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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Carmen, die Brille, Liszt, das Paar, die Wanne, Bolero, der Bruder: An der Pariser Opéra gibt der Choreograf Mats Ek ein fröhliches Comeback und spielt locker mit vielen Legenden

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Aus. Vorbei. Ich mag nicht mehr, ich habe alles gesagt. So lautete vor vier Jahren, zu seinem 70. Geburtstag, das Fazit des weltberühmten schwedischen Choreografen Mats Ek. Anders als seine Mama, Birgit Cullberg, wollte er eine ruhige Rente. Denn gleichzeitig vergab er keine Lizenzen mehr für seine alten Werke. Ein Lebensleistung – abgeschlossen. Kann man verstehen. Aber so konsequent, wie etwa seine zumindest als Gruppe seit 1982 verstummten Abba-Landleute, ist er – zum Tanzglück – nicht geblieben. Offenbar war ihm fad. Denn jetzt hat er beim ihm eng verbundenen Ballet de l’Opéra de Paris im Palais Garnier sogar gleich zwei neue Stücke zur Uraufführung gebracht. Mit der neu ins dortige Repertoire aufgenommenen „Carmen“ von 1992 rundet sich das zu einer so berührenden wie beziehungsreichen Hommage an Ek selbst, seinen unverwechselbaren Stil wie an die Tanzkunst und ihre Geschichte überhaupt. Dafür stehen schon die hier versammelten Komponisten: George Bizet mit seiner „Carmen“-Suite in der Bearbeitung von Rodion Schtschedrin, einst für dessen Frau Maja Plisetskaja entstanden, und nur für Streicher und vier Schlagzeuger orchestriert; Franz Liszt, gerne für den Tanz genommen, ist mit seiner monumental halbstündigen h-moll-Klaviersonate in einem Satz vertreten; und Ravels Bolero gilt nicht nur eines der berühmtesten Musikstücke überhaupt, es wurde als Ballett konzipiert und ist seither auf der Bühne stets eine Apotheose des Tanzes – von Maurice Béjarts Version bis zu der von Sidi Larbi Cherkaoui, beide vom Pariser Opernballett getanzt, bzw. sogar in Auftrag gegeben.

Drei große Komponisten, drei berühmte Titel, wie geht der eigentlich eher zum Understatement neigende, skandinavisch demokratische Mats Ek damit um? Locker und entspannt. Die „Carmen“ als exotische Operette mit Augenzwinkern liefert dafür den rechten Auftakt. Auch wenn sie sich mit 50 Minuten Spielzeit ein wenig zieht, die parodistische Annäherung mit Glitzerfaltenröckchen und drei wandelnden Pappfächern als Bühnenbild funktioniert immer noch, um die Geschichte eine stolzen, unabhängigen Frau und eines Machomännchens mit einem Twist zu erzählen. Und wie immer bei Ek sind die Füße gern geflext, wird gekrümmt gesprungen, gehechtet und aus der Achse heraus gedreht, gerne auch im Plié zweite Position verharrt. Ein Sportball und phallische Zigarren dienen als ungewöhnliche Requisiten.

Getanzt wird so exquisit wie frech jugendlich unbekümmert und gespannt sportiv. Das steigert sich nicht wirklich zum großen Drama, die leidenschaftlichen Gefühle werden eher unterkühlt serviert. So funktioniert die eigentlich abgelutschte Geschichte aber noch ganz gut. Amandine Albisson ist eine burschikose Carmen, wenn auch viel jünger als einst die kerlige Ana Laguna, Eks Frau. Florian Magnenet gibt den Don José gleichzeitig verletzlich-verwirrt und forsch-präpotent, Ein Bild von Tanzmann. So wie auch der lässig posierende Escamillo Hugo Marchand, während die Michaela, hier nur M genannt, von Séverine Westermann für den ländlichen Weltschmerz und die Tragik zuständig ist.

Die eigentliche Kostbarkeit des Abends versteckt sich zu Beginn des zweiten Teils, das Duo „Another Place“. Das bezieht sich zunächst auf Mats Eks älteren Pas de Deux „Place“ für Laguna und Mikhail Baryshnikov indem es ebenfalls Tisch und Teppich zum Einsatz kommen lässt. Er ist aber, Aurélie Dupont, die gegenwärtige Pariser Diréctrice und eigentlich 2015 in Rente gegangene Étoile tanzt schließlich den weiblichen Part mit einer ganz feinen Aura, auch eine Verbeugung vor dem Gebäude und der Institution. Erst nämlich ist das eine Bergmansche Zustandsbeschreibung menschlicher Zweisamkeit: ein offenbar langjähriges Paar mag sich und auch nicht, ist leidenschaftlich einander zugewandt, gelangweilt, abgestoßen.

Zunächst steht Er, Stéphane Bullion, allein im Mittelpunkt. Mit wehender Strickjacke erobert er sich die Bühne, seine Brille, die er ab- und aufsetzt, spielt eine wichtige Rolle. Auf dem Tisch fegt er mit grandioser Geste über imaginäre Tasten, so wie es im leeren Graben souverän Staffan Scheja am Flügel tut. Dann kommt die Dupont dazu, auch in Strickjacke und weitem Kleid, Haarknoten, schön, aber ohne jeden Glamour. Man zieht einander Schuhe und Joppen aus, jagt sich, kost sich, ist sich einander gleichgültig. Das geht immer mit der Musik kongruent, die mal himmelhochjauzend, mal betrübt tönt. Szenen einen Ehe? Irgendwann haben beide erschöpft genug, der Steinway fährt hoch, sie setzen sich ins Dunkel, hören einfach nur zu, der Fokus verschiebt sich ganz auf die Musik.

Nach weiterem Gerangel lässt Er sich einfach in den Orchestergraben rollen (da stehen Fangmatten!), jumpt dann wieder auf die Szene. Sie schieben sich auf dem Tisch hin und her, er rollt sich in den Teppich, stellt sich auf, fängt sie darunter, bis sie den Läufer beide wie einen Königsmantel hinter sich her über die Bühne schleudern. Das alles ist so intensiv wie intim. Dann aber wird die Szene ganz leer und heller, das hintere Eisentor fährt hoch, dahinter leuchtet der Kronleuchter im berühmten Foyer de la Danse, verdoppelt sich mt der Stuckdecke im Spiegel. Beide verbeugen sich, er hebt sie empor, sie verschmelzen als Individuen mit der Historie des Palais Garnier, vor der sich auch Mats Ek verneigt.

Hier müsste jetzt Schluss sein. Ist es aber nicht es gibt eine offene Verwandlung, das Duo geht einfach ab, ein alter Mann in weißem Anzug und Hut (Mat Eks Bruder Niklas) schiebt eine silbrige Badewanne von der Seite herein, beginnt sie mit Wasser zu füllen, ganz langsam, das er per Eimer von der linken Bühnenseite holt. Tänzer in schwarzen Kurztrainingsanzügen mit Kapuze verteilen sich auf der Fläche, unten nimmt wieder das Orchester Platz, das gleich Jonathan Darlington durch einen schnell genommene Bolero führen wird.

Und wieder unterläuft Mats Ek alle hochgespannten Erwartungen. Die Musik wiegt sich endpunktgenau in ihren berühmten, crescendierenden Instrumentalvariationen des immer gleichen Themas, das zunächst die ganze Truppe vorführt, 21 meist sehr junge Tänzerinnen und Tänzer. Locker, nicht sehr akademisch, wie improvisiert. Dann aber ist immer nur einer, zwei, ein kleines Grüppchen, nur noch einmal das ganze Corps zu sehen. Der populären Partitur wird so durch animalisch anmutende Bewegung Widerstand geleistet, die Konvention wird nicht erfüllt.

