam hektisch und trotzdem oft zu langsam. Michael Fabiano als Herzog brüllte und presste vor allem, die metallische Stimme hat keinen Schmelz und kaum Farben. Als ein offenbar bestellter Bravorufer im zweiten Akt nach „Parmi veder le lagrime“ loskreischte, wurde er gleich von den Berliner Buh-Böllern niedergeblökt. Die hier gern gebuchte Nadine Sierra sang die Gilda im Missonijäckchen ohne Herz, aber mit einer gewissen Finesse, von allem in der „Caro nome“-Kadenz. Immer wieder schlichen sich aber ältlich säuerliche Töne dazwischen. Christopher Maltman hat zwar kein genuin italienisches Time, aber sein Rigoletto (das Rollendebüt war eben erst in Wien) atmet Größe und Vehemenz. Er spielte mit seinem Vibrato, konnte donnern und flehen. Anders als etwa die lyrischen Kollegen Hampson und Keenlyside, scheint seine robustere, dunklere Stimme eher für diese Partien geeignet, das konnte man schon in der Frankfurter „Forza“ hören. Ordentlich klischiert die Maddalena Elena Maximovas, suboptimal der Sparafucile von Jan Martiník und der flache Monterone Giorgi Mtchedlishvili. Diesen öden, theaterblassen Abend wollen wir schnell vergessen.

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Hier tanzen nicht nur die Fische: als Wiener Geburtstagsgeschenk wurde vom RSO das „Orpheus“-Ballett „Im Reich des Neptun“ erstaufgeführt

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Nix war es bisher mit Jacques Offenbach in Wien zum 200. Geburtstag, immerhin seine zu Lebenszeiten zweitbedeutendste Wirkungsstätte: wo ihn schon Nestroy parodierte, Marie Geistinger charmierte und überhaupt meist eigens opulentere Orchestrierungen für seine Erfolgsstücke von der Seine angefertigt wurden, weil an der Donau mehr Musiker in größeren Gräben verfügbar waren als im strikter durchkommerzialisierten Pariser Musikbetrieb. Tempi passati. Immerhin künden noch einige der deutschen Gesamtaufnahmen bei EMI/Warner (jetzt günstig in der Box) davon. Aber was im Jahr 2019 von den nicht eben armen Wiener Musikbetrieben in Sachen Jacques O. angeboten wurde, das grenzt schon an Ignoranz. Nichts an der Staatsoper, wo ein Franzose regiert, kein Ton im Neujahrskonzert, eine Wiederaufnahme- udn eine Übernahme an der Volksoper, eine Schrumpelexperiment um „Hoffmann“ auf der Studiobühne des Theaters an der Wien. Dürftig, dürftig. Immerhin, das ORF Radio-Symphonieorchester Wien hatte dann doch, kurz vor 20.-Juni-Toreschluss, noch ein schönes Bonbon im Konzertkörbchen: Als österreichische Erstaufführung gab es die 35-minütige Ballettmusik „Le Royaume de Neptune“, die für die letzte Fassung von „Orpheus in der Unterwelt“ 1874 angefertigt worden war. Der unermüdliche Offenbach-Trüffelsucher Jean-Christophe Keck hatte die verschwundenen Noten wieder mal einem widerspenstigen, seinen Nachlassteil hortenden Verwandten abgeluchst. Solches kam nun, fast wie in einem typischen Konzertprogramm des 19. Jahrhunderts, im Goldenen Musikvereinsaal neuerlich zu Ehren; statt Neptun im feuchten Unterwasserreich schwang sehr gekonnt Johannes Debus das Zepter respektive den Stab. Dazu gab es, ebenfalls eine Erstaufführung, keinen geringeren als Daniil Trifonov mit seinem auf die eigenen virtuosen Hände zugeschnittenen, viel Effekt machenden Klavierkonzert (2014). Das ist ganz im Stil von Tschaikowsky und Rachmaninow gehalten, mit ein paar Skrjabin- und Impressionismus-Einsprengseln. Das aber sehr gekonnt, unterhaltsam, 25 Minuten knapp und grandios gespielt. Als hochseriöser Beitrag wurde abschließend Henri Dutilleux’ „Metaboles“ kredenzt, und zum Auftakt erklang die Offenbach-Ouvertüre zu den „Rheinnixen“.

Die hat natürlich auch Wien-Bezug, war das schließlich, noch lange vor dem „Hoffmann“, der erste Versuch mit einer zwar französischen, aber bei der Uraufführung 1864 im Wiener Kärntnertortheater (die Staatsoper öffnete erst fünf Jahre später ihre Pforten) deutsch gegebenen, großen und ernsten Oper. Die war bekanntlich ein Misserfolg, aber jenes, das Vorspiel eröffnende und beschließende, zart schwingende Thema wurde später, in den „Hoffmann“ gerettet, als Barcarole zum größten Offenbach-Welthit – neben dem „Orphée“-Galopp, der immer als Cancan vermarktet wird. Und natürlich kümmern sich um diese durchaus lohnenden „Fées du Rhin“ nur kleine Bühnen wie Ljubljana, Trier, Biel oder Tours, wo das Werk doch unbedingt mal an ein großes Haus gehören würde.

Nach dem Siebzigerkrieg sah es böse aus um Offenbachs schwindenden Erfolg als Deutscher im Pariser Feindesland, zudem war die Spaßgesellschaft des zweiten Kaiserreichs versunken wie Neptun im Meer. Also peppte der clevere Unternehmer seine alten Erfolge auf, man spielte nämlich jetzt Opéra-féerie-Fassungen: Alles musste opulenter, länger, blinkiger und oft auch ein wenig nackter werden. Meist wurden die Werke aber auch statischer, ganze Revuebilder dienten nur dazu, Ausstattungsaufwand und möglichst viel unbedecktes Tänzerinnenfleisch vorzuführen.

Also durfte in der jetzt fünfaktigen „Orpheus“-Version im Mittelteil Euridice mit Jupiter zu Neptun reisen, und der präsentiert sich als Herrscher nicht nur über Fische und Nixen, sondern auch über das sagenhafte Atlantis. „L’Atlantide“ hieß diese 11-ziffrige Nummernfolge zunächst, die der pragmatische Offenbach später zum Teil wiederverwertete – so wie etwa ein feines Hörnersolo in „Le Voyage de la Lune“, das später von fremder Hand auch als „Spiegelarie“ (obwohl es um einen Diamanten geht) des Dapertutto in den „Hoffmann“ integriert wurde.

Dieses feuchtfröhliche Divertissement ist weder schlüpfrig-glitschig, noch eine öde Nasszelle, sondern eine schwungvoller Strauß mitreisender Tänze, das jedem Neujahrskonzert Ehre machen würde, mit Varianz, Eleganz und Einfallsreichtum. Man kann es sich gut auch als Ersatz für die Manuel-Rosenthal-Bearbeitung der „Gaîté Parisienne“ als eigenständige Offenbach-Tanzsuite auf der Ballettbühne vorstellen. Da wedeln die Fische, scharwenzeln die Oktopusse und trippeln die Hummer, die Seehunde grunzen und die Kröten watscheln, das ist spritzig, blubbert und schlägt schönste Melodiewellen. Es gibt Märsche, einen weitausufernden Walzer, eine freche Polka, und ein gewaltiges Gewitter gleich zu Anfang (samt Cellosolo), bis sich des Meeres und des Klimas Wellen wieder glätten. Klarinetten schimmern, Flöten funkeln, Geigen oszillieren, der Rhythmus hüpft, die Dynamik gischtet, es galoppiert in Formation und baut sich zum lebenden Klangbild auf. Eine Perle steigt auf, und überhaupt erinnert das, nur viel feuchtfröhlicher, an ein ganz anderes Wasserballett, nämlich „La Pelegrina“ aus Verdis „Don Carlos“; natürlich auch meist in der Oper gestrichen, aber immerhin von George Balanchine choreografiert.

Um das dem einen oder anderen Tanzschöpfer wenigsten hörbar schmackhaft zu machen, wird es immerhin, neben der ORF-Radioaufzeichnung, noch dieses Jahr eine CD mit dem „Reich des Neptun“ geben. Howard Griffiths hat es mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin im Studio für cpo eingespielt. Zusammen mit weiteren Tanznummern wird es als „Offenbach dansé“ veröffentlich werden. Und schon jetzt zu empfehlen.

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„Göttliche Stimmen“: Cecilia Bartoli feiert bei den Salzburger Pfingstfestspielen mit Rarem und Virtuosem einmal mehr das Zeitalter der Kastraten

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#MeToo bei den Salzburger Pfingstfestspielen? Falscher Alarm. Cecilia Bartoli arbeitet nur einen historischen Fall auf – und das nicht zum ersten Mal: die (musikalisch) so erfreuliche und (menschlich) so betrübliche Geschichte des Kastratentums als Irrweg der Barockzeit; der aber vor allen in der Oper hochvirtuose Ergebnisse befördert hat. Schon auf einer ihrer Themen-CDs hatte sie sich den klanglichen Auswirkungen des Messerchens gewidmet, mit dem so mancher Knabe grundlos verstümmelt wurde, einige wenige aber auch zu vergötterten Stars aufstiegen. Diesen glanzvollen Sängern und ihren „Himmlischen Stimmen“ hat sie die gegenwärtige Ausgabe der von ihr geleiteten Pfingstfestspiele gewidmet. Es sind ihre achten, am 4. Juni hat die die längst als Zürcherin naturalisierte Römerin ihren 53. Geburtstag gefeiert, am 7. stand sie sie hier als Händels Alcina auf der Bühne (worauf noch zurückzukommen sein wird) und anschließend wurde ihre Vertragsverlängerung (gegenwärtig bis 2021) um weitere fünf Jahre bis 2026 bekanntgegeben. So lange wie auch der neue Kontrakt von Markus Hinterhäuser als oberster Kunstboss des Salzburger Sommers geht. Und deshalb wurde das aktuelle Festival natürlich auch zu seinem inoffiziellen Countertenor-Gipfel. Doch weil sich die Chefin und ihre mezzosingenden Kolleginnen von dem in den letzten Jahrzehnten mit der Barockopern-Renaissance glanzvoll neuerblühten Stimmfach nicht ganz die Virtuosenbutter vom Barockbrot nehmen lassen wollen, ist deren Zahl zwar überschaubar, dafür sind aber – Bartoli setzt die Maßstäbe – beinahe fast alle Besten ihres Faches da; nur Valer Sabadus, der schon fast emeritierte Andreas Scholl und der junge Nebenerwerbs-Breakdancer Jakub Jozef Orlinski fehlten. Dafür ließ sich Jochen Kowalski zumindest in einer Podiumsdiskussion vernehmen. Und gleich am Tag nach der Opernpremiere gab es ein weiteres, als halbszenisch angekündigtes, aber dann doch vollgültig visualisiertes Bühnenwerk zu erleben: den von Händels Londoner Konkurrenten und Farinelli-Lehrer Nicola Porpora 1735 ebendort herausgebrachte „Polifemo“. Als opera seria in drei Akten wurde er in der Felsenreitschule, als Produzent, Regisseur und Protagonist einmal mehr in harmonischer Dreieinigkeit wirkend, von Max Emanuel Cencic in nur 10-tägiger Probezeit sehr effektvoll und imaginativ vor das historische Arkadienhalbrund gestellt. Eine „wüste Insel“ aus Sand und ein paar Steinen plus zwei Skelette (wohlmöglich Farinelli und Alfred Deller?) konzentriert geschickt die weite Spielfläche. Dort donnern und gischten erst Wellen, die Schiffbrüchige an Land werfen, mit dem von George Petrou bestens animierten Barockkollektiv Armonia Atenea um die Wette, dann säuselt dezent ruhige See. Die Sonnen geht auf und unter, der Mond scheint über Liebe und Hass auf dem Eiland. Das wohlmöglich Cencic später einmal für sein Zerbinetta-Debüt als Naxos-Ersatz recyceln wird?