Langsam senken sich insgesamt elf verbogene Strahlrohre nacheinander aus dem Schnürboden – die sich freilich als menschliche Profile erweisen. Marie-Louise Ekman und Peter Freiij haben sie geschaffen, die optisch für den ganzen Dreiteiler zuständig sind. Und wie als Kontrapunkt schleppt dazwischen der sichtlich alte Niklas Ek, seinen Zinkwassereimer über die Diagonale zum Bade. Am Ende wird er von den Tänzern auch weggeschubst- und getragen. Er kommt immer wieder. Bis er sich zum letzten Ton – natürlich –  genussvoll in die Wanne plumpsen lässt.

Die ist voll – und das Haus jubelt. Mats Ek is back. Er kann es immer noch. Wie schön ist das! Bitte, mehr.

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„Orlando“ als fragmentisiertes Arien-Kaleidoskop: Der Choreograf Jörn Weinöhl debütiert in Darmstadt mit einem ungewöhnlichen Händel als Opernregisseur

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Nein, es ist nicht so wie sonst. Denn die – nach einer tiefschürfend schwarzen Claus-Guth-Exegese für das Theater an der Wien – jüngste Auseinandersetzung mit Georg Friedrich Händels verrückt rasender opera seria „Orlando“ hat ein Choreograf zu verantworten, der im Musiktheater gleich sehr souverän debütiert: Jörg Weinöhl. Der 49-Jährige hat lange Blockflöte gespielt, bevor er spätberufen an der John-Cranko-Schule Ballett studierte, als Tänzer, Solist und Choreograf am Stuttgarter Ballett und dann prägend bei Martin Schläpfer in Bern, Mainz und Düsseldorf reüssierte. Weinöhl hörte, auch verletzungsbedingt, 2013 auf und war ab 2015 für drei Jahre Ballettchef in Graz. Dort hat er schon versucht, spartenübergreifend zu arbeiten, Texte und Biografien in seine Werke einfließen zu lassen. Eigentlich sollte jetzt, die Zwänge eines Dreispartenhauses mit Tanz als Appendix war ihm bald zu eng, ein Sabbatical zur Neuorientierung folgen. Doch wurde er kurzfristig vom Staatstheater Darmstadt angefragt, ob er den schon terminierten „Orlando“ übernehmen könne. Jörg Weinöhl wollte und konnte. Zudem brachte er als Opernnovize prominente und professionelle Mitstreiter mit: die Dramaturgin Yvonne Gebauer, die mit Guth, Christof Loy und Hans Neuenfels arbeitet, sowie den bildenden Künstler Philipp Fürhofer, der schon für Stefan Herheim, Kaspar Holten und Stefan Märki tätig war. Das Ergebnis ist so ungewöhnlich wie originell. Dieses Team begreift Barockoper nicht ein weiteres Mal weder als ironiegetränkte Satire noch als hyperrealistische Story mit Dacapo-Arien. Im dafür bestens geeigneten Kleinen Haus gibt es auch keine historisch informierte Rekonstruktionsannäherung und keine wirklich psychologische Deutung. Man hat sich die Freiheit genommen, erheblich zu kürzen und auch in die Werkgestalt einzugreifen. Dafür breitet sich über etwas mehr als zwei Spielstunden ein optisch attraktiver Bewusstseinsstrom aus, kaleidoskopisch gedreht und gebrochen, auf mehreren Bedeutungsebenen, attraktiv und abstrus, überraschend und eigenwillig. Höchstens kann man dem fragil revueartigen Bildtonbewegungsgebilde vorwerfen, dass es allzu sehr in seinen sich reihenden Einzelszenen verharrt und man zumindest die schematische Handlung gelesen haben sollte.

Fotos: Staatstheater Darmstadt

Doch so wie diese Opernform nie für eine plane, ungebrochen konzentrierte Begutachtung im abgedunkelten Zuschauerraum gedacht war, so nimmt sich die Regie die Freiheit, zu filtern, zu exzerpieren und zu betonen. Herausgekommen ist ein vielschichtiger Versuch über Orlando, den rasenden Roland, der gebrochen aus dem Krieg heimkehrt, immer noch in Angelica verliebt. Die aber hat sich längst Medoro geangelt. Dafür macht sich Dorinda Hoffnung auf Orlando. Und der Magier Zoroastro fummelt irgendwie dazwischen rum, mehr Unheil als Gutes tuend. Weinöhl zeigt dieses Beziehungsgeflecht fragmentarisch aufgebrochen und als subtile Collage, bisweilen fehlen den Arien sogar die da-capo-Teile.  

Es beginnt schon mit mehreren Einstiegen, einer ist die Storyline von Frau H. ,die im echten Opernleben Elisabeth Hornung heißt und just in dieser letzten Vorstellung nach 30-jähriger Ensemblezugehörigkeit ihren Abschiedsabend als Kammersängerin feiert. Deshalb bekommt sie beim Endapplaus von ihren Kollegen einen Calla-Topf. Vorher aber saß sie als altmodische Omi mit Löckchenperücke im Schneiderkostüm vor einem Transistorradio und hörte „Orlando“. Dazu gab es Likörchen. Die Radioklänge gingen dann über in das Liveorchester (auf modernen Instrumenten plus Schlagwerk für die Geräusche und Tierstimmenimitationen) unter dem brav taktierenden, dann wieder beherzt zupackenden Michael Nündel.

Aber so wie immer mehr der zerrissene, traumatisierte, vermutlich bipolar zweigeteilte Roland (der intensive Countertenor Owen Willetts und der geschmeidige Tänzer João Pedro de Paula) sich in den Fokus schiebt, so taucht auch Frau H. ein ins gar nicht so ferne Singgeschehen. Bis sie am Ende des ersten Teils selbst eine Arie von Caldara singt – für die echte Elisabeth Hornung ein biographisch wichtiger Klangmosaikstein.

Orlando, von seinen zwei Ichs hin- und hergezogen, versucht sich Klarheit zu verschaffen und verstrickt sich nur weiter in das Gespinst seiner Wahnvorstellungen. Erst irrt er nur zwischen unterschiedlichen Stühlen herum, ge- und verfolgt von zwei aparten Ballettdämchen in wechselnder Couture, ironische Sidekicks und Albtraum-Gelichter. Dann lässt Philipp Fürhofer die Vorhänge von der Stange, wallende Courtinen, die luftige Räume schaffen, helle Stoffe mit nackt weiblichen Extremitäten beprintet, die Durchblicke eröffnen, verhüllen und in die man sich wie ein einen Kokon wickeln kann. Fluide Fluchten, ähnlich der versatilen, stetig neue Perspektiven andeutenden, anbietenden Erzählweise, die die künstliche Barockopernstilistik neu aufbereitet.

Das ist so schön wie intelligent gemacht. Angelica (mit Allüre: Julia Giebel) und Medoro (Stephan Krautwald spielt, Judith Gautier singt von der Seite) haben sich in ihrem blauen Business Outfit schon optisch angenähert. Zorastro (Johannes Seokhoon Moon) ist ein verpeilter Star-Wars-Fan, der Himmelskarten studiert. Er verwirrt höchstens die schüchterne Dorinda (jungmädchenfiepend: Jula Grutzka), eine Brillenschlange im fiesen Strickpullikleid, die er mit seinen Zaubertricks umgarnt, schließlich in eine glitzrige Märchen-Cinderella verwandelt. Aber nur für kurze Zeit: bald ist sie wieder graue Maus.

Irgendwie kämpft hier jeder mit seiner Identität, inklusive der fiktiven Zuhörerin am Radio. Am Ende, der Wahnsinn ist gebannt, ein wenig Bach wurde zudem vertanzt, die Bühnenwelt ist aber immer noch nicht schöner, wird ein fröhliches Finale zumindest behauptet: mit festlichen Gardinen wie im Barocktheater und „Reise nach Jerusalem“-Stühlerücken. Doch Orlando ist sich nicht wirklich bei sich angekommen. Aber die offene, durchaus moderne Struktur dieser Barockoper beim Zuschauer.