Fotos: Marco Borelli

Jetzt jedenfalls stranden dort Odysseus, aber eben auch Arcis, die beide bald was haben werden mit den Nymphen Galatea und Calypso; als dritte göttliche Grazie ist ähnlich maskiert, bleich geschminkt und in hautfarbenes Flattergewand gehüllt, Nerera (die bissfeste Dylara Idrisova) vor Ort. Die wieder mal fantastisch tirilierende und jubilierende, aber auch an vokalem wie darstellerischen Ernst zugelegt habende Julia Lezhneva (Galatea) und die herrbschön klingende Sonja Runje (Calypso) vereinen sich gleich zu einem zarten Duett. Und ähnlich harmonisch geht es mit ihnen weiter, auch wenn zwischendurch der augenklappenbewehrte Zyklop Polifemo (mit nicht ganz so starker Bassstimme, aber impressivem Harnstrahl: Pavel Kudnikov) das Idyll stört. Lieben die beiden Damen doch schnell Aci, dem Yuriy Mynenko seinen zart lassierten Counter leiht, und Ulisse – für Max Emanuel Cencic als eine Art Countertenor-Jack-Sparrow Gelegenheit, sowohl komisch wie amourös und kriegerisch zu brillieren.

Die Oper erweist sich als erbauliches Konventionswerk mit freilich immer wieder schmeichelnd schönen, virtuos verzierten und elegisch sinnlichen Arien. Porpora komponiert weit besser als sein Ruf, und Regisseur Cencic lässt in dem meist vergnüglichen, selten tragischen emotionalen Ringelreihen seinen Singpüppchen tanzen, pfählt dezent den bösen Polifemo und lässt auch den erschlagenen Aci nicht nur als Quelle, sondern ganz real wiederauferstehen: Damit der noch seine lyrische Prunknummer „Alto Iove“ fein und göttlich lang ausspinnen kann. Dann schwemmen die Wellen den ganzen genialen Barockopernspuk wieder weg.

Dreienhalb Stunden hat das gedauert, und nur mit wenig Verschnaufpause geht es in die „Farinelli & Friends“-Gala, die es auf fast vier Stunden mit 10 Vokalisten und 22 Nummern inklusive zwei Beiträgen des Salzburger Bachchores (samt den darin einstimmenden Stars) bringt. Unnötig längend war hier nur der obsolete Moderationsbeitrag eines Möchtegern Latino-Gottschalks, der statt inhaltlicher Schärfung des bunten Arienstraußes nur Gemeinplätze hinzuzufügen wusste. So musste man sich die geistige Führung im Halbdunkel im einigermaßen konsistenten englischen Programmheftartikel zusammensuchen. Das wäre, die Galas hier sind bisweilen sachlich etwas konfus, durchaus bis 2026 verbesserungswürdig.

Mit Musik aus den Jahren 1705-63 war jedoch viel Unterhaltsames und Beschauliches aufgeboten, und weil der launische Farinelli doch meist seine Gunst in den Dienst der minderen Rivalen gestellt hatte, durfte natürlich der Stern Händels einsam glänzen; aber auch von Nicola Porpora, Tomaso Albinoni, Leonardo Leo, Ricardo Broschi, Johann Adolf Hasse, Jean-Philippe Rameau und Giuseppe Maria Orlandini war Schönes und Unbekanntes zu hören. Cecilia Bartolis neu gegründete barocke Haus-Banda Les Musiciens du Prince-Monaco unter dem versatil-unermüdlichen Gianluca Capuano machte viel Klangfreude.

Die Damen wechselten zum Teil die Roben und Stimmungen. Julie Fuchs ist eine Sopran-Virtuosa, aber vom Timbre her etwas austauschbar. Patricia Petibon begeistert immer noch als Händel—Cleopatra, Sandrine Piau ebenfalls. Gewohnt verhuscht: Nuria Real. Von den Mezzos zeigte die Bartoli ihre Klangpracht bei Händel und Duettinnigkeit mit dem (schnauztragenden!) Philippe Jaroussky. Lea Desandre ist technisch versiert, aber noch persönlichkeitsschwach. Vivica Genaux räumt immer noch mit stuppender Technik und blendendem Aussehen ab. Ann Hallenberg ist die warme Mezzoruhe selbst. Und als nur zweiter Counter hielt der fabulöse Christophe Dumaux die Stimmfachehre hoch. Am Ende waren alle notenvoll und ein wenig barockmüde, aber was für ein Brillantfeuerwerk der Stimmen uod melodischen Farben! Und natürlich lässt sich es La Ceci nicht nehmen, auf offener Bühne noch alle zum Selfie zu versammeln.

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Traviatas Zorn: Koloratursüß und schnell wütend – Ileana Cotrubas wird 80

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Schönste, wohnliche Wiener Villengegend, nicht am Ring, aber eben auch nicht draußen in Hitzing. Man empfängt mit feinen Konditoreiteilen und bestem Porzellan zum Tee. Man bewohnt drei Stockwerke, früher, die Vorhänge im Salon und die Wandmalereien künden noch davon, lebte hier das Noch-nicht-Ehepaar Thomas Hampson-Andrea Herberstein. Jetzt aber steht, klein, ein wenig schüchtern (das gibt sich schnell), aber immer noch ganz sie selbst, Kammersängerin Ileana Cotrubas an der Aufzugstür, die direkt in der Wohnung mündet. Neben ihr: ihr Mann, der deutsche Dirigent Manfred Ramin. Kennengelernt haben sie sich an der Frankfurter Oper, geheiratet haben die beiden 1972 in Glyndebourne. Doch das friedliche Ambiente täuscht. Die kleine, feine Rumänin, eine der größten Opernstars der Siebziger- und Achtzigerjahre, kann auch schnell sehr temperamentvoll werden. Zumindest verbal und virtuell produziert sie wie Drache Fafner Gift und Galle, redet sich in Rage und kann sehr deutlich in ihrer Wortwahl werden. Ihr Kampfplatz: der heutige Opernbetrieb, das Regietheater insbesondere. „Die Sänger von heute trauen sich nicht mehr, und auch die Dirigenten greifen zu wenig ein“, schleudert sie einem schnell ziemlich apodiktisch entgegen. Ihr Mann sekundiert. „Die Regisseure haben die totale Macht. Und wenn eine Sängerin trotzdem mitmacht, gegen ihr Gewissen, dann ist das für mich Prostitution.“   

Ileana Cotrubas hat erst lernen müssen, sich zu artikulieren. Aufgewachsen bettelarm in einer osteuropäischen Diktatur, war die Musik Segen, Zuflucht und Zukunft zugleich. Das begabte Mädchen (ihre Schwester wurde Schauspielerin) kam nach dem Umzug nach Bukarest 1948 in die Kinderchöre des Radios und der Opera Națională București. Nach dem Abitur studierte sie dort Gesang. Musik war ihre Berufung, das Singen ihre Art, sich natürlich zu artikulieren, das bemerkte sie schon sehr früh. 1964 gab sie an Nationaloper ihr Debüt als Yniold in Debussys „Pelléas et Mélisande“, später wurde sie international zu einer Erfüllung der weiblichen Hauptrolle. Also Koloratursoubrette brachte sie es in Bukarest bis zur Gilda, später ebenfalls eine ihrer berühmtesten Partien.

„Zunächst war ich ängstlich und verschlossen, aber später wurde ich frecher und sehr klar“, beschreibt die Cotrubas ihren damaligen Wesenszustand. Und schon früh merkte sie für sich selbst: „Ich weiß, was ich will und ich verteidige das. Ich muss empfinden, was ich tue, ich habe mir durchaus viele Gedanken über meine Rollen gemacht.“

1964 gewann sie den Enescu-Wettbewerb in Bukarest, ein Stipendium erlaubt den Gang nach Westen. 1965 gewinnt den Wettbewerbs in ’s-Hertogenbosch. 1966 folgt der erste Preis beim Münchner ARD-Wettbewerb. Die Karriere kommt schnell in Fahrt, ein paar Jahre Frankfurt im Engagement, dann seit Anfang der Siebziger ein Star in Covent Garden, an der Scala, in München, Glyndebourne, Salzburg, Wien, Paris, New York. Sie wohnt in London, am Cap Ferrat. Die Grammophon wird ihre Plattenfirma, Karajan und Kleiber sind ihre Dirigenten; aber auch für die CBS (heute Sony) spielt sie viele Lieblingsrollen ein: die Pamina, Ilia, Zerlina, Norina, Violetta, Gilda, Mimì, Sophie, Louise, Leila, Adina, Elisabetta, Antonia, Lauretta, Micaela, Opern von Haydn und Händel. Und auch auf Video- oder Live-Aufnahmen gibt es sie mit Liedern, Mahler-Sinfonien, als Titania, Susanna, Nedda. Die lyrischen, nicht nur lieblichen Mädchen, das war ihre Domäne.

„Am Schönsten war es mit den Regisseuren und Dirigenten, die zugelassen haben, dass ich mich einbringe“, erinnert sie sich heute an diese zwei gloriosen, aber auch anstrengenden Jahrzehnte mit selten mehr als 35 Opernabenden. So wie Ileana Cotrubas auf eine überschaubare, aber sehr kostbare Diskographie zurückblicken kann, so hat sie es auch mit ihre internationalen Karriere gehalten. Nur das Beste, nie über ihr Fach, alles geben wollend, an der Seiter großer Kollegen wie Pavarotti, Domingo, Carreras, Aragall. Aber auch kompromisslos in ihren Anforderungen. „Wenn ich nicht glücklich bin, dann mache ich es nicht. Lieber verlasse ich eine Produktion, mit allen Konsequenzen. So habe ich es ein paarmal gehalten.“ Davon wurde damals durchaus die Opernwelt erschüttert. Aber man wollte die streitbare Dame, die jetzt heftig im Tee rührt, immer wieder haben. Weil sie so gut war.

„Ein Regisseur muss sich auf die Persönlichkeiten der Sänger einlassen, wir sind keine Marionetten, an deren Fäden man zieht“, sagt sie noch heute. Das sitzt und durchaus Recht hat sie. Ileana Cotrubas darf das sagten, schließlich hat sie Hervorragendes geleistet, die charakteristisch silbrig-slawische Stimme betört noch heute auf ihren Platten. Eine schlechte hat sie nicht gemacht. Doch Ende 1990 war es dann vorbei, mit nur 51 Jahren, sie wollte es so. Seither trauern die Fans ihr nach. Gut so, nicht andersherum. Zudem war ihre Gesundheit immer schon beeinträchtigt, eine schwache Herzklappe, der schlechten Gesundheitsvorsorge in ihrer Jugend geschuldet.

„Ich habe im richtigen Moment aufgehört, ich habe aus meinen Chancen und Möglichkeiten das Maximum herausgeholt“, ist sich die Cotrubas sicher. „Ich habe mich emotional verausgabt, und war irgendwann leer. Ich habe mir mein mädchenhaftes Timbre bewahrt, da konnte ich nicht in die schwereren Rollen wechseln. Ich brauchte das Geld nicht, der Körper war ausgelaugt, und kleine Rollen wollte ich auch nicht singen. Es war der genau richtige Moment, obwohl es eigentlich eineinhalb Jahre früher hätte sein sollen – ich gratuliere mir selbst!“

Heute ist sie Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper, sitzt als Jurorin bei Gesangswettbewerben, leitet Meisterklassen, trifft sich gern mit Freundin Christa Ludwig und coacht privat – aber nur wenn und en sie mag. Kein Zweifel, konsequent ist sie, und rückhaltlos direkt. Sie sagt, was sie denkt und was sie vom gegenwärtigen Betrieb hält, den sie eifrig verfolgt. Und über den sie wütend ist, Respekt, Metierkunde und Mut vermisst, alles so gleichgeschaltet findet. „Ich hätte gern wieder eine Einfachheit auf der Bühne, die Reduktion auf das Wesentliche. Das sind oft sehr simple Geschichten, bei Donizetti oder Bellini oder auch Verdi – und ich sehe auf der Bühne immer nur Psychowracks in hässlichem Ambiente.“ Also gibt es zum Abschied, die Kuchenköstlichkeiten sind deutlich reduziert worden, noch eine Bitte mit auf den Weg: „Kämpfen Sie mit mir, die Oper hat es verdient.“ Heute wird Ileana Cotrubas, Kolorateuse und Kämpferin, 80 Jahre alt.

Der Beitrag Traviatas Zorn: Koloratursüß und schnell wütend – Ileana Cotrubas wird 80 erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

Countergipfel im Ceciland: „Alcina“, Engelssang und ein biblischer Brudermord – Cecilia Bartolis Salzburger Pfingstfestival 

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Kastraten, vulgo: Verschnittene also. Ist das in Salzburg sonst ein Thema? Hier promenieren zwar Inderinnen in XXL-Dirndl, Chinesen fallen beim Festungsfotografieren fast vom Makartsteg und als Parkgaragenpförtner fungiert ein Sikh. Aber um Gendertoiletten wird hier wohl noch nicht diskutiert. Umso mehr geht es darum aber in der Barockoper, und längst haben Cecilia Bartoli wie auch die Countertenöre als Kastratennachfolger ihr Publikum bei den Pfingstfestspielen. Alles, aber auch wirklich alles ausverkauft! Wer hätte das noch vor einigen Jahren gedacht. Und dass sich vorwiegend konservative Besucher auf solche Geschlechterverwirrungen in beinah all diesen Stücken ganz problemlos einlassen! Wie zum Beispiel in Händels „Alcina“ von 1735, immerhin bald 300 Jahre alt und immer noch bestürzend modern. Darin ist die Prinzipalin ganz allein mit dem französischen Counterstar Philippe Jaroussky. Denn Damiano Michielettos ein wenig schwachbrüstige, klischeeverhaftete Inszenierung verlagert sich schnell aus einer Empfangshalle in die düstere Psyche der Titelheldin, überlässt sie der Kraft ihrer Persönlichkeit. Richtig so. Die ist eine Zauberin, durch einen Spiegel steigt sie ins Spiel ein, die nicht einmal mehr die eigene Schönheit festhalten kann, geschweige denn den von ihr verhexten Lover. Händels modernstes Psychodrama gerät im Haus für Mozart zur einzigartig atemraubenden Entblößung einer Diva. Kämpft Cecilia Bartoli im realen Leben um jede Fotoshop-Falte, auf der Bühne ist sie ganz wahrhaftig und sie selbst. Jede einzelne Note scheint dabei sorgfältig gesetzt, jeder Atemzug offenbart Technik – und doch wird das ein ehrlicher Zweikampf zwischen zwei Künstlercharakteren, denen der schöne Ton egal ist, wenn er nur berührt. Jarousskys andrgyn knäbischer Ruggiero wird mal schrill, sie keift bisweilen, egal, dass hier zwei hohe Stimmen einen Liebeskampf um Mann und Frau führen: die Künstlichkeit der Oper lässt dies total real erscheinen. Und am Ende haben alle nur verloren.  

Fotos: SF/Mattthias Horn

Ebenbürtig ist den beiden, um sich, die Liebe und die Welt ringenden Hauptkontrahenten nur die Morgana, Alcinas vernachlässigte Schwester. Der gibt Sandrine Piau als resolute Empfangsschefin in diesem Hotel zur gar nicht schönen Aussicht handgreifliche Erotik und zupackende Soprankraft. Auch ihr bleibt nur noch wenig Zeit, ihre Sexträume zu verwirklichen Aber ob der flachstimmige Oronte, hier der Hotelpage, von Christoph Strehl der richtige ist? Wohl kaum. So wie auch der Melisso von Alastair Miles sehr angegraut klingt. Passt aber diesmal als Bradamantes müder Begleiter sehr gut zu der eigentlichen Braut Ruggieros, die ihn sich zurückerobert. Denn Kristina Hammarströms Mezzo tönt flau und uninteressant, hier gewinnt die Konvention, während Alcina, haarlos, grau, und erloschen wie tot am Boden liegt. Auch ihr Spiegle ist längst zerscherbt. Und dazu passt, dass nach und nach die Rüstungen und Wämser dieser Rittergeschichte nach Ariost wieder anekdotisch nach Bedeutung heischend zum Einsatz kommen, wo das Zentralgeschehen doch völlig zeitlos erzählt wird. Ach ja, und der Wiener Sängerknabensopran Sheen Park als Oberto wusste zudem zu begeistern.

In dieser Herberge zur 7. Händel-Glückseligkeit steht eine transparente Wand in der Bühnenhälfte. Die dreht sich, dahinter lauert das Unbewusste genauso wie die halbnackten Gefangenen Alcinas. Vereiste Äste senken sich herab, Videos zeigen Scherben, Wassertropfen, amorphe Köpfe, Fantasiegebilde. Alcina spiegelt sich als junges Mädchen und alte Frau. An sich braucht es all diese Spielereien nicht, weil sich sehr schnell alles darauf konzentriert, ob die Zauberin noch zaubern kann, oder ob ihre Zeit abgelaufen ist. Grausam und deutlich wird das Schwinden ihrer Macht vorgeführt, Cecilia Bartoli erspart sich nichts, den Schmerz, die Verzweiflung, die letzte Hoffnung, das finale Aufbäumen, die Laute einer gequälten Seele, die hier ich zu sechs mustergültig vielfältigen Arien zusammengefasst sind.

Und faszinierend folgt diesem Abstieg ins Schwarze Bartolis Haus-Banda Les Musiciens du Prince-Monaco, die sich extrem optimiert haben, mit den besten Alte-Musik-Ensembles mithalten können. Denn Gianluca Capuano entlockte ihnen immer neue Nuancen und Zwischentöne. Das ist so extrem mutig wie intonationssicher, spielt wirklich oft am Rande des Verstummens mit größter Präzision und Spannkraft. So wird diese alte Oper zum psychologisch grandiose Zweikampf zwischen Mann und Frau. 

Dem zwei geistliche Konzerte am Morgen im Mozarteum beigesellt sind, so hat das in Salzburg Tradition. Christophe Dumaux, mit Vollbart und shabby look ein wenig der Countertenor-Nerd, berührte als ausdrucksstark bereuender, von einer Posaune arienbegleiteter Kain in dem für Farinelli (in der Abel-Rolle) 1732 komponierten Caldara-Oratorium „La Morte d’Abel“, während Adam und Eva soviel Kanonikerwissen über die Erbsünde kundtuen, dass man sich wundert, wie dann überhaupt der Unfall mit dem Apfel passieren konnte. Doch das zurückhaltende Werk des Wiener Vizehofkapellmeisters, erstmals auf einen später noch oft verwendeten Text Metastatios vertont, begeistert durch seine stille Intensität des Leidens, besonders im zweiten Teil nach dem Mord an Abel, der hinter der Szene passiert. Lea Desandre (Abel) und Julie Fuchs (Eva) klingen in dem kompakteren Saal viel fülliger und individueller im Timbre. Nuria Real singt mit hellem Sopran den Engel und trägt ein seltsames rosa Umhängegewand, das wohlmöglich schon der jugendlichen Montserrat Caballé bei einem Kinderkrippenspiel gute Stoffdienste geleistet haben könnte. Nahuel di Pierro ist ein basssatter Adam, der Bachchor fügt zwei feine Vokalsätze dazu, und der offenbar über Bärenkräfte verfügende Gianluca Capuana steht diesmal beschwingt am Pult einer Formation namens Il canto di Orfeo.

Gastgeberin Cecilia Bartoli vermählt sich zum guten Festivalschluss noch – nach einem Vorspiel mit vitalem Vivaldi à la Cappella und Andrés Gabetta – kirchenmusikalisch mit einer weiteren Counterdiva: Auf das Schönste verschmilzt ihre Stimme mit der von Franco Fagioli in Pergolesis Stabat mater. Der Argentinier scheint vom Timbre und Virbratoeinsatz her wirklich eine männliche Bartoli E vero: Nur Engel singen schöner! Ob nach diesem himmlischen Vokalgenuss sich nicht vielleicht doch der eine oder andere in der falschen Salzburger Toilette wiederfand?  Das kann zumindest bei den nächsten Pfingsfestspielen nicht passieren. da geht es eindeutig um eine Frau: Pauline Viardot-Garcia hat es Cecila Bartoli angetan. Und ihr zu Ehren wird sie als Donizettis Norina debütieren.

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Hummeln im Kopf: Dmitri Tcherniakov beendet seine Trilogie der Therapie in Brüssel mit Rimsky-Korsakows „Zar Saltan“

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Birkenstocks, braune Hängehose, graues Schlabbershirt, in sich gekehrter Looser Look. Nie war in der Operninszenierungsgeschichte ein Prinz weniger prinzlich. Der hier, vor dem güldenen eisernen Vorhang des Brüssler Théâtre de la Monnaie, ist eigentlich auch gar keiner, nur ein trauriger Junge, der autistisch geworden ist, weil seine Mutter von seinem Vater sitzen gelassen wurde und ihn allein aufziehen musste. „Er spricht nicht“, erzählt diese, ebenfalls unauffällig gekleidet, auf Russisch. Der Junge aber verkriecht sich zwischen nüchternen Stühlen bei seinen Spielsachen, einem Eichhörnchen, der Schwanenprinzessin, einer silbrigen Soldatenarmee. Und dann hebt endlich die Musik an, stürmisch, fröhlich, fanfarenstark und märchenhaft – auf das Schönste, Liebevollste zum Leuchten und sich Entfalten gebracht vom Monnaie-Musikchef Alain Altinoglu. Es ist schon seine zweite Oper von Nikolai Rimsky-Korsakow, die er hier dirigiert. Nach dem „Goldenen Hahn“ als perfide-pompöse Machtparodie in der inzwischen auch als DVD erhältlichen Inszenierung von Laurent Pelly wirkt nun Dmitri Tcherniakov sein partner in opera crime. Und der ist ja berühmt für seine Agenda, dem Westen die von ihm so geliebten, hier oft verschmähten russischen Opern in neuer, zeitgenössischer Sichtweise nahezubringen – ohne freilich gleich ganz auf den liegegewonnenen östlichen Folklorezauber zumindest als Zitat zu verzichten. Und so war jetzt Rimskys früher mal, vor allem in Ostdeutschland als zurechtgekürztes Weihnachtsmärchen beliebtes, sogar von Harry Kupfer in den Neunzigern an der Komischen Oper herausgebrachtes Musiktheater mit dem Bandwurmtitel dran: „Die Geschichte vom Zaren Saltan, seinem Sohn, dem berühmten und mächtigen Recken Prinz Gvidon und von der schönen Schwanenprinzessin“. Terchniakov scheint damit zudem ein weiteres, ihn diese Spielzeit beschäftigendes Projekt abgeschlossen zu haben: eine Art „Trilogie der Therapie“, die nach mittelguten Ergebnissen mit Pariser „Les Troyens“ im Rehazentrum Karthago und einer Selbsthilfegruppe für Musiktheatersüchtige an der Berliner Lindenoper, die sich dank Prokofiews „Verlobung im Kloster“ optimieren, nun ein großartig und originell funktionierendes Finale in Belgien fand. Und die den gelernten Architekten, der ja immer sein eigener Bühnenbilder ist, als fantasievollen Zeichner offenbarten.

Dieses auf Alexander Puschkin zurückgehende Kunstmärchen ist in Russland dank vieler klassischer Illustrationen und Zeichentrickfilme populär. Obwohl es ziemlich böse daherkommt. Der Zar lässt sich von zwei leer ausgegangen Brautwerberinnen und einer bösen Alten dazu hinreißen, seine Frau und seinen angeblich monsterhaften, von ihm nie gesehenen Sohn in einem Fass im Meer auszusetzen. Der im Gegensatz zu ihm barmherzige Zarewitsch aber überlebt, wird zum Herrscher einer fremden Stadt und bekommt die sagenhafte Schwanenprinzessin. Am Ende ist er sogar mit dem reuigen Vater wieder vereint.

So naiv kann Dmitri Tcherniakov das nicht stehen lassen. Zumal auch Rimsky-Kosakow in der 1900 uraufgeführten zehnten seiner 15 Opern durchaus satirisch abgefeimt die Hofschranzen und den zunächst seltsam gefühlskalten Zaren porträtiert, ja karikiert. Popanze und Puppen scheinen das, und so zeigen sie sich nun auch, dick wattierte, fast über ihre bombastisch historischen Gewandungen (von Elena Zytseva) durch die Zuschauerraumtüren stolpernden Gestalten: Ausgeburten der Fantasie Gvidons freilich, hervorgerufen durch die Märchenerzählung, mit deren Hilfe seine Mutter (sopranklar: Svetlana Aksenova) dem mental abgetauchten Sohn sein wahres Schicksal veranschaulichen will.