Der Beitrag „Orlando“ als fragmentisiertes Arien-Kaleidoskop: Der Choreograf Jörn Weinöhl debütiert in Darmstadt mit einem ungewöhnlichen Händel als Opernregisseur erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

Der Richard-Strauss-Gipfel: Schon im zweiten Jahr unter Alexander Liebreich hat sich das Garmischer Festival gewandelt – bis zur Zugspitze hinauf

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Wie aktuell ist Richard Strauss noch? Fragen, die sich stellen, während ich durch das blaue, in der Sonne glänzende Werdenfelser Land gen Garmisch-Partenkirchen fahre, noch die rauschhaften Klänge, aber auch die verstörende Ikonographie der Münchner „Salome“ im Ohr. Oberbayern, irgendwie ist das ja Richard-Strauss-Kernland, zwischen dem Nationaltheater seiner Geburtsstadt, wo ja immerhin noch zwei später Opern („Friedenstag“, „Capriccio“) uraufgeführt wurden, und der Marktgemeinde, wo er eben von diesen „Salome“-Einnahmen 2008 ein schönes Landhaus zum Komponieren und inspiriert Werden bezog; repräsentiert hat er dann später in seinem feudalen Wiener Schlössl am Belvedere, heute Residenz des niederländischen Botschafters. Hier gehen dieses Wochenende das im letzten Sommer von dem einfallsvollen Alexander Liebreich neu aufgesetzte Richard-Strauss-Festival zu Ende, irgendwie ein lokales Festspielschmerzenskind, seit 30 Jahren schon. Und dort soll, ich höre immer noch Marlis Petersens so klarglühendes Münchner Salome-Debüt, erstmals Asmik Grigorian, die Salome-Sensation vom letzten Salzburg-Sommer, sich an Strauss-Orchesterliedern ausprobieren, diesen späten Sopranklangkulinarika des frühen 20. Jahrhunderts. Und das vor der – danke, Hoch Ulla! – in abklingender Saharahitze glühenden Fassade von Kloster Ettal. Endlich mal ein deutsches Open Air Konzert wie gemalt und wie in Italien.

Denn Regisseuren, Krszysztof Warlikowski insbesondere, langt also „Salome“ nicht mehr als Fin-de-Siecle-Girlie, das sich mit einem morbiden Todeskusswunsch gegen seine dem Untergang verschriebene Familie und Gesellschaft stellt. Da muss mindestens, als ganz großes Trauma und Tabu, noch die Shoah mit dazu; so wie übrigens auch schon im von der Strauss-Familie verbotenen Ken-Russell-BBC-Film „Dance of the seven vails“, auf den sich Krzysztof Warlikowski in seinen Programmheftausführungen seltsamerweise gar nicht bezieht. Und Alexander Liebreich eckt an, weil der versatile, weltoffenen Dirigent aus Regensburg das Strauss-Festival auch für andere Komponisten öffnet. Für Mozart, Bach, Beethoven oder Dvorak, Mendelssohn und Szymanowsky alles Meister, denen sich Strauss eng verbunden fühlte, die er als bedeutender, weltreisender Dirigent oft genug aufführte.

Warum nicht? Die alternde Strauss-Gemeinde, mit ihrem inoffiziellen Mittelpunkt, dem inzwischen 86-jährigen Enkel Christian, der in der Reihe Sieben im stimmungsvoll in letzten Sonnenstrahlen badenden Ettaler Klosterhof, ein wenig Hof hält, kann für Strauss-Orchesterkonzerte an besser Orte fahren. Mit München kann man sowieso nicht konkurrieren. Aber nach dem Abgang von Brigitte Fassbaender, die über acht Leitungsjahre den Schwerpunkt in Richtung Gesang, Nachwuchs und Pädagogik verschoben und damit bereits ein paar Weichen weg von der her so schmerzlich vermissten, aber kaum durchführbaren Oper gestellt hatte, gab es zwei Möglichkeiten: aufhören oder ändern.

Die Gemeinde, aber auch der Freistaat, haben es dann doch noch einmal wissen wollen, der bestens vernetzte Alexander Liebreich, der beim Münchner Kammerorchester wie in Kattowitz einen sehr guten Chefjob gemacht hat, bekam mehr Geld, von Stadt und Land, eine Million als Ziel ist noch nicht erreicht, und einen festen Posten im Staatshauhalt hätte man halt gern. Dabei hat sich das bisweilen langweilige, austauschbare, nur nach Stars schielende Festival schon in diesen zwei Liebreich-Sommern zum Positiven verändert.

„Ich wollte Partizipation, den Gang in die Natur und die Öffnung nach Europa,“  sagt der Chef, noch verschwitzt vom Dirigat, im barocken Dresden-Zimmer des Klosters, wo auf etwas primitiv gepinselten Stadtansichten nicht nur die katholische Hofkirche, sondern in der linken Ecke auch die evangelische Frauenkirchen zu sehen sind. „Das habe ich jetzt schon erreicht, nun geht es auch noch darum, Richard Strauss in all seinen Facetten vorzuführen, nicht nur den positiven“, funkelt er erschöpft, aber auch kampfeslustig.

Das Strauss-Festival hat sich endlich, auch wenn das vor Ort noch nicht so wahrgenommen wird, viel stärker mit Garmisch-Partenkirchen, mit seinem Tal, den Bergen, der Region verknüpft, wird dadurch endlich unverwechselbar. Was eigentlich ziemlich einfach ist, Liebreichs Rezepte sind nicht so neu, anderswo schon erprobt, für hier jedoch noch eine kleine Revolte. Die Künstler aber, die er einlud, die sagten gleich zu, und kamen gerne.

Mit Orchestermusik wird jetzt hausiert, die beiden Wochenenden der zehn Festspieltage haben zum Auftakt die Camerata Salzburg unter dem auch oboespielenden François Leleux mit dem Pianisten Saleem Ashkar im Werdenfels Gymnasium bestückt, die letztes Jahr erfolgreich gestarteten Freiluftkonzerte im traumschönen, gastfreundlichen Kloster Ettal (nur die Kirche müsste noch offen sein für die Konzertgäste!) teilte sich Liebreich mit Cornelius Meister (samt Jean-Guihen Queyras als Cello-Quichote wie -Pansa) am Pult des Radio Sinfonieorchester Prag. Ulrich Matthes und Christian Brückner lasen, Michael Wollny spielte Jazz – alle zum Festivalthema „Poesie“. Die Nachwuchsreihe Rising Stars sowie Kammerkonzerte mit Golda Schultz und Arabella Steinbacher waren im neuhinzugekommen Partner Schloss Elmau loziert; unter dem Motto „Sommernachtstraum“ tanzte die Jugend (Liebreich ist mit einer Ex-Tänzerin verheiratet); Dame Felicity Lott gab eine Vokalmeisterklasse; man lud zum Kamingespräch mit Helmut Lachenmann und zu Musikwanderungen u.a. durch die Partnachklamm mit Bergführer Alois und Klangüberraschungen.

Und zweimal ist man auch Garmisch aufs Dach gestiegen:  Der 2962. Zugspitz-Höhenmeter war Schauplatz einer Gipfelklaviermusikstunde samt Adlerflugvorführung und nachfolgendem Dinner mit Piotr Anderszewski als „Top of Germany“ – während auf den Hausbergen weiter unten die Johannifeuer brannten.  Sehr stimmungsvoll und bewegend, fanden alle, die dabei gewesen sind. Und auf dem Wank haben das Perkussionist/Bratschistin-Pärchen Alexei Gerassimez und Hiyoli Togawa ordentlich eingeheizt. „Top music at top locations“, auch für diesen Werbespruch ist sich Alexander Liebreich nicht zu schade. Und er stimmt sogar.