Und der geht darauf ein. Erst bevölkern die bunten, kreischenden Popanze nur die schmale Spielfläche. Die aber weitet sich, zunächst als fein gestrichelte Animationszeichnungen auf einer Nesselgardine, die das eben noch real dastehende Fass nun als wild bewegten Film mit Wellen, Monsterfischen und Seesturm zu einem der vielen, durch die Oper reizvoll, aber bisweilen ohne dramaturgische Notwendigkeit mäandernden Zwischenspielen ablaufen lassen. Dahinter tut sich eine farblose Höhle auf, die freilich durch reale Personenprodukte der Zarewitsch-Fantasie bevölkert werden: die passiv dahingestreckte, aber malerisch und zauberhaft koloraturzwitschernde Schwanenprinzessin (Olga Kulchynska), die sagenhaft animierte Zwiebelturmstadt Ledenetz, der dicksäulige Zarenpalast, alles all immer buntere, perspektivenreichere Zeichenlandschaften, die durch den sowieso schon güldenkitischigen Monnaie-Theatersaal als ganz und gar modernen Bühnenzauber projiziert werden.

Das ist so überraschungsvoll wie brillant gemacht, und hilft genialisch über die erzählerischen Durststrecken der vielen, freilich herrlich orchestertönenden Rimsky-Bilder, deren Schöpfer sich lieber in seinen gleißend bunt instrumentierenden Klängen gefällt als die Geschichte voranzutreiben. Russische Ästhetik eben, mit Einlagelballaden, Wiegenliedern, sinfonischen Tableaus, die Tcherniakov gekonnt mit westlich psychologisiertem Erzählen verbindet, weil da immer wieder Gvidon zuckt und sich den Kopf hält, auch die Visionen und Filme immer wieder stoppen, als ob er Aussetzer in seinem Kopf hat. Der sich immer mehr mit Hummeln füllt, schließlich ist doch der Flug des borstigen Stachelviehs alias des verwandelten Prinzen, der seine biestige Verwandtschaft sticht, das berühmteste Stück der zauberhaften Partitur. In das es freilich fein eingewoben ist; hört man es im Konzertsaal als Virtuosennummer, dann immer nur als Bearbeitung der eingängig brummelnden Melodie.

Ein spielfreudige, prachtstimmiges Ensemble trägt neben dem souveränen Alain Altinoglu diese so ungewöhnliche wie eigenwillige Tcherniakov-Deutung: Ante Jerkunica als orgelnder Zar, der schließlich als realer Vater im blauen Anzug zunächst unwillig zu seinem geistig davongedriffteten Sohn zurückkehrt; Stine Marie Fischer, Bernarda Bobro und Carole Wilson als fieses, mieses Schrapnellen-Trio; Vasily Gorshkov als Narr; vor allem aber der präsente, präzise mit hellem Tenor singende, sein Schicksal bannend beglaubigende Bogdan Volkov als Gvidon.

Und obwohl selbst die Schwanenprinzessin als reales Mädchen im rosa Kleid sich um ihn bemüht, alle guten Willens sind – anders als in der am Ende triumphsingenden Oper geht es bei Tcherniakovs dysfunktionaler Familie nicht märchenhaft aus: Gvidon ist das alles zu viel plötzliche Nähe und Zudringlichkeit. Er zieht sich am Boden gekrümmt in das Schneckenhaus seiner wieder bilderlosen Einsamkeit zurück. Diese Operntherapie hat nicht eingeschlagen. Und wir sind schon gespannt, was sich Dmitri Tcherniakov in der nächsten Spielzeit zu Janaceks „Makropoulos“ (Zürich), wieder Rimsky – „Sadko“ als Rückkehr an das Bolshoi Theater – und „Elektra“ (Hamburg) einfallen lassen wird.

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Da rüscht ratlos die Robe: Offenbachs „Großherzogin“ als allzu harmlose Kölner Geburtstagsspaßpremiere

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Piff, Paff, Puff. In Köln gegen die Offenbach-Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag des göttlichen Jakob in die heiße Phase. Bis zum 20. Juni und auch noch danach sind hier fast die Jecken los; zumindest wenn es nach der ostentativ partyfreudigen Offenbach-Gesellschaft geht. Dem Startschuss gab die Kölner Oper mit ihrer grooooßen Premiere „La Grande-Duchesse de Gerolstein“ im Staatenhaus. Repräsentativ und bekannt sollte es also schon sein, kurz danach lädt noch Christian von Götz unter dem Motto „Je suis Jacques“ zu einem selfmade Pasticcio für nur je 80 Besucher ins halbfertig renovierte Opernhaus am Offenbachplatz. Und im Herbst folgt als koproduzierte Übernahme aus Straßburg „Bakouf!“, der wirklich witzig wauenden Hund auf dem Diktatorenthron. Spielplanhausaufgaben gemacht, trotzdem lag also gehörig viel Druck auf der Neuinszenierung am Geburtsort der einst alle gekrönten Häupter inklusive Reichskanzler Bismarck, die zur Weltausstellung in Paris weilten, begeisternden, so herrlich preußisch bramarbasierenden Satire auf teutonischen Militarismus und teutsche Kleinstaaterei.

Fotos: Berdn Uhlig

Man wollte dem offenbar entgehen, indem man mehr auf Ausstattungsklamotte denn auf biestige Satire setzte: kein Grimm, aber viel Glamour. Dafür sind das französische Regie- und Kostümierpärchen Renaud Doucet und André Barbe sicher die richtige Fummelwahl. Aber eben nicht für politische Zuspitzung und aktuelle Anspielungen. Die ließ ebenso der deutsche Dialogfasser Dietmar Jacobs einigermaßen zahn- und harmlos daherkommen. Die Witze tröpfelten also, dafür rauschten, rüschten und raschelten die Roben. Und das vor allem im ersten Akt etwas zähe drei Stunden und 45 Minuten lang. Zudem sorgte die suboptimale Verstärkung dafür, dass die Reime und Couplets nicht knusprig knisterten, sondern oftmals nur weich waberten.

Was wahrlich nicht an dem sich voll in die Offenbach-Bresche schmeißenden, fidel aufgelegten François-Xavier Roth am Pult des munter drauflosspielenden Gürzenich-Orchester lag. Der perlte und prickelte, schoss treffsicher aus der Hüfte, aber piff, paff puff, es verharmloste sich im Äther der Ersatzspielstätte. Immer wieder musste man sich auf die da musikalisch zärtlich vertikutierte Klangrabenkultur konzentrieren, während die Spielermasse als Dauerwimmelbild über die grünliche Bühnenfläche tobte. Immerhin waren die Damen als umgedrehte Blumenbouquets hübsch herausgeputzt.

Das Regieduo hatte den ersten Akt nämlich vom Truppenübungsplatz in den Hambacher Forst verlegt, und statt Kasernenhofton herrschte da unter den Fundamentalos Ökosoftness in Hambis Namen. Was natürlich gar nicht aufging. Als notgeile Landesfürstin (hier die umweltunfreundliche Chefin des Gerolsteiner Getränkekonzerns!) mit dem stets paarungsbereit aufgepflanzten Säbel von Papa war die viel zu nette und zu damenhafte Jennifer Larmore diesmal, samt ihrem ortlosen Deutsch in schlecht platzierten Dialogen, charmant fehlbesetzt. Während ein Christof Loy sie jedes Mal zum tollen Charakter formt, blieb sie hier ein hilfloser Kleiderständer zwischen Gloria-Swanson-Turbanexotik, fleischfressender Orchidee und hispanischer Marienerscheinung. Dafür durfte sie den Original-Primadonnen-Köter Buffy mitbringen. Sehr seltsam und total verschenkt. Zudem war ausgerechnet Fritz, das juvenile, schnell beförderte Objekt ihrer sinnlichen Begierde, ein hässlicher, nicht eben sauberer Waldschrat (Dino Lüthy), der auch vokal nicht viel hermachte. Noch trutschiger also sonst: dessen eigentlich Erwählte Wanda (Emily Hindrichs).

Also mussten im Kreisch-Ambiente zwischen Offenbach-Porträt im Goldrahmen und metallicfunkelndem Jeff-Koons-Frosch die Bösen es rausreißen, gelang aber auch nicht wirklich. Der stimmlich ruinöse Vincent Le Textier entlockte dem patronenplatzenden General Boum nur trockene Klangfürze und fiel unfreiwillig vom Hocker. Miljenko Turk fistelte sich durch den Prinz Paul als Manager in Nadelstreifen. John Heuzenroeder, als Prinz Paul ein Großbäckereierbe, durfte künstliche Hefezöpfe mit sich herumtragen. Freude kam eigentlich nur bei dem seit dem appetitlichen Morgenduschen dauerbeschäftigten Ballett auf, dass im dritten Akt als Jockeys-samt-Ross-Quadrille – endlich – zu Begeisterungsstürmen hinriss. Humorausgehungert lachte man sogar über wackelnde Kunsttierhintern. Das ist bei Offenbach normalerweise anders… Ökosiegel hin oder her!

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Botox-Party mit Tolstoi und Prokofiew: Joana Mallwitz’ Sieg in Nürnbergs „Krieg und Frieden“

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Glanz und Elend des deutschen Stadttheaters: Aufwändige Produktionen können nicht allzu lange im Repertoire gehalten werden, auch weil das Publikum dann „durch“ ist. So auch in Nürnberg, obwohl seit einigen Jahren Staatstheater. Dort hat das neue Leitungsteam Jens-Daniel Herzog und Joana Mallwitz zum Auftakt ihrer ersten, eben zu Ende gehenden Saison Prokofiews in Deutschland äußerst selten gespieltes, sowjetpropagandistisch durchwirktes Schmerzenskind „Krieg und Frieden“ als Ensembleepos mit Ansage auf die Bühne gewuchtet. Und rasch wieder abgewickelt. Weil das ungewöhnliche, auch aufwändige Unternehmen aber ein großer Erfolg wurde, gelang es, noch mal eine Vorstellung zur Jahrestagung des Deutschen Bühnenvereins anzusetzen. Nach einem halben Jahr Repertoirepause, mit nur wenigen Proben. Respekt! Das Nachsitzen hat sich gelohnt. Das klang toll, knallig, wenn es musste, zärtlich und melancholisch, wenn es durfte. Und immer machte sich da dieser typische Prokofiew-Ton breit, trocken, sachlich, sarkastisch, auch mal lärmig vulgär, alle Stile des 20. Jahrhunderts amalgamierend und doch ein eigenes Idiom treffend. Und genau den traf die GMDeuse Joan Mallwitz mit fast schlachtenfüherinnenhafter Akkuratesse, Weitsicht und Souveränität Alles im Griff! Der fast dreieinhalbstündige (und trotzdem eingestrichene) Abend ist der glänzende Sieg der Mallwitz samt ihrer motivierten Orchestertruppe angesichts Napoleons Niederlage im brennenden Moskau. Und auch Herzog nimmt ein mit seiner knappen, sarkastischen, immer politischen Sichtweise.

Fotos: Ludwig Olah

Da zieht schon zur kraftvoll furchig genommenen Ouvertüre Soldat Platon (Martin Platz), einer der wenigen, der hier geistig den Durchblick hat, die im Einkaufswagen zusammengerollten Fahnen Russlands auf, die heutige, die sowjetische, die revolutionäre, die zaristische – alles eins vor dem rollenden Rad der Geschichte. Mathis Neidhardt hat wieder mal eines seiner klaustrophobischen Labyrinthe gebaut, schwarze Türen und Wände, klapppen weg, fallen um, werden durchbrochen. Das macht einigen Knalleffekt und ist doch schnell wie praktisch. Ein paar Kornleuchter und eine Ahnengalerie von Katharina der Großen bis Solschenizyn, Tschaikowsky bis Gorbatschow markiert die Adelspaläste, ein paar Podeste und eine sich herabsenkende Lautsprechersäule die Kriegsorte. Birken sind nur Natur im Schaufenster, am Ende stirbt die Liebe und das Leben zwischen Natascha und Fürst Andrej auf einem eisernen Krankenbett, während das die Nazis überwunden habende russische Volk stolz und hymnensingend an die Rampe marschiert.

Die Regie denkt immer die ganze russische Geschichte mit, da huscht Putin durchs Bild und Napoleons Lagerszene kommt als Parodie von Marschall Kutusows Soldaten daher. Licht und Rauch dienen als oft einzige atmosphärische Verdichtung. Und wie bei Dmitri Tcherniakov setzten Übertitel einen sarkastischen Grundton in den einzelnen Szenen, etwa wenn die von Sibylle Gädeke in vulgären Oligarchen-Blingbling gekleidete Oberschicht zur Botox-Party mit Tolstoi und Prokofiew lädt. Und am Ende klaut der der Sieger Denissow auch einfach nur die Plünderwaren der Franzosen.     

20 Solisten verbeugen sich am Schluss vor dem anhaltend jubelnden Publikum. Es seien nur die sehnsuchtsvoll-intensive Eleonore Marguerre (Natascha), der standhaft stattliche Jochen Kupfer (Andrej), der zweifelnd-zaudernde Zurab Zurabishvili (Pierre) und der pompöse Sangmin Lee (Napoleon) herausgegriffen. Eine Musiktheater-Großtat, fürwahr. Und eine faszinierend vielschichtige, Geschichte des 19. wie des 20. Jahrhunderts eindrücklich widerspiegelnde Oper, die weit mehr ist als nur ein Sowjetmachwerk, wie so gern verkürzt. Und die endlich mal wieder auch einer Berliner Opernbühne gut anstünde….  

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Der Brocken fliegt arg spät: Zu Dorothee Oberlingers ersten Musikfestspielen Potsdam dirigiert die Chefin Bononcinis Pastorale „Polifemo“

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Eben war es noch der „Polifemo“ von Nicola Porpora, der als geschickte Mythenklittung von Acis, Galatea und Zyklopen sowie Odysseus und Calipso bei den Salzburger Pfingstfestspielen Augen wie Ohren erfreute. Und gleich ging es weiter mit demselben Stoff, aber in anderer Anwandlung, und 33 Jahre alte. Bei den den „Musen“ gewidmeten Musikfestspielen Potsdam zeigte und dirigierte die neue Chefin Dorothee Oberlinger (beinahe) ganz blockflötenfrei die 1702 in Schloss Litzenburg, dem späteren Charlottenburg, Lustschloss der preußischen Königin Sophie Charlotte uraufgeführte Pastorale von Giovanni Bononcini. Der hatte, wegen des Spanischen Erbfolgekrieges als Hofkomponist am Habsburgerhof in Wien kurzgehalten, mal eben im immer kunstklammen Berlin angeheuert. Wie der 100-Minüter nun wirklich hieß, weiß man nicht mehr, aber unterhaltsam und reichlich virtuos ist er; trotzdem gab es noch einen musenreichen Prolog von Alessandro Scarlatti und – ganz dem barocken Zeitgeschmack entsprechend – ein als Violinkonzert verkleidetes Händel-Divertimento vor der Pause. Das alles fand wieder im italienisch in den Sommerabend leuchtenden Orangerieschloss statt. Und war in seiner historisch korrekten Inszenierungsanmutung etwas trutschig geraten; da hatte man in den letzten Jahren beim hier stets sehr feinen Opernraritätensammeln schon gewitztere Produktionen zu sehen bekommen.

Fotos: Stefan Gloede

Nun klappert aber auch schon die Librettovorlage gewaltig, die der Berliner Hofmusikus Attilio Ariosti kollegial nach Motiven aus Ovids „Metamorphosen“ gezimmert hat. Diesmal haben auch noch der Fischer Glauco und die zwischenzeitlich in ein Monster verwandelte Nymphe Silla ungebührlich viel Singzeit. Und die Zauberin Circe, die mal was mit Odysseus hatte, trägt zwar Iunos Pfauenfedern, aber legt magisch wie vokal furios los. Polifemo, hier ein tuntiges, aber bassingendes Riesenbaby mit blauer Schleife in den Perückenlocken,  kommt spät und wirft noch später eifersüchtig seinen Felsbrocken auf Acis. Denn beide sind in die ziemlich matronenhafte Galatea verliebt. Dazu wackeln die Stoffkulissengassen, in denen Margit Legler reichlich hilflos nach alten Gestenmusterbüchern arrangiert, bis zum versöhnlichen Ende eine sehr angezogene Frau Venus (jugendfrisch: Maria Ladurner) stoffreich auf einer Muschel hereinruckelt.

Das soll komisch sein, ist aber meist nur albern, nicht wirklich durchdacht und gestellt. Eine auf halben Weg steckengebliebene Rekonstruktion ohne Raffinesse, der aber dann auch der ehrlich parodistische Witz fehlt. So ist manches lustig, die aus Lauchstädt geliehenen Drehwellen, der Abgang ins Wasser, das Monster mit den Krallenhandschuhen, die nach Zierdeckchen aussehenden Kostüme, und einiges eben auch nicht. Vor allem dauert es viel zu lang, bis die Sache auf Touren kommt. Und am Ende ist dann chorklar, dass der Schmetterling nicht der Flamme zu nahe kommen darf: „Er wird den Schmerz finden, weil er die Lust sucht“, singt man.

Die hübsche, differenziert rhythmisierte Musik mit ihren gefälligen Melodien in 20 mal kurzen, mal sehr ausufernden Nummern ist bei Dorothee Oberlinger und ihrem kraftvoll bunt aufspielenden Ensemble 1700 in besten Händen. Freilich lässt sie die Sänger meist machen, die ganze Aufmerksamkeit gilt den virtuosen Instrumentalisten. Hoch ist das Niveau, wie stets in Potsdam, beim Vokalpersonal. Roberta Invernizzi gurgelt grandios die  Galatea, jugendlich flexibler hauen Roberta Mameli (Silla) und Liliya Gaysina (Circe) ihre Fiorituren ins Auditorium zwischen den beiden ionischen Sandsteinsäulen. Helen Esker ist ein burschikoser Glaukos und João Fernandes ein bassdoofer Poliphem. Doch als die Überraschung des Abends empfiehlt sich der glockenhell wie geschmeidig intonierende brasilianischen Sopranist Bruno de Sà (Arcis), von dem sicher noch Einiges zu hören sein wird.

Als Motto für die Festspiele 2020 hat Dorothee Oberlinger bereits wieder Bildhaftes ausgegeben: „Flower Power“. Denn eins gilt sowieso: als Gesamtpaket aus Schlossambiente, seltener Oper und sanfter Sommernacht ist und bleibt Potsdam magisch!

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Der Himmel kann warten: Wiedergeburt eines Meisterwerks – das Theater Osnabrück stemmt grandios Albéric Magnards „Guercœur“, erstmals und 88 Jahre nach der Uraufführung

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Hingehen, hingehen, hingehen! Zur Albéric Magnard und seinem klangklaren Dreiakter „Guercœur“. Jeder, der sich für Oper interessiert, sollte dieses Meisterwerk gehört und gesehen haben. Es ist live und auf einer Bühne die erste Gelegenheit seit 88 Jahren. Obwohl seit 1990 eine herausragende EMI-Gesamtaufnahme unter Michel Plasson mit José van Dam, Gary Lakes, Hildegard Behrens und Nadine Denize existiert, hat sich kein Intendant oder Dramaturg für diese grandiose Musik, für diese utopische, eskapistische, aber leider auch sehr aktuelle, obwohl um 1900 komponierte Geschichte interessiert. Man kann und will es gar nicht glauben! „Guercœur“ ist schön, tiefsinnig, schräg, bewegend, originell und süchtigmachend. So wie Oper eben im Idealfall sein sollte. Und mehr noch, so hätte wohl ein Musiktheater beschaffen sein können, wenn Gustav Mahler die Zeit und den Mut dafür gefunden hätte – obwohl man Magnard (1865-1914) gern den französischen Bruckner nennt. Jetzt muss man nur zum Theater Osnabrück fahren, bald und schnell, am 23. oder 26. Juni sowie am 2. und 5. Juli. Oder man hört sich am 22. Juni auf Deutschlandradio die Premierenaufzeichnung an.

Fotos: Jörg Landsberg

Ein seltsamer Kauz, dieser Lucien Denis Gabriel Albéric Magnard, Sohn des „Figaro“-Herausgeber und der Tochter eines Kunstblumenfabrikanten. Reich und unabhängig, Schüler von Jules Massenet und Vincent d’Indy. Im französischen Musikbetrieb konnte er nie landen, also verlegte er verbittert und vereinsamt seine wenigen Werke selbst. Und von denen ging ein Großteil, auch die Akte Eins und Drei des lediglich konzertant in Teilen mal gegeben „Guercœur“ in Flammen auf als deutsche Soldaten sein an der Frontlinie gelegenes Landhaus in Brand setzten – als Rache dafür dass er selbst einen Deutschen erschossen hatte. Auch Magnard kam dabei ums Leben. Frankreich feiert ihn als Kriegsheld. Das war es dann aber schon mit Kränzewinden.

Ein Vertrauter rekonstruierte die Partitur, 1931 brachte die Pariser Opéra das Werk heraus, schließlich aber fiel es mit den beiden anderen Opern, den vier Sinfonien und ein paar kleineren Kompositionen dem Vergessen anheim. Völlig unverständlicherweise.

Dunkel. Drei Lichtkreise. Köpfe. Mehr zeigt Dirk Schmeding samt seinem kongenialen Ausstatter- und Videoteam ins einer so klugen, modernen, sachlichen du vor allem minimalistisch direkten Inszenierung den ganzen erste Akt über nicht. Das langt auch, wir sind schließlich im Jenseits. Einem nichtchristlichen, säkularen. Die Musik glüht dunkel und sehrend, kommt choralhaft fett, aber souverän schlank geführt von Andreas Hotz. Guercœur, der sein Land aus einer Diktatur in eine Republik geführt hat, ist tot. Irgendwie ist er aber noch nicht mit der Welt fertigt. Er bittet und barmt, der famos heldenhafte Bariton Rhys Jenkins macht das mit profund gerundeter Stimme. Sein Ansinnen wird von den Fernchören zwar in Frage gestellt, aber von vier Damen, dem Wahren, Guten und Schönen, man hat sie sich unter Führung des Leidens als freundlicher gestimmte, graubehaarte wie -bewimperte Nornen in schwarzen Abendroben vorzustellen, befürwortet. Wie in einem mittelalterlichen Mysterienspiel.

Ein runder Tisch fungiert im zweiten Akt als Grab, aus dem der auf Erden zurückkehrende Guercœur auftaucht. Er schüttelt zwischen den ewigen Lichten die Krume ab – Schmeding bemüht sich zwischen all dem Pathos und Ewigkeitsgetue erfolgreich um ein wenig Komik –, dann geht es weiter ins ebenfalls hier platzierte, vormals eheliche Schlafzimmer. Dort freilich vergnügt sich zwischen bunter Blütenbettwäsche – es sind zwei Jahre vergangen – sehr sinnlich fleischlich seine Witwe Giselle (mit voluminös, sicherem, üppig aufscheinendem Sopran: Susann Vent-Wunderlich) mit Guercœurs Schüler Heurtal (schneidend fieß passender Tenor: Costa Latsos). Der ist sein Nachfolger geworden, in jeder Hinsicht. Doch da  ist nicht nur einer zu viel im Bett, Heurtal will das hungernde Wahlvolk, das ihn am Ende trumpgleich ekstatisch hochleben lässt, in einer neuen Alleinherrschaft unterjochen und mundtot machen. Guercœur warnt, wird nicht erkannt und von den Konfetti werfenden fanatischen Fans entsorgt – wieder mit letalem Ausgang.

Das ist toll komponiert und inszeniert, da stimmt jede Geste und jeder Ton. Diese Figuren sind total glaubhaft, in ihrem Sehnen und Wollen, obwohl ein von den Toten Erweckter mit im Opernspiel ist. Magnard, in der Dreyfus-Affäre auf dessen Seite, gelingt in seinem eigenen Libretto eine klarsichtige Analyse politischer Verhältnisse und Verführbarkeiten, er wechselt unschwer zwischen Mittelalter, Dritter Republik und Gegenwart. Obwohl Utopien beschworen werden, ist ihr Scheitern realistisch auserzählt. Und mit einer wunderhellen Musik verbrämt, die ihren Berlioz und César Franck kennt, die im Melos eines Massenets zu blühen versteht und Mahlerschen Weltschmerz atmet, Wagners Motivtechnik verinnerlicht hat, in der Szene der Eheleute immer wieder Strauss’ „Frau ohne Schatten“ ahnen lässt – und dabei doch originell und eigen bleibt.