Er selbst, der einen locker gehändelte Drei-Jahres-Absichtserklärung als Festivalleiter abgeschlossen hat, sprüht vor Ideen und möglichen Verbindungen, hält sich aber in seinem Auftritten zurück. Das Thema Strauss ist für ihn noch lange nicht ausgegessen. Ende des Jahres laufen die Werkrechte aus, dann kann ihm sowieso niemand mehr reinreden, die Familie, im Ort nicht nur freundlich beäugt, hat es übrigens nie getan. Nächstes Jahr soll „humanitas“ das Thema sein. Wieder doppeldeutig, eben auch politisch zu verstehen, so wie „poesie“ die Lyrik der Strauss-Lieder ebenso wie die Aura der Natur meinte. Dann sind die Bamberger Sinfoniker unter ihrem tollen Chef Jakub Hrusa zu Gast, auch eine Institution des Bayerischen Staates, passt also. Dazu kommt, wie schon 2018, die Berliner Akademie für Alte Musik, diesmal mit einem historisch informierten, halbszenischen „Fidelio“. Und Marlis Petersen wird singen!

Vorher, im Klosterhof aber ging es schon einigermaßen weltläufig zu. Die Benediktiner haben Lillet Wild Berry, marinierte Spargelspitzen und Glasnudelsalat im Imbissangebot. Und das auftaktende „Till Eulenspiegel“ wird von einer tschechischen Hornistin geblasen, aufmüpfig grell (obwohl die Verstärkung der auch für das Münchner Odeonsplatz-Open-Air zuständigen Crew selbst weit vorn ziemlich natürlich klingt), aufregend mutig und immer am Rand des Kippelns wie Kieksens. Dann kommt die Litauerin Asmik Grigorian, zurückhaltend lächelnd, bescheiden, im schmucklos Schwarz. Sie singt, umspielt von einem tschilpenden Schwalben-Schwarm, der im Hof seine Kapriolen schlägt, fünf der bekannteste Strauss-Lieder, dunkel glühend, ruhig, ohne große Allüre, in etwas schwergängigem Deutsch. Um sich dann jubelnd frei zu entfalten in Dvořáks Lied an den Mond, das diese Rusalka sogar an den echten Himmelstrabanten richten kann.

Nach der Pause, es ist fast dunkel, die Stechmücken haben ein Fest, Antonín Dvořáks 8. Sinfonie: für das klangpralle Rundfunk Sinfonieorchester Prag, dem Liebreich seit dieser Saison vorsteht und mit dem er erst fünf Abbokonzerte absolviert hat, ein böhmisches Heimspiel in Bayern. Für den neuen Chef aber der erste gemeinsame Dvořák. Denn man nicht groß proben wollte, auf dessen Impulse man aber jetzt durchaus eingeht. Und wieder erweist sich das Stück als ideales Werk, um ein Orchester griffig in Szene setzen zu können – durchaus plakativ, unmittelbar, rhapsodisch mit den Formmodellen spielend, die Farbpalette einfallsreich auskostend. Trotz des markant elegischen g-moll-Themas explodiert lebens- und farbenfrohe Musik. Das zieht sich durch das heiter melancholiegetränkte Adagio, den sanft beschwingten, ruckelnden Walzer des Allegretto grazioso Scherzos. Rasant mündet das in die Fanfaren der Finale-Variationen.

Europäisch kunterbunt. Schön, Richard Strauss so eingemeindet zu hören – und wohlmöglich auch neu entdecken zu lernen, jenseits der abgetretenen, dafür bisweilen auch echten Waldboden-Pfade. Garmisch macht es möglich! Und sollte diesen sinnträchtigen Weg weitergehen.

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Er ist nach 20 Jahren wieder da: Peter Konwitschnys opulente, aber letztlich brave „Hugenotten“ an der Dresdner Semperoper

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Die Dresdner Semperoper unter ihrem neuen Intendanten Peter Theiler hat kurz vor dem Ende von dessen erster Spielzeit noch einmal große aufgefahren: Unter vier Stunden kommt man aus der Premiere von Giacomo Meyerbeers Grand Opéra „Die Hugenotten“ nicht heraus. Und dafür setzte sich nach 20 Jahren sogar Altprovokateur Peter Konwitschny wieder an dortige Regiepult. Ende 1999 hatte es mit dem damaligen Intendanten Christoph Albrecht Zoff um die in die Schützengräben des ersten Weltkriegs verlegte, gar nicht mehr so operettige „Csardasfürstin“ gegeben, kopflos herumrennende Soldaten inklusive. Der Urheberrechtstreit endete vor Gericht. Danach wollte der damalige Regiegroßmeister nichts mehr mit der Dresdner Semperoper zu tun haben. Obwohl er dort vorher viele Erfolge gefeiert hatte. Die er später in Hamburg mit Ingo Metzmacher weiterführte. Dem Schweizer Peter Theiler gelang es jetzt mit diplomatischem Intendantengeschick, den 74-Jährigen, der inzwischen auch deutlich kleinere Inszenierungsbrötchen bäckt, an die Elbe zurückzuholen.Eigentlich sollten die 1836 als nie dagewesene Sensation gefeierten „Hugenotten“ mit der Pariser Oper koproduziert werden. Opulenz und Blutdurst, Glaubenskampf und Liebesleidenschaft, alles vor dem Hintergrund der roten Hochzeit der Operngeschichte, dem Massenmord an den französischen Protestanten in der Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August 1572. Königin Katharina von Medici hatte das Massaker anlässlich der politischen Verheiratung ihre Tochter Margarethe mit dem Protestanten Heinrich von Navarra vermutlich selbst befohlen, dessen in Paris feiernde Glaubensgenossen wurden anschließend von den Katholiken niedergemetztelt. Darunter ist auch ein fiktives Liebespaar, der Protestant Raoul und die Katholikin Valentine, die beide von der Königin protegiert werden. Die Pariser Oper war freilich längst wieder ausgestiegen, zu groß waren den Verantwortlichen die Kürzungen und Umstellungen, die Peter Konwitschny an dem  Vierstünder vornahm, aus dem jetzt mindestens 60, nicht immer subtil geschnittene Minuten fehlen. Das holpert zum Teil sehr in der farbenreichen Partitur, die Stefan Soltesz, auch damals beim Kálmán Konvitschnys Partner in Operetta Crime, am Pult der ordentlich spielenden Staatkapelle routiniert pinselt.

Fotos: Ludwig Olah

Vor allem der fünfte Akt, der nun im einsamen Solo eines auf der Bühne zwischen Leichenbergen stehenden Bassklarinettisten vertröpfelt, ist kaum mehr zu erkennen. Auch Katharina von Medici, die im AfD-blauen Hütchen als einzige zeitgenössisch gekleidete Figur die Schwerter für den Mord weiht, kam bisher eigentlich gar nicht vor. Angeblich soll es sich aber um eine Originalszene von Meyerbeer handeln, aus Zensurgründen seien die Königinmutter-Worte Valentines unversöhnlichem, ebenfalls erfundenen Vater St. Bris in den Mund gelegt worden. Darüber war bisher freilich in der Meyerbeer-Forschung nichts zu hören. Also doch eine der bekannten Konwitschny-Eigenwiligkeiten?

Drei lange, bisweilen französisch frivole Akte braucht der Regisseur, bis er langsam auf Betriebstemperatur kommt. Johannes Leiacker hat ihm dafür den perspektivisch sich verengenden Raum von Leonardo da Vincis „Abendmahl“ kopiert, der immer dunkler und abstrakter, schließlich zur nur noch feuerrot flackernden Todeszelle wird. Das Teilen des Brotes als Akt der christlichen Menschenliebe wird dreimal an einer Tafel nachgestellt, dann regiert nur noch Gewalt und Mord. Kostbar wallen dazu kontrastiv Samt und Seide in Renaissanceschnitten bei den blutrot gekleideten Katholiken, streng schwarz verhüllt sind die Protestanten.