Das steigert sich sogar noch im dritten Akt, einer einzigen, 40-minütigen Beschwörung von Frieden und Ewigkeit. Dazu sehen wir, der runde Tisch ist jetzt Guercœurs Katafalk, wie der vergeblich und fast ritualhaft von Rettungssanitätern reanimiert, wie die Leiche hergerichtet und kremiert wird. Am Ende wird die Asche in der Urne zugedeckelt. Dieses Prosaik ist freilich durch Videos und Licht entrückt, und dazu singt mit irisierend hellem, fruchtig schönem Ton Lina Liu als Verité einen traumhaften irgendwie in einem nebulös höheren Bewusstseinszustand aufgehenden Schlusshymnus, an dem man sich kaum satt hören kann. Und zu dem wir, das verzückt anwesende Publikum, per Video zu Sternenstaub pulverisiert werden.

Das ist üppig, aber nie fett, mysteriös, aber nicht verblasen. Eine „Parsifal“-Parabel, auch Guercœur muss durch Leiden wissend werden, ganz klar, aber viel logischer und weniger zeitverhaftet erzählt als etwa das abstrus symbolistische, wegen der geilen Musik aber noch heute goutierbaren „Wunder der Heliane“ Korngolds.

Wir sind längst wieder empfindsam für solche, kostbar schillernde Klangverästelung, die Fabel ist zudem zeitlos deutlich. Umso unverständlicher, dass erst das kleine, wackere, unter seinem Intendanten Ralf Waldschmidt regelmäßig auf Vergessenes und Ausgefallenes setzende Theater Osnabrück so vehement (man hat sogar eine kleine Foyerausstellung hinzukonzipiert)  auf „Guercœur“ und Albéric Magnard hinweisen musste. Nach so vielen Jahren des Dahindämmerns präsentiert sich ein Meisterwerk für diese Zeit. Hoffentlich ist jetzt der Bann gebrochen. Diese phänomenale Widerentdeckung, die bedeutendste der letzten Jahre, sie möchte man möglichst oft wiederhören und eben auch –sehen!

Der Beitrag Der Himmel kann warten: Wiedergeburt eines Meisterwerks – das Theater Osnabrück stemmt grandios Albéric Magnards „Guercœur“, erstmals und 88 Jahre nach der Uraufführung erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

Großartige Grube des Grauens: Mit „Macbeth“ beenden in Antwerpen Michael Thalheimer seine Verdi-Trilogie und Aviel Cahn seine Intendanz

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Macbeth, die Morde und der Müll. Es ist in der Regel durchaus vorhersehbar, wie man Giuseppe Verdis Shakespeare-Geniestreich aus seiner „Galeerenjahre“-Periode bebildert. Meist geht es nur noch darum, wie aktuell politisch oder schottisch mittelalterlich ferngerückt man diese blutige Diktatorengeschichte deutet. An der Opera Vlaanderen in Antwerpen, wo Michael Thalheimer seine dritten Verdi-Inszenierung herausgebracht hat, entschied sich der deutsche Theaterradikalreduzierer für die ihm gemäße, überzeitlich minimalistische Bühnenwelt. Henrik Ahr hat sie gebaut, Michaela Barth kostümiert und Stefan Bolliger ausgeleuchtet – hart, düster, ausweglos. In einer nach vorne hin aufgeschnittenen, bis auf ein Drittel der Prozeniumshöhe reichenden Wanne sammeln sich Schmutz, Schund und Unrat an, dinglicher und menschlicher – bis am Ende selbst die beiden ineinander verschlungenen Protagonisten dazwischen liegen. Darüber dräuen andrazithglänzende Wände, die einen Spalt zum Durchschlüpfen freigeben. Dahinter zuckt und blitzt es, Nebel wallt herein. Alle müssen sie in die Grube, Hexen, Könige, Soldaten, Hungernde. Oder sie lauern oben am Rand, wartend, aufgereiht, gleich wird es dann passieren.

Fotos: Annemie Augustijins

Geschickt hält Thalheimer in diesem, im Vergleich zu seiner Berliner-Ensemble-Theaterversion reichhaltigeren, vielschichtigeren „Macbeth“-Variante die Spannung und die Balance zwischen Ekel und Faszination gegenüber dem total Bösen. Ein grandioser, wie in Zeitlupe choreografierter Totentanz. Alle tragen dunklen Schottenrock, Westen und Leibchen auf nackter Brust, meist sind die Arme allzu schnell blutverschmiert. Eine barbarische Gesellschaft, bärtig, grob, langhaarverfiltzt, total unsympathisch. Und als Primadonna des Schreckens pflanzt sich, überschlank auf Plateausohlen, in großer Plisseerobe mit langem Aschblondhaar, als dark lady Marina Prudenskaya auf. Die legt ein tolles Rollendebüt hin, schneidend scharf, am Anfang noch vorsichtig in der Höhe, koloraturgewandt, durchschlagkräftig. The bitch is back! Als stets auf der Lauer liegendes Alien-Muttertier. Und endlich hören wir mal wieder die dunkle Mezzo-Tinta, die Verdi für dieses einzigartige Rolle vorschwebte. Ein Opernmonster der Spitzenklasse.

Viel schöne, schwarze Tinte versprüht auch Paolo Carignani am Pult des Symfonisch Orkest Opera Vlaanderen. Das tönt angemessen grell, ist spritzig bisweilen auch lauernd rhythmisiert. Ein beweglich, sehniger Verdi-Sound, der wie ein Fallbeil hernieder sausen kann, der aber nie knallig oder billig wirkt. Plötzlich steht da vibrant ein Fortissimo im Raum, Carignani kann den erzählerisch reichen Gegensatz zwischen gespannt flitzenden Tanztempi und abgründigen Bassschlägen. Auch die bärbeißige Komik, den Sarkasmus und die glühend nihilistische Leidenschaft dieser Musik macht er feinsäuberlich hörbar.

Craig Colclought ist ein etwas ungeschlachter, sehr authentischer Macbeth. Kein Jammerlappen, einer der mit seiner Lady tätlich kämpft, zwischen sexuellem Verfallensein und Horror alsbald sich selbst abhanden kommt. Eine ambige Gestalt, die als fieses Kampfschwein endet, auch vokal glaubhaft. Stark tönt der ruhige, seinem Schicksal entgegentretende Banco von Tareq Nazmi, der seinen schlanken Bass aber ganz schön auffahren, schrundig färben kann. Eher Typ eitler Tenorplärrer ist der eindimensionale Macduff von Najmiddin Mavlyanov, aber das rollendeckend; der Malcom von Michael J. Scott vokalisiert ebenfalls auf der dünnen Seite.

Am Ende rangeln er und Macduff um die Königskrone, die kaum an den Kleidern der Toten vom im Kampf um sie vergossenen Blut gereinigt wurde. Die wahre royale Regalie setzt sich dann aber ein Blut spuckendes Kind auf. Armes Schottland, patria oppressa! So hat es vorher der sehnige Chor gesungen. Wie wird das weitergehen? Nihilistisch, so wie man Michael Thalheimers Theaterweltsicht kennt. Und die vorwiegend geilen Hexen in weißblonden Donatella-Versace-Perücken, eine davon als ostentative Begleiterin der Intriganten, die weiden auch schon mal eine Leiche aus, dass die Därme fliegen. Das zwischen blutigen Luftschlangen und Karnevalkanonenkonfetti, mit denen vorher (die Koproduktion geht nach Düsseldorf!) wüst in der Half Pipe gefeiert wurde.

So beenden – szenisch wie musikalisch auf der Höhe, wenngleich nicht ganz so einzigartig surreal wie vor drei Jahren im Zürcher „Macbeth“ von Barrie Kosky und Teodor Currentzis  – Thalheimer nach „Otello“ und „Forza“ in Antwerpen eine eindrückliche Verdi-Trilogie und Aviel Cahn seine zehnjährige Intendanz. Möge die Opernmacht auch weiterhin mit ihnen sein.  

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Dark Side of the Gluck Moon: Robert Carsens und Thomas Hengelbrocks bannende „Iphigénie en Tauride“ in Paris

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Bisweilen gibt er das Faktotum der schönen Welt. Robert Carsen, vermutlich meist beschäftigster Opernregisseur, inszeniert auch gern Musicals, Ausstellungen oder die celebritygespickte Hommage an Karl Lagerfeld, die die drei Konkurrenzunternehmen Chanel, Fendi und Lagerfeld eben für ihren verstorbenen Ideengeber im Pariser Grand Palais ausgerichtet haben. Nicht weit davon, in der Avenue Montaigne, gegenüber von Dior, hat Carsen freilich gleichzeitig im Théâtre des Champs-Élysées eine Oper herausgebracht, oder besser: weiterentwickelt. Vor 12 Jahren kamen in Chicago als Doppelprojekt erst Glucks „Orfeo“ (dem später noch John Neumeier den „Orphée“ folgen ließ) und eben „Iphigénie en Tauride“ heraus. Die wanderte – immer mit Susan Graham in der Titelrolle – weiter nach San Francisco und London, jetzt kam sie an die Seine und geht noch nach Rouen. Und inzwischen wird die Titelrolle von der besten der jüngeren französischen Singtragödinnen verkörpert. Gaëlle Arquez gibt der von Göttin Diana zu den Skythen ans Schwarze Meer verfrachteten Atridentocher die nötige Härte, aber auch Verzagtheit. Gebeutelt von ihrem Auftrag als Mordmonster und Priesterin, die im Auftrag des König Thoas jeden Fremden der Göttin opfern soll, taumelt sie durch den packenden Vierakter.

Fotos : Vincent Pontet

 The Dark Side of the Gluck Moon, so düster sieht Robert Carsen das auf vier Personen reduzierte Kondensat als schicksalhaftes Schattenspiel. Das ist zwar von 1779, mutet in seinem noch tausende Jahre älteren Konflikt zwischen Verantwortung und Bestimmtheit, Gnade und Familienbande ungeschminkt modern an. Dafür hat ihm Tobias Hoheisel einen hohen schwarzen, schmucklos gekachelten Raum hingestellt, durch dessen Rizzen immer wieder Flüssigkeit rinnt und über die Bodenschräge läuft. Sie verwischt die Namen, die als diese Menschen in Schach haltendes Menetekel in Versalien an den Wänden stehen: Agamemnon, Iphigenie, Klytämnesta – und am Boden ist Orest zu lesen. Keiner kommt dem aus, die Familienbande bestimmen ihr Handeln und Wollen. Es dauert bis fast zum finalen Opfer, dass sich die Geschwister erkennen, umso länger ringt Orest mit seinem Freund Pylades, wer sich nun töten lässt. Schließlich hat Diana (hier nur die durchdringende Stimme von Catherine Trottmann) ein Einsehen und stoppt das ewige Morden. Thoas (auch vokal nur durchschnittlich: Alexandre Duhamel) zuckt zurück, die Wände heben sich, die Fremden verschwinden. Iphigenie aber kann nicht weg, sie verharrt zwischen den Gefallenen im Halbschatten.

Wenn am Schluss die Göttin eingreift, führt sie freilich nicht nur ein halbwegs gutes Ende herbei, sie übergibt den Menschen auch Verantwortung für ihr künftiges Handeln, indem sie den Opferritus abschafft: Sie macht sie zu moralisch haftbaren, eigengesteuerten Wesen. Robert Carsen inszeniert das ritualhaft streng, immer wieder scheinen seine Protagonisten mit Schwert und Hirn gegen ihre Bestimmung anzukämpfen. Sorgfältig ist das Licht von ihm und Peter van Praet gesetzt, das den strengen Raum gliedert und verändert. Der Chor ist in den Graben verbannt, stattdessen bewegt der Choreograf Philippe Giraudeau seine 20 Tänzer, als Priesterinnen wie Soldaten alle im gleich schmucklosen Schwarz, über die Szene. Bruchlos geht die Regie in tänzerische Arrangements über, wirbelt so die Figuren noch stärker durcheinander, schafft Spannung und Varianz.