Schwarzweiß ist auch Konwitschnys Personenführung, überraschend, sehr politisch oder gar aktuell wird er dabei nicht – trotz seines immer wieder aufblitzenden handwerklichen Könnens in einem weitgehend historistisch gehandhabten Stück um Engstirnigkeit, Fanatismus, unversöhnliche religiöse und politische Fraktionen. Gerade in Dresden hätte man da mehr Kante erwartet. Dafür erfreuen die niveauvoll zusammengestellten Gesangssolisten – allen voran John Osborns höhenstarker Raoul de Nangis, der freilich um seine letzte Arie gebracht wurde. John Relyea ist dessen bassgewandter Diener. Jennifer Rowley steigert sich mit leuchtendem Spintosopran als Valentine im großen Duett des vierten Aktes. Venera Gimadieva ist eine koloraturgiggelnde Königin von Navarra. Weniger als sonst zu singen hat leider auch der superbe Mezzo Stepanka Pucalkova als mit Lufballos flirtender Page Urbain. Sonderlob auch dem Männerchor. Einige Buhs bekam der für frühere Regiezuchtmeister-Verhältnisse ziemlich brave Peter Konwitschny am Ende dann aber doch ab.

Foto: Andreas Mühe

Denn insgesamt war das wirklich Kontroverse an dieser Produktion nur das Plakat, das schon vorher für Diskurs sorgte: Starfotograf Andreas Mühe hatte die Ultras von Dynamo Dresden als gelbschwarze Fanatiker im Zuschauerraum der Semperoper spektakulär in Szene gesetzt. Diese ambivalente Sprengkraftraft freilich haben nun die szenischen „Hugenotten“ nicht. Schade, noch in seiner Genter „Jüdin“ hat Konwitschny mehr Pranke gezeigt. Und die nächste Grand Opéra samt Volksaufstand naht schon nächste Spielzeit: „Die Stumme von Portici“ in Dortmund.

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Die Gesellschaft ist aus den Operettenfugen: Laurent Pellys präzis-komischer „Barbe-Bleue“ in Lyon adelt das Offenbach-Jahr

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Es zahlt sich eben doch aus, wenn man Offenbach-Erfahrung hat. So wie jetzt an der Opéra National de Lyon, wo Komödien-Spezialist Laurent Pelly mit dem „Barbe-Bleue“ seine mindestens elfte Inszenierung seit 1997 im Namen dieses Komponisten vorgelegt hat. Hier offeriert nicht nur der gern auch ernste Noch-Intendant Serge Dorny alljährlich ein Herz für das Leichte, intelligent Unterhaltende, hier haben auch das Orchester und der Chor längst ihren Offenbach-Stil gefunden: spritzig, pikant, wortdeutlich, sehr beweglich, aber eben ohne Übertreibungen gleichsam trocken, wie nebenbei – das krasse Gegenteil zum knatternden Outrieren und dem albernen Dialoggeschrei kürzlich in „Madame Favart“ an der Pariser Opéra-Comique. Und Pelly bringt das Kunststück fertig, gleichzeitig witzig und leicht, aber eben auch ernsthaft und düster zu sein. Schließlich ist die in Frankreich durch den Märchensammler Charles Perrault besonders populäre Mär vom Ritter Blaubart, der immer sehr schnell seien Ehefrauen entsorgt und bereits bei Nummer sechs angelangt ist, ein durchaus ambivalentes Vergnügen. Depperte Dörfler, eine aufstiegssüchtige Kuhmagd, die mit ihren Reizen nicht geizt, intriganten Hofschranzen, ein seniler König und ein mörderischer Landjunker  – willkommen in der verrotteten Welt des zweiten Kaiserreichs, der der Köln Jakob Offenbach wie kein zweiter klangfeixend auf die Finger haute.

Fotos: Opéra de Lyon/Stofleth

Bunt, frivol und unwiderstehlich moussiert bereits die Ouvertüre, der der junge, souveräne Michele Spotti den rasch wechselnden Takt vorgibt. Genießerisch schwelgt der in den Rubati und lässt die Rhythmen rotieren. Vor allem aber kann er wunderbare Steigerungen. Es öffnet sich, bis hin zum Misthaufen, ein tristes, graustichiges Dorf, links ramponierte Scheune, recht eine schiefe Wohnhütte, in der Mitte eine Bushaltestelle, an der nichts hält, um in die große, weite Welt zu entkommen. Bühnenbildnerin Chantal Thomas bricht das freilich, weil hinten Lokalzeitungswände stehen, die vorher genau von diesem Dorf  berichteten, indem bereits einige Jungfrauen abgängig sind. Sein dunkles Geheimnis hat auch einen Namen: Ritter Blaubart.   

Der kommt ein wenig später, in der schwarzen Gangsterluxuslimousine, ein Typ wie der Clanchef einer Libanesenfamilie. Yann Beuron, früher der jugendliche Offenbach-Liebhaber, gibt ihn grimmig und kantig, sein einst lieblicher Tenor hat inzwischen einige Charakterecken. In der so rustikalen wie üppigen Boulotte („C’est un Rubens“) hat er schnell seine Meisterin – und Gattin Nummer Sechs gefunden. Héloïse Mas singt sie kratzbürstig wie sinnlich mit quickem Mezzo, zieht dabei nochlant die ganze Zuschaueraufmerksamkeit auf sich. Und Graf Oscar, der Minister des Königs (köstliche Knallcharge: Thibault de Damas) hat inzwischen in der landwirtschaftlichen Angestellten Fleurette (sopranfein: Jennifer Courcier) seine verlorengeglaubte Prinzessin gefunden, die freilich gleich noch den täppischen Verlobten Saphir (verkräht: Carl Ghazarossian) mitbringt.

So spult sich das präzise zwischen Naturalismus und Stilisierung ab, Offenbachs feingewirkte Partitur gibt genau die Stimmung vor zwischen sentimental und irrwitzig komisch. Und so geht es schnell weiter ins Schloss, in seinem steifen Klassizismus französischen Regierungssitzen nicht unähnlich. König Bobeche (eine fiese Karikatur mit rotem Trump-Schlips: Christophe Mortagne) muss hier von allen, an erster Stelle von der pompösen Gattin (Aline Martin) in Schach gehalten werden, damit er nicht zu viel politischen Unsinn stiftet. Es hat sich im Laufe der Jahrhunderte wenig geändert. Und alle stolpern und plumpsen sie über den kreischbunten Teppich, von rechts bedroht von Klatschmagazinen als Seitenkulissen aus den bereits die Paparazzi-Kamerablitzlichter zucken.

Und dann gibt es noch, immer die steile Treppe runter, die gruselige Anatomie des Alchemisten Popolani (ein hinterhältig-bedauernswertes Helfershelferwürstchen: Christophe Gay), wo unter funzeligem Laborlicht jeweils die Frauen entsorgt wurden. Nicht ganz: Popolani hatte sie nur betäubt, jetzt schlafen sie im Separée hinter den Leichenkammern und machen ihm Kummer, weil ihm ihre Liebesbezeugungen langsam zu viel werden: Auch ein Mörder ist eben nur ein Mensch! Das muss selbst die vom Ableben bedrohte, weiterhin nymphomane Boulotte feststellen.

Das gesamte Ensemble treibt diesen Irrsinn, bei dem sich Blaubart noch dazwischenschieben will, um sich auch noch die Prinzessin zu schnappen,  gekonnt auf die Singspitze, das Orchester befeuert solches. Und Pelly behält zwischen grimmigen Momente und losgelassenem Operettenspaß immer alle Fäden in der Hand. Bis endlich Blaubart doch Boulotte bekommt und aushalten muss. Die fünf anderen, nach Streicheleinheiten dürstenden Ex-Gattinnen dürfte sich mit den vom König beiseite geschafften Galanen der König trösten. Genial. In Deutschland hat diese ziemlich aktuelle Mittelaltermär nie so Fuß fassen können wie Offenbachs Antike-Parodien. Zu scher wog wohl das Walter Felsenstein-Vorbild, dessen Musterinszenierung samt übertriebenen Ritterdekor sich vier Jahrzehnte an der Komischen Oper hielt, zuletzt haben sich in Cottbus Steffen Piontek in Cottbus und neuerlich an der Komischen Oper Stefan Herheim (schnell wieder abgesetzt!) daran abgearbeitet.