Gaëlle Arquez ist der dunkle, doch samtige Stern dieser verhalten starken Gluck-Galaxie. Sie leuchtet warm, aber auch vibrant auf, hat sehnige Energie, offenbart zudem durchscheinende Verletzbarkeit. Das Schwert ist ihre Waffe wider Willen, doch ohne fühlt sie sich um ihr Dasein gebracht. Daneben gibt Stéphane Degout mit gellend auftrumpfendem, selten sanftem, meist kantigem Bariton den Orest als Macker und Macho. Eine Kampfmaschine, die nur ruhiger wird, wenn sein Freund Pylades singt und ihn in einem mit Kreide auf den Boden gezeichneten Karree besänftigt. Sind die beiden Liebende, wie man es oft in Glucks hier plötzlich innige Musik hineininterpretiert hat? Carsen lässt das offen, vermeide körperliche Nähe. Aber Paolo Fanales weicher Tenor verleiht dem Pylades Innigkeit und Güte, möglich wäre es also….

Und es beglückt zudem bis zum Finale die Musik. Gluck beginnt mit einem wilde Sechzehntel durchrasenden Seesturm. Später hält Thomas Hengelbrock sein Balthasar Neumann Ensemble und Chor zu zartem, dann wieder kräftig zupackendem Spiel an, variiert gekonnt die Dramatik, lässt den Oboenvirtuosen Gluck glänzen. Die historisch geübten Musiker spielen dank einer stufenlosen Dynamikskala und einer in immer neuen Schattierungen abgemischten Farbpalette eine weitere Hauptrolle: die Glucksche Ausdrucksfülle auf kleinstem Raum – Ariosi, Rezitative, präzise Chöre, Tänze – ertönt als akustisch reines, immer spannendes Klanggemälde von großer Tiefenwirkung.

Hengelbrock ist in Paris kein Gluck-Unbekannter. Er hat hier schon beim Ballet de l’Opéra Pina Bauschs frühe „Orfeo ed Euridice“-Choreografie mit seiner Truppe begleitet. Sehr tänzerisch ist deshalb sein Zugang. Was gut zur strengen Arbeit des Bausch-Fans Robert Carsen passt.  Der übrigens kurz nach der Premiere 2007 Strauss’ „Ariadne auf Naxos“ in München als heitere Tragödie zeigte. Und wieder wie in Bausch-Manier, schwarz in schwarz. Deren „Iphigenie“-Variante wird übrigens Ende der Saison 19/20 erstmals außerhalb Wuppertals beim Dresdner Semperoper Ballett wiederzusehen sein.

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Zum 200. Geburtstag: Jacques Offenbach zieht mit „Madame Favart“ in die Pariser Salle Favart ein. Plus ein paar Jubiläumsempfehlungen

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Ob den Bruder Jacob das gefreut hätte? Jedenfalls leistet die Pariser Opéra-Comique (der Bindestreich meint das Haus, ohne bezeichnet es das Genre der französischsprachigen Oper mit gesprochenen Dialogen, komisch oder nicht) Abbitte am Abend des 200. Geburtstags von Jacques Offenbach. Er, der hier zwar als Cellist einige Jahre im Orchestergraben saß und die Funktionsweisen unterhaltenden Musiktheaters kräftig inhaliert hat, wurde als Komponist langhaltig von den hohen Pforten ferngehalten. Erst als arrivierter Künstler von 39 Jahren durfte er 1860 hier seinen „Barkouf“, die bitterböse Geschichte vom Hund auf dem Thron, herausbringen. Diese, wie eben die Wiederaufführung in Straßburg belegte, grandiose  opéra comique wurde, der widrigen Umstände – Zensur, Krankheiten, antisemitischen Pressekampagne – wegen als Flopp verbucht. Und die gegenwärtig teure und goldstuckglitzernde Halle, die dritte Salle Favart, wie die Comique offiziell heißt, auch wenn sie kein Pariser so nennt, die haben weder Offenbach je betreten (sie wurde erst 1898 eingeweiht) noch das namensgebende Ehepaar Favart. Er, Charles Simon Favart (1710-90), war Theaterautor und Opernkomponist, der dem neuen, volkstümlichen Genre entscheidende Impulse gab und schließlich mit der Leitung der dafür vorgesehenen Bühne betraut wurde. Heute ist er nur noch ein Name der Theaterhistorie. Seine bleibende Leistung für die Operngeschichte ist, dass er den direkten Libretto-Vorläufer für Mozarts Jugendsingspiel „Bastien und Bastienne“ lieferte. Justine Favart (1727-72), seine Frau war nicht nur Koautorin vieler seiner in zehn Bänden (!) veröffentlichten Stücke, sondern eine bedeutende, sehr vielseitige Schauspielerin, die als eine der Ersten rollendeckende Kostüme trug – und nicht die Schäferin im Seidenkleid gab. Deshalb wohl hat sie jetzt – wie originell! – die Opernregiedebütantin Anne Kessler, Schauspielerin an der Comédie Française, im Schneideratelier der Opéra-Comique lokalisiert. Das nämlich dient, in dreistöckiger Gusseisenanmutung, absurd, und kaum genutzt, als Einheitsbildhintergrund für – „Madame Favart“. So heißt eine der späten, nostalgisch romantisierenden Operas comiques von Jacques Offenbach. Uraufgeführt wurde sie freilich im Dezember 1878 in den Folies-Dramatiques. Der feierliche Geburtstagseinzug, koproduziert von der Opéra—Comique sowie der bewährt-gewitzten Stiftung Palazetto Bru Zane, die nach Limoges und Caen weiterwandern wird, ist also jetzt so etwas wie eine späte Jubiläumswiedergutmachung und eine Art neuerliche Weihe des Hauses. Die man sich durchaus origineller hätte vorstellen können.

Fotos: Stéphane Brion

Doch zum guten Eindruck gehört der champagnerpricklende Dirigiergestus von Laurent Campellone, der dem klangprallen Orchestre de Chambre de Paris vorsteht. Das ist ein zugespitzt rhythmisierter, ganz und gar leichtgewichtig knallender Offenbach-Sound, auch melodienbeschwingt, marschierfreudig, galoppgespannt und walzerselig. Eine bunte Partitur mit einem Libretto von Alfred Duru und Henri Chivot, braver – vor allem im ersten Akt – als üblich, mit einer Zuckerbäcker- und einer Winzerarie, einem mozärtlichen Quartett und einem verjuxten Tiolerduett. Es finden sich feine Bouffonerien, Verkleidungsulk, Rokoko-Reminiszenzen und eine krachige Tenorbuffo-Charge (Éric Huchet – famos als aufgeblasen testosteronblubbernder Marquis de Pontesablé). Aber meist gibt sich Offenbach hier versöhnlich sentimental, beschwört für die neue Bürgerlichkeit, der nicht mehr so feierfreudig zu Mute ist wie im zweiten Kaiserreich, das Glück der stillen Häuslichkeit wie des Ehestandes. Und das fast ganz ohne Frivolitäten.

Für die steht hier, anders als in „Adriana Lecouvreur“ als latin lover, ein nie erscheinender Moritz von Sachsen. Der uneheliche Sohn August des Starken (und sagenumwobene Urgroßvater von George Sand), kämpft als alter, geiler Bock inzwischen vorwiegend an der Liebesfronlinie. Und er hat es auf Madame Favart abgesehen. Was übrigens historisch belegt ist, nicht aber das operettige Quiproquo. Madame versteckt sich im Kloster, Monsieur im Keller einer Gastwirtschaft. Dazu kommt ein zweites, jüngeres Paar, Suzanne und Hector, die heiraten wollen, aber vom Marquis de Pontsablé verfolgt werden – weil der Suzanne hinterhersteigt und auch für den Maréchal de Saxe Detektivarbeit betreibt. Ein rustikaler Gastwirt und ein steifer Vater verstärken zudem das derbe Typenkabinett, das drei Akte lang von der Wirtschaft über die Wohnung und das Militärlanger nach allen Regeln der Farce-Kunst und des Verkleidungsulk durcheinandergewirbelt wird.

Wie gesagt, in der Opéra-Comique, müssen aktuell alle Mitwirkende so tun, als steigen sie aus den Offenbach-Protagonisten in ihrer Schneiderexistenzen zurück. Da trägt man dann mal ein einen blumenumwickelten Reifrock, der auch als Monsterbouquet und Lüster dient – warum auch immer. Solche ablenkenden Einfälle hat Anne Kessler so einige, sie hätte sich lieber mal auf eine bessere Schauspielführung in den vielen Dialogen konzentriert, da wird à la française dauerschnaubend übertrieben und fast immer nur exaltiert geschrien. Nicht sehr graziös. Immerhin, nachdem sich die gejagte Madame Favart vor Ludwig XV. einen Erfolg erspielt, bekommt ihr Mann das Patent für die Opéra-Comique, und zum Finale senkt sich als transparente Theaterfantasmagorie das heute Pausenfoyer der dritten Salle Favart herab. Voice, la gloire de la France!

Marion Lebègue gibt diese Madame Favart als handfest komische Mittelalte, mehr Dragoner als Feingeist, die vor allem als böse Tantenschachtel überzeugt, und singt sie mit erdigem Mezzo. Christian Helmer ist ihr bassvokal etwas unterbelichteter Mann. François Rougier offeriert als aufstiegswilliger Militär Hector einen hübschen Krähtenor und wendiges Spiel. So hat es die sopranschöne Anne-Catherine Gillet als Suzanne leicht, zu glänzen und zu funkeln, auch wenn sie in der Damenriege hierarchisch eigentlich an zweiter Stelle steht.

Der tolldreiste Éric Huchet war auch schon vor drei Wochen der titeltragend lachverjuxte  „Maître Péronilla“ in einer ebenfalls 1878, vor der „Favart“ uraufgeführten hispanesken Opera bouffe, die der Palazetto konzertant an den Anfang seines diesjährigen Paris Festivals gestellt hatte und mit einem beschwingt aufgelegten Markus Poschner auch aufnehmen ließ. Zwei eminente, kaum bekannte Werke aus der Offenbach-Spätzeit (auch wenn die „Madame“ kein ausdrückliches Wunschstück der Bru Zanes war), das machte dramaturgisch durchaus Sinn. Dazu gab es bei der inzwischen 7. Festival-Auflage Konzerte zum 150. Berlioz-Todestag und andere Trouvaillen. Und man hat die höchst witzige, erfreuliche Reihe Bouffes de Bru Zane mit halbstündigen Operetteneinaktern im Studio des eleganten Théâtre Marigny mit einem weiteren grellvergnügten Duo fortgesetzt.

„Sauvons la Caisse“ von Charles Lecocq erzählt von einem Diener, der in eine Zirkusartistin verliebt ist und deshalb die Identität seines polnischen Herren annimmt. Die fast schon surreal anmutende Groteske „Faust & Marguerite“ des völlig unbekannten Frédéric Barbier (1829-89) erzählt nicht nur davon, wie parodiebeliebt einst die Gounod-Oper war, sie zeigt ein durchgeknalltes Sängerpaar, das ganz andere Musik singt in Vorbereitung seines Auftritts, der dann doch nicht stattfindet. Das ist so schrill wie pointiert von Lola Kirchner mit einem Minimum an Aufwand in Szene gesetzt, und Lara Neumann wie Flannan Obé schmeißen sich mit Verve in ihre Knallchargen, singen aber dabei genauso gekonnt. Ungerührt spielt Pierre Cussac seine Akkordeonarrangements zu dem komödiantischen Tollhaus, das nach 60 Minuten zu einem atemlosen Ende findet. Das fand übrigens auch Madame Bru selbst sehr komisch!

Alexandre Dratwicki, der künstlerische Bru Zane-Chef, ist hocherfreut über diese Operettenekundung, die er erst einige Jahre nach dem Start der Stiftung, aber dafür umso vehementer begonnen hat. Die von der Gruppe Les Brigands inszenierten Tourproduktionen laufen super, nächstes Jahr kommen sogar große Häuser wie Toulouse und Bordeaux als Partner mit ins Unterhaltungsboot. Raynaldo Hahn, einer der beiden Komponistenschwerpunkte 2019/20, steht praktischerweise für das Seriöse wie die Operette. Ihm wird kurz vor der Jubiläumsgala zum 10. Bru Zane-Jahr beim venezianischen Herbstfestival gedacht; das Münchner Rundfunkorchester wird im Januar 2020 konzertant „L’île du rêve“ geben. Viel Saint-Saëns hat Dratwicki zu dessen 150. Todestag 2021 im Köcher, unter anderem szenische Aufführungen von „Les Barbars“ und „Henry VIII“.  Und in der Operette wird weiter Hervé ein Schwerpunkt sein.