In Lyon aber wird das  alles sängerisch luxuriös ausgebreitet und herrlich musiziert. Die Kollektive steigern ich gegenseitig zu surrealer Anarchie wie Fast-Aushebelung aller gesellschaftlichen Schichten. Und das Publikum geht voll ab. Heller Jubel. So kommt das Jubiläumsjahr zum 200. Offenbach-Geburtstag in der ersten Spielzeithälfte zu einem schönen Saisonfinale. Und in Salzburg wartet schon Barrie Kosky mit dem „Orpheus“. Für die München-Übernahme von Serge Dorny kann man allerdings nur hoffen, dass er sich sein großes Herz für musikalische Späße auch dort bewahrt. Und so wohlmöglich neue Staatsopernakzente setzt?

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Tosca auf dem Sunset Boulevard: Puccinis Primadonnen-Reißer in Aix als feuchter Traum der Opera Queen

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Das hätte sich selbst die größte Operntunte nicht in ihrer feuchtesten Träumen erdacht: gleich zwei Toscas auf einer Musiktheaterbühne! Und dazu die Kostüme der Callas, die Tebaldi und die Price im Programmheft, Kabaiwanska und Crespin im Video. Und Catherine Malfitano, immer wieder! Als die bedeutende Floria, die sie war, aber eben auch als heute ältere, von ihren Erinnerungen zehrende Dame und als anonyme Primadonna, die hier während eine Dokumentation über ihre Karriere eine ikonographische Rolle rekreiert, vitalisiert, immer mehr in und hinter ihr verschwindet. Zudem Erinnerungen an zwei klassische, ebenfalls längst super-campe Hollywood-Dekonstruktionen, Bette Davis als alternde Schauspielerin in „All About Eve“ und Gloria Swanson als gewesener Stummfilmstar Norma (!) Desmond in „Sunset Boulevard“, die spielen natürlich auch mit. Ist dieser erste Puccini im 71. Festival d’Aix-en-Provence-Jahr als Eröffnung der Ära Pierre Audi also programmatisch? Hoffentlich! Denn seit 1998 Stéphane Lissner dort das Zepter übernahm, hat sich unter ihm und seinem Nachfolger Bernard Foccroulle dieses französisch charmante Midi-Musikfest von seinen Anfängen weit entfernt. Wurde hier einst nur Mozart, Barock, Belcanto und ein wenig Moderne gespielt, immer eher mittelgroß, mit Stars und der honigfarbenen Sandsteinwand des Palais d’Archevêché als rahmender Kulisse, so ist auch hier der große Koproduktionszirkus mit den oft gleichen Regienahmen eingezogen. Audi, über 30 Jahre Chef der Dutch National Opera (wo auch die Malfitano Tosca sang) steht dafür, hat diese ebenfalls mit-gemacht, aber er sucht daneben andere Repertoirewege. Wie zum Beispiel dieser Versuch eines „Tosca“-Neuansatzes aus dem Geist ihres nostalgisch-sentimentalen Spielplanstellenwerts, erdacht vom vorwiegend als Filmregisseur arbeitenden Christophe Honoré: La Diva is ready for her Close Up!

Fotos: Jean Louis Fernandez

Eine Kathedrale der Erinnerung. In dem der Star von Gestern jetzt einem Comeback  entgegenhechelt. Alban Ho Van hat ein Appartement als Melomanen-Memorabilia-Schrein gebaut. Alles für die im Seventies-Sessel thronende Prima Donna. Hinten ist freilich – Zitate zuhauf – der originale Aix-Erzbischofsbrunnen als Patio-Versatzstück im New Yorker Appartement zu sehen. La Malfitano ziert sich noch, alles hat ihrem Willen zu gehorchen, auch wenn jetzt ihr junger Butler (Jean-Gabriel Saint Martin) die Meute hereinlässt, um sie für die Filmaufnahmen noch einmal der gierigen Welt zum Fraß vorzuwerfen. Sie will es ja auch! Es gibt verwirrend viele Gleichzeitigkeiten, Stück und Metaebene kommen samt Chorkindern und Nebenrollensängern in Shorts, die duch diese Opernprobe/Master Class wuseln, noch nicht wirklich in Einklang. Selbst bei dem schleppenden Daniele Rustioni und dem Orchestre de l’Opéra de Lyon (wohin die Produktion weiterwandert) ruckelt es vernehmlich.

Genüsslich spielt sich die Diva bei der Demonstration für die Kameras in den Vordergrund, mag auch nach ihrem „Mario! Mario!“-Auftritt das Feld nicht der eigentlichen Interpretin überlassen. Und die, Angel Blue in Jeans und Hoodie (Kostüme: Olivier Bériot) hat es natürlich doppelt schwer, gegen die immer noch charismatische, ihren Platz einfordernde Malfitano und gegen die Galerie übermächtiger Vorgängerinnen, die hier raum- und seelenfüllend beschworen werden.  Doch ausgerechnet im „Vissi d’arte“ schafft sie das dann doch sehr berührend.

Denn jetzt ist sie wirklich Opfer eines MeToo-Übergriffs geworden, nicht nur durch Scarpia im Stück, sondern auch durch die sich langweilenden Männer in der Bühnenkitchinette, die freilich inzwischen am Majordomus ihre unerfüllten Lüste auslassen. Der freilich wird später auch zum bezahlten Call Boy der sich nach menschlicher Nähe verzehrenden Diva. So wie sie vorher schon den Tenor im Bett hatte, ohne dass etwas passiert, weil sich der, Joseph Calleja spielt ihn erstaunlich engagiert und singt nach rauem Beginn mit fester Attacke und weichem Passagio, in Alpträumen an seine Folter erinnert, die nur im Kopf stattfindet.

Zwei Bühnenrealitäten verwischen sich hier, dazu kommen die gefakten Dokumentarfilmer und die echten Fernsehkameras, realer Regen, der die Vorstellung anfangs etwas verspätet und die Provence-Sterne, die im dritten Akt wolkenlos leuchten, wenn neben einem Engelsburg-Modell mit Kerzen, so wie sie am Ende des zweiten Aktes die Prima Donna nicht traditionell um den toten Scarpia, sondern um sich selbst inszeniert, die Malfitano auch noch den Hirtenknaben spielt und singt. Die interessant gebrochene Stimme besitzt plötzlich höchste Wahrheit.

So wie Angel Blue in ihrem „Tosca“-Tune. Das der Schönheit geweihte Leben der apolitischen Diva, nun ist es auch ein Offenbarungs- und Befreiungsmoment der Sängerin, die als Bühnenfigur auf einer weitere Bedeutungsebene gedemütigt wurde. Sie liegt heulend und gekrümmt am Boden, auf den geschlossenen Seitenteilen des Wohnzimmerns flimmern stumm die Callas und die Kabaivanska als Wiedergängerinnen. Doch Angel Blue singt beherzt und mit sich aufschwingendem Ton gegen die Legenden an. Kreiert ihre ganz eigene Tosca, auch wenn sie verschwindet und im Zeffirelli-Kostüm der Callas wiederauftritt. Solche Kleiderfetische, Salome mit Jochanaan-Kopf, Butterflys Selbstmord-Kimono samt Perücke, das blutige „Lucia di Lammermoor“-Hochzeitskleid, breitet der ebenfalls emotional aufgewühlte Assistent auf der Couch aus. „Poussières d’Amour“ hätte der schwule Opernverrückte Werner Schroeter diese Nostalgie-Fetische genannt.