Besonders die Mini-Einakter, zahlenmäßig immerhin zwei Drittel des musiktheatralischen Schaffens der französischen Romantik, sind inzwischen gerne gebucht in Städten und Dörfern, die noch nicht einmal ein Theater, nur einen Versammlungssaal haben. So wie das kleine Houdain bei Arras, Geburtsort von Hervé, wo für ein Bru Zane-Gastspiel sogar der Bürgermeister mit Amtsschärpe anrückte, um dem großen Sohn zu huldigen. Auch Altersheime und Krankenhäuser buchen dieses vergnüglichen Amuses geûles gern. Ein toller sozialer Nebeneffekt, wie Dratwicki findet. Deshalb gibt es in der nächsten Saison wieder zwei Operetten-Kurz-Doppelwhopper im Marigny (wo übrigens einst Offenbachs Ur-Bouffes Parisiennes an den Champs-Élysées standen), mit u.a. Lecocqs „Le docteur Miracle“ und Offenbachs verjodelter Elsass-Farce „Lieschen und Fritzchen“.  

Zum 200. Offenbach-Jubiläum hingegen lässt es sich schnell überschauen, wie die Offenbachialen medial bescheiden gewachsen sind. An prominentester Stelle ist bei den klingenden Musikalien  – als einzige Operetten-Neueinspielung überhaupt – Marc Minkowskis griffige Mischfassung aus beiden Versionen von „La Périchole“ zu nennen, die der Palazetto Bru Zane in seiner bewährt schönen Buch-CD-Reihe herausgebracht hat. Dabei ist Aude Extrêmo – nomen ist diesmal omen – eine auch vokal resch und knackig zupackende Straßensängerin. Als Piquillio ist leider nicht – wie letztes Jahr in Salzburg – Bernjamin Bernheim zu erleben; Stanislas de Barbeyrac tönt verhalten. Wunderbar auf dem Pointenpunkt wieder der Tenorbuffo Éric Huchet als Don Miguel. Und die Musiciens du Louvre haben längst einen griffig-spritzigen Offenbach im Instrumentalistenblut, dem Minkowski generös Zucker, Pfeffer und Chili gibt.

Howard Griffiths hat mit seinem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt für cpo schwung- und liebevoll Ouvertüren der nicht so bekannten Bauart eingespielt – aus „Les bavards“, „Les bergers“, „Le Roi Carotte“, „La Creole“, „Les bringands“, „L’île de Tulipatan“, „Monsieur Choufleurie s’amuse chez lui“, „Ba-Ta-Clan“, „Genevieve de Brabant“,  „Madame Favart“ oder „La princesse de Trébizonde“. Sehr lehrreich, diese Melodienfülle, dieser Espit. Das gilt auch für die entdeckungsfreudige Cellistin Rafaela Gormes, die sich für Sony nach Rossini-Bearbeitungen zumindest einem Bruchteil des Instrumentalschaffens des Cellovirtuosen J. O. zugewandt hat, welches er, immer voll Sehnsucht nach dem Musiktheater, während seiner ersten Pariser Jahre als Lebensgrundlage für die blühende Salonkultur verfertig hat. Mit Julian Riem am Klavier und Wenn-Sin Yang am zweiten „Barcarolen“-Cello gibt sie einen bunten Querschnitt durch Innovationsfreude und Geschmack dieser längst verschwundenen, durchaus liebenswürdigen Musizierkultur, die sich an instrumentalen Schlittenfahrten, Träumen am Meer, melancholischen Walzern und den „Tränen der Jacqueline“ erfreute.

Und auch das Cello-Concert Militaire, Offenbachs längstes Opus für sein Instrument, gibt es in einer moussierenden Neuaufnahme zu hören. Ebenfalls bei Warner/Erato lässt Edgard Moreau marschieren und musikalisch losballern – mit dem Orchestra Les Forces Majeures unter dem befeuernden Raphaël Merlin als Schlachtkameraden. Auf 30 CDs hat Warner ihre dem Fan längst bekannte Operettenschätze der EMI und Erato auf Französisch und Deutsch (die oft opulenter orchestrierten Wiener Versionen) als Box gebündelt, mit spärlichen Informationen, aber den alten Covern und zum Kampfpreis. Als einzige, aber grandiose Vokalneuaufnahme macht das Rezital „Offenbach Coloratur“ (alpha) der Belgierin Jodie Devos viel Spaß. Die hat das Lachen in der Kehle, gibt dieser Musik Charme, Witz und Individualität.Auf ihrer CD mixt sich abwechslungsreich Bekanntes („Les Contes d’Hoffmann“, „Orphée aux Enfers“) mit viel zu Entdeckendem („Boule de Neige“, „Vert-Vert“, „Le Roi Carotte“). Das Münchner Rundfunkorchester und Laurent Campellone am Put haben sich davon ganz bezaubernd anstecken lassen.

Nichts gibt es aus der DVD-Ecke, und auf dem Büchertisch finden sich drei Dinger:  Der Palazetto hat bei Actes Sud eine vom Offenbach-Papst Jean-Claude Yon edierte Sammlung von dessen offenen Briefen an den „Figaro“ und andere herausgebracht: „M. Offenbach nous écrit“, natürlich auf Französisch. Der Musikwissenschaftler Ralf-Olivier Schwarz hat bei Böhlau „Jacques Offenbach. Ein europäisches Portät“ vorgelegt. Das fasst den Wissenstand ganz gut zusammen, ist zudem seit langem die erste ausführlichere Publikation in Deutsch. Ein Schwerpunkt liegt auf der Kölner Zeit mit ein paar neuen Erkenntnissen. Doch die Pariser Jahre ziehen sich ein wenig dröge dahin, es wird selten plastisch, eher abgehakt. Brauchbar also, aber nicht sehr animierend.

Dann lieber Heiko Schons knappes „Offenbach. Meister des Vergnügens“ (Regionalia). Das ist eine flott, ja stellenweise auch flapsig geschriebene Monographie, die sich großzügig aus der vorhandenen Literatur bedient. Schons Buch verliert sich zwar als sprunghaft-wirrer Lebensabriss in so albernen Aufzählungen wie dem trinkenden, essende, liebenden, reisenden Offenbach, aber sein Werklein hat einen großen Vorteil: Er ist eigentlich ein biographisch umrankter Opernführer. Immerhin knapp 100 Werke werden kurz und treffend inhaltlich referiert, charakterisiert und mit pfiffigen Plattentipps vorgestellt. Dafür ist es gut und wichtig. Hoffentlich macht sich angesichts der noch wiederzuentdeckenden Stücke mancher Opernintendant so seine Gedanken…bis dahin kann man zudem virtuell unter musee.sacem.fr in einer kleinen, feinen Offenbach-Ausstellung stöbern.

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Ins Wasser auf die Via Veneto: Eine Konzertkleiderkritik zum Thomas-„Hamlet“ mit Diana Damrau an der Deutschen Oper Berlin

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Lassen Sie uns mal über Konzertgarderobe reden. Nein, nicht die des Publikums, da ist längst Hopfen und Seidenschal verloren. Und wenn die Temperatur gen 40 Grad klettert, dann kann man an einem nicht eben für die Würde des Kleides berühmten Ort wie der Deutschen Oper Berlin schon froh sein, dass sich keine Shorts und keine grauen Socken zu Sandalen zeigten. Nein, sprechen wir davon, was das Personal auf der Bühne inzwischen so anlegt, wenn es zur Oper ohne Inszenierung schreitet. Da gibt es ja viel Zeit (fast dreieinhalb Stunden) zu gucken, unangekränkelt von jeder Regieabirrung. Zum Beispiel beim konzertanten „Hamlet“ von Ambroise Thomas, nach ihrem Rollendebüt als nasse Ophélie in Barcelona für und um Diana Damrau mit drei Vorstellungen an der Spree ausgepreist. Ihr Mann Nicolas Testé, der mit wieder mal etwas farbarmen Bassbariton den König Claudius und als erster den Kleiderton vorgibt: fancy casual. Er interpretiert das als Frack mit schon zum Markenzeichen gewordenem schwarzem, offenem Kläppchenkragenhemd, also schon – nach der Etikette – zwei Modesünden in einem. Steht ihm gut zu frischgebräunter Haut, findet er sicher. Absolut korrekt, kultiviert, sehr elegant, slighly glamourous, so wie sie auch singt: Eve-Maud Hubeaux als die große Königin-Gertrud-Überraschung. Mit elaborierter Hochsteckfrisur und einem engen, hinten weit ausgeschnittenen lila Lurexkleid, von den Schultern laufen epaulettengleich Pailettenstickereien als Rand nach hinten. Von diesem warmen, fein geführten Mezzo wollen wir mehr hören! Und sehen!

Dann kommt Hamlet, ach was, er schlurft, einen antiquarischen Klavierauszug, marmoriert mit Goldschnitt, vor der gewölbten Brust. Denn Florian Sempey sehr wohl ausgewählt hat, schmückt er doch seinen übrigen Aufzug ungemein: mit brauner, goldknopfiger Brokatjoppe samt Weste, vielen Silberringen, Bart und Jesus-Frisur sieht er aus wie der Wiedergänger eines klampfenden Liedermachers aus den Seventies, Typ Zupfgeigenhansl. Er singt mit gar nicht so besonderem Timbre hinreißend, steigert sich gewaltig, gibt mehr die männliche intensive Diva als den von des Gedankens Blässe angekränkelten Dänenprinz. Das gefällt uns freilich sehr.

Er konveniert zudem perfekt mit Diana Damraus Garderoben – ja: Mehrzahl! Das ist sie ihrem Publikum schuldig. Jungmädchenhaft trippelt sie seitlich gewendet herein, das Blondharr ein wenig hochgesteckt, ein wenig lockig fallend. In silbrig großzügige Falten gehüllt, mit leicht lilaschimmernder Stola, sittsam, trotz Dekolletee. Zum Gang ins Wasser wird dann von Ophélie freiflutend psychedelisch Geprintetes im Grundton Gelb angelegt, mit fließender Stola in Rosa und wallendem Halsband. Als wäre sie auf dem Weg zum Campari-Cocktailempfang in die Via Veneto. Das lenkt geschickt ab, dass die Damrau-Höhe inzwischen angekratzt ist, geschickt gespielt umfahren, dramatisch wettgemacht wird, was an freien Spitzentönen fehlt. Die Stimme ist sehr reif für diesen juvenilen Charakter;  anderseits hat sie mehr Fleisch auf den Vokalrippen als so manche, nur flötende und fiepsende Nachwuchskolorateuse. Aber wo soll das karrieremäßig hinführen? Die neue Saison bringt als Debüt die Amelia (eine Jenny-Lind-Rolle!) in Verdis „I masnadieri“ an der Bayerischen Staatsoper. Wir sind gespannt.

Alle weiteren Nicht-Shakespeare-Beteiligten: sehr solide, der fluide Philippe Talbot etwa singt sein Laertes-Arioso im Smoking und ebenfalls mit schwarzem, offenem Hemd. Hat der sich mit seinem König abgesprochen? Die Comprimarii der Deutschen Oper, allen voran der wohlig dröhnende Vatergeist von Andrew Harris, sind von Castingchef Christof Seuferle auf Frack, Fliege und weißes Hemd geeicht worden. Vokal wie stofflich sitzt alles, ebenso beim Chor und dem Orchester. Yves Abel trägt schwarzes Hemd offen über der Hose, das verschwitzte wird nach der Pause gewechselt. Und ein wenig hemdsärmelig dirigiert er auch. Freilich hat er alles, auch das wunderfeine Saxophonsolo im Festbild fein im Griff. Es blöckt bisweilen ein wenig nach Verismo, aber das tut Ambroise Thomas immer wieder toller, aber auch streckenweise rachitischer Musik sehr gut. Das hat, gutgekühlt, Zug und Schmackes. Die Kleidung als Ausdruck der Musikzierhaltung – hätte fast inszeniert sein können. Und damit findet die Berliner Opernsaison ein durchaus elegant lässiges Ende.

Der Beitrag Ins Wasser auf die Via Veneto: Eine Konzertkleiderkritik zum Thomas-„Hamlet“ mit Diana Damrau an der Deutschen Oper Berlin erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

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