Doch im dritten Akt driftet dieses Nachdenken über „Tosca“ noch weiter ab. Jetzt sitzt als Hauptperson das Orchester auf der Bühne, Rustioni hat längst eine weichen, satten, samtigen Puccini-Sound gefunden. Angel Blue im goldenen Starsopranistinnenkleid und Joseph Calleja im Smoking machen jetzt Opernkonzert, distanziert und doch berührt. Alexey Markov hat hier stückimmanent nichts mehr zu melden, leider wurde der markante russische Bassbariton als eigentliches Regieopfer Scarpia vorher unter Vokalwert verkauft.  Und die Malfitano? Die stakst erst in einer weiteren Verwandlung/Häutung, als Klytämnesta am Stock durchs Publikum auf die Szene, und schneidet sich mordmäßig wie selfiegeil nach Aufmerksamkeit gierend in einem letzten Akt der Selbstdarstellung – „Quest è il bacio di Tosca“ – auf der Galerie der orangenen Kulissenrückwände, die immer noch nach Papstkastell aussehen, die Pulsadern auf. Vorher war sie noch als Salzburger „Mahagonny“-Jenny (das Stück steht aktuell auf dem Aix-Spielplan) über die Leinwände gegeistert.

So viele Querverweise! Doch nun ist die doppelte und dreifache Diven-Apotheose zu Ende, kaum eine halbe Stunde später spaziert die reale Malfitano über die Place de la Mairie, die Wirklichkeit ist zurück. Und die „Tosca“-Mythologie, sie wurde bereichert um eine nicht ganz aufgehende, Anlaufzeit brauchende, aber dann unterhaltende, auch camp-vergnügliche Monstre-Sacré-Facette.

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Sterben, um zu leben: Romeo Castellucci und Raphaël Pichon feiern in Aix das Mozart-Requiem als ein berührendes Fest des Vergänglichen

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Wenn man Romeo Castellucci für eine Musiktheaterprojekt engagiert, dann sollte man zwei Dinge beachten: das Werk sollte nicht viel länger als 90 Minuten dauern und es sollte möglichst abstrakter Natur sein. Der Rest fügt sich sowieso meist erst zwischen Hauptprobe und Premiere. Pierre Audi hat das für seine erste Saison beim Festival d’Aix-en-Provence vorbildlich beachtet und Castelluccci wie den längst vielgefragten Raphaël Pichon samt seinem Pygmalion Chor und Ensemble auf Mozarts Requiem-Spur gesetzt. Zu den knapp 70 Minuten unvollendet ergänzter Totenmesse kommen im Théâtre de l’Archevêché noch ein paar weitere, meist unbekannte Kompositionen wie die die mit verminderten Akkorden aufwartende Meistermusik oder ein frühes Miserere, das ebenfalls in d-moll fast den gleichen Anfang aufweist wie Mozarts letztes Opus. Zudem wird das Requiem eingerahmt von zwei gregorianischen Hymnen, die die Zeit und die Ewigkeit symbolisieren, den Kreislauf des Seins.

Fotos: Pascal Victor

Denn zu sehen ist auf der erst schwarzen, dann weißen, schließlich mit Farben und Erde verschmutzten Bühne eher ein Fest des Lebens, auch wenn es dauernd um Verlust geht. So wird die wohlbekannte, schnell klischeesatte Ikonographie um Tote, Begräbnis und Trauer vermieden. Hier wird freilich auch, im wahrsten Wortsinn ein existenzieller Zyklus durchschritten und durchtanzt, eine Feier des Heute. Eine alte Frau schaltet den Fernseher aus, raucht eine finale Zigarette, isst eine letzte Orange, legt sich darnieder, versinkt und vergeht im Bett. Aber sie ersteht als jüngere wieder, wandelt sich rückwärts zum Mädchen, bleibt schließlich als Baby allein krabbelnd auf der leeren, stillen Szene zurück.

Castellucci gelingen anrührende, einfach, assoziative Bilder, denen man sich einfach hingeben kann, die nicht zu tiefe Bedeutung haben. Und Pichon samt Musikern löst das – vor allem dank dem subtilen, superben Chor, der singt, spielt, tanzt – in eine fluide, transzentente und doch körperhafte musikalische Ebene auf; die nie Untermalung ist, sondern zentraler Bestandteil. Und über allem scheinen die Sterne, weht der Mistral, ist der Kosmos, zumindest der provenzalische, ganz dicht um uns. Einfach. Magisch.

Natürlich wäre Castellucci nicht er selbst, wenn da nicht eine tiefere Botschaft lauern würde, sich ein wenig der Zeigefinger reckte. Sein „Requiem“ das ist auch eine (unvollständige) Enzyklopädie des Verlorenen, der Dinosaurier, ausgestorbenen Tierrassen, Pflanzen, Völker, zerstörter Städte, Architekturen, Kunstwerke bis hin zu den Twin Towers, Palmyra und dem Dach von Notre Dame. So scheinen deren Namen in ruhiger Folge auf der Rückwand auf.

Sie werden umspielt und gekontert von den Choristen, Solisten, Tänzern sowie den diversen Frauengestalten. Es gibt – außer einem Märtyrer-Palmwedel und einem als Fußball benutzten Vanitas-Totenschädel – keine religiösen Symbole, aber Rituale, auch mal schamanische mit Farbpulver, Fellen und Hörnern. Nichts ist eindeutig erkennbar. Der Chor, erst in graubrauner Alterskleidung, wechselt in diffus osteuropäische Folklorekostüme, zunächst weiß, dann immer mehr errötend samt putziger Kopfbedeckungen.

Man tanzt, im Kreis als Reigen, um einen sich verschlingenden Bänderbaum. Ein Autowrack wird hereingezogen, ein Strahlenkranz schwebt herab. Locker dazwischen positioniert sind die trotzdem ihre Profil bewahrenden, fein balancierten Gesangsolisten Siobhan Stagg, Sara Mingardo, Martin Mitterutzner und Luca Tittoto. Hinreißend singt der mutige marokkanische Knabe Chadi Lazreq sein Solfeggio-Solo und das Finale. Bäume werden aufgestellt, Blumenkränzen und Grünzeugbögen verwendet. So deklamiert und feiert man gegen die Posaunen des jüngsten Tages an. Schließlich legt man sich zum Sterben nieder. Während am Ende nicht mehr getragene Kleider samt der Ackerkrume auf dem sich aufstellenden Bühnenboden daniedersausen und die fast nackte Menschheit dem letzten Gericht entgegenschreitet.

In einem solchen Kontext, und es ist ja nicht das erste Mal, dass das Requiem visualisiert wurde, hörte man diese Musik trotzdem wie neu. Sie bekommt eine andere Bedeutungsebene, ohne das die konkrete von Text und Klang verschwinden würde, sie teilt sich, auch durch die klug arrangierten Einschübe, mit anderer, frischer Kraft mit. Sie berührt – auch durch die Lauterkeit und Intensität ihrer Ausführung. Pichon setzt dramatische Akzente, aber alles bleibt in einem ruhigen Fluss des Ephemeren. Da ist nichts zerrissen und gezackt. Diese Deutungsweise beruhigt und lässt gleichzeitig aufmerken und gespannt zuhören. Und sie hebt das Requiem auf eine neue, so nicht gekannte Ebene.

Man meint, einer ewig alten, archaisch anmutenden Beschwörung zuzusehen. Diese aber ist sanftmütig, einladend, nicht einlullend. Immer neue, überraschende, manchmal bekannt dünkende Bilder tun sich auf, weiten sich zum Tableau, werden abgelöst und verschwinden wieder. Am Ende steht der konkrete Tag der Aufführung. Auch er ist – fast – schon verschwunden. Kurz vor der provenzalischen Mitternacht ist es zu Ende, kommen wir wieder zu uns. Verzaubert.

Auf Arte/concert abrufbar

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Man bettet sich und liegt bequem: Eine erstaunlich packendes „Mahagonny“ und einen öde Schlafoper als Uraufführung schließen den Premierenreigen in Aix

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Das Festival international d’Art lyrique d’Aix-en-Provence hatte für die Opernleckermäulchen immer schon eine gute Portion Zeitgenössisches vorgesehen. Wobei dieses erste Jahr unter dem neuen Intendanten Pierre Audi sogar außer Mozart nur 20. und 21. Jahrhundert im Angebot hatte. Als Gastspiel gab es die bereits in Stuttgart, Brüssel und Berlin gezeigte, temperamentmäßig passende, weil düster-depressive Andrea-Breth-Inszenierung von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“. Die Kammeroper um den Sturm-und-Drang-verrückten Dichter erwies sich auch hier als fulminanter Amoklauf für Georg Nigl samt Ensemble Modern. Und auch wenn das atmosphärelose Grand Théâtre de Provence damit nicht zu füllen war, die Franzosen haben nicht sehr viel Breth gesehen. Problematischer war die hier traditionell gezeigte Uraufführung, wie meist, ebenfalls ein Kammermusikwerk, koproduzentenkompatibel, diversity- und pc-gerecht; außerdem gern für die jungen Interpreten aus der Akademie geeignet und im kleine Théâtre du Jeu de Paume geparkt. Eine laue Folge halbgare, schnell verdampfter Werke hatte solches Programmdenken zur Folge, und leider war es um die Ausgabe 2019 auch nicht besser bestellt. Obwohl die Idee für „Les Mille Endormies“ ziemlich schräg klang: 1000 hungerstreikende palästinensische Intifada-Gefangene stören den israelischen Ministerpräsidenten und sollen dauerschlafend aus dem Weg und den Schlagzeilen verschwinden. Die Kammeroper in hebräischer Sprache des aus Haïfa stammenden 36jährigen Adam Maor wurde vom Librettisten Yonatan Levy auch inszeniert.

Fotos: Pascal Victor

Doch was eine freche Anti-Netanjahu-Operette hätte werden können, versickerte schnell in undramatischem Gelaber und den ewig gleichen Klangversatzstücken einer vertrockneten Moderne samt ein paar Ausflüge ins arabisch Folkloristische. Der Chef des Staatssicherheitsdienstes, ein Tenorbote und die Vertraute Nourit können zwischen zwei Liegestuhlreihen mit Schlafstatisten die Verwicklungen um das jetzt schlaflose jüdische Staatsvolk nicht entwirren, die werden immer uninteressanter und gänzlich banal zum Tönen gebracht. Zum Glück nur eine Stunde lang. Auch der ordentliche Einsatz des  Luxemburgischen Ensembles United Instruments of Lucilin unter Elena Schwarz konnte da nichts optimieren.

Eine Überraschung hingegen war die dritte szenische Großproduktion, ebenfalls im sterilen Grand Théâtre. Ivo van Hove setzt ausgerechnet für den in seiner parolenhaften Kapitalismuskritik-trifft-Wilder-Westen-Haltung alt geworden geglaubten „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ wieder mal die leere Bühne, eine Green Screen, ein paar Podeste und Schminktische ein und erreicht doch eine soghafte Vergegenwärtigung der gern langwierigen Brecht/Weill-Oper. Die plötzlich rau wie prophetisch, wieder schräg und scharf wirkt. Denn Esa-Pekka Salonen und sein Londoner Philharmonia Orchestra geben dem Geschehen modernistischen Drive, satten Sound und den schiefen Kneipenton, den das braucht. Dazwischen schlängeln sich bachige Fugen, klingt es kirchenfeierlich, um dann gleich wieder vom Menschen zum Tier zu mutieren. Wie man sie bettet, so liegen hier die durchaus famosen Töne. Denen lediglich Mikroports für die Sänger fehlen, dann wäre alles in der abgemischten Balance noch punktgenauer, böser gekommen.

Wie ist und wo liegt Mahagonny heute? Gleicht es dem Schaufenster des Westens, wie es Joachim Herz mit spießigem Blick an der Komischen Oper in Ost-Berlin inszenierte? Oder regt es zur melancholischen Rückbesinnung auf vergangenes DDR-Sozialistenglück an, wie es Ruth Berghaus einst in Stuttgart heraufbeschwor? Und was ist mit der im ästhetischen Niemandsland angesiedelten, pseudopolitischen Vereinigungs-Ranschmeiße, die Günter Krämer für Hamburg und Berlin erdachte? Und ist nicht überhaupt dieses lehrstückhafte, süffig musikalisierte, doch allzu thesenartige Kapitalismus-Gleichnis, das sich die Amerika-Novizen Bertolt Brecht und Kurt Weill im Jahr 1930 in Leipzig zusammenreimten, ein veralteter, inzwischen nostalgischer, ja kulinarischer Totentanz längst als Irrtum der Geschichte entlarvter Lehrsätze?

Jedenfalls gewinnt die Geschichte nicht unbedingt an Sex, wenn man sie unabdingbar aktualisiert. Zu verschlissen wirkt dann Brechts eng fokussierter Ansatz, dass da, wo nur Geld Gott ist, erst das Fressen kommt und dann die Moral. Deshalb spielt van Hove in einem ästhetisch kahlen Niemandsland, kühl und abweisend. Umso unsympathischer wirken die Charaktere, die vorzüglich gecastet sind. Karita Mattila ist ein finnischer Eisberg von Witwe Begbick als nuttiger Spinnennetzstadt-Gründerin, die ihre Goldgräber nie mehr los lässt – , fies, mit abgrundtiefen Tönen, präsent und geldzählgierig. Alan Oke und Willard White unterstützen als Charaktersingschädel; auch Sean Panikkar, Thomas Oliemans und Peixin Chen haben ihre Starminuten als abgewrackte Glücksucher.

Wie zu RuPauls Drag Race zockeln Annette Dasch (Jenny) und ihre Lebendamen mit dem Rollköfferchen und echter Transe herein, im Dunkeln möchte man diesen Ungunstgewerblerinnen lieber nicht begegnen. Fressen, saufen, Huren, Boxen nicht vergessen, alles wird brav, aber gekonnt durchexerziert bis der die verflixte Zwischenfachtenorrolle des Jim Mahoney hervorragend meisternde Nikolai Shukoff zum Tod verurteilt ist und mit der gurrenden Dasch ein letztes Mal als verliebter Kranich schnäbelt. Es raucht und knallt, die Zivilgesellschaft probt (in Frankreich gerade nicht unbekannt) den Aufstand. Einiges geht zu Bruch, das gutgelaunte Orchester legt sich in die Forte-Kurve.

Am Ende sind aber vor allem die Illusionen von einem besseren Leben flöten. Und selbst die, die sich bereichert haben, sind und bleiben arme Würstchen. Mal sehen, was Aix 2020 zu bieten hat. Eine neue „Così“ mit Dmitri Tcherniakov und Thomas Hangelbrock sowie Barrie Kosky als Regisseur von Rimsky-Korsakows „Der goldene Hahn“ machen schon mal neugierig.

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Schweizer Freiheit unter den Sternen der Provence: die Chorégies d’Orange feiern als ältestes Festival mit „Guillaume Tell“ ihren 150. Geburtstag

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Wenn man nachts um viertel nach Eins ein letztes Mal in C-Dur sich langsam und machtvoll aufschwingendes „Liberté“ hört während gleichzeitig der Blick über 37 Höhenmeter 2000 Jahre alter römischer Theaterrückwand zu den Sternen des Provence-Himmels schweift und man Gänsehaut bekommt, dann weiß man, dass man dieses Abend am richtigen Ort verbracht hat. Bei der ersten und vermutlich sehr lange einzigen Aufführung von Gioachino Rossinis helvetischem Schwanengesang „Guillaume Tell“, der in Frankreich in den letzten Jahren eine eher kümmerliche Existenz führte. Während der grandiose Vierakter von Pesaro bis London, München, Zürich, New York, Amsterdam, Wien, Mannheim, Wildbad eine schöne Renaissance erlebt, ist an der Pariser Opéra Fehlanzeige, aber in Lyon steht dieses von Naturklängen durchpulste, zu großen Tableaux arrangierte Meisterwerk im Herbst auf dem Spielplan. Und Jean-Louis Grinda, nach seinem Vater der zweite echte Monegasse auf dem Intendantensessel der anderen Garnier-Opéra in Monte-Carlo, hat das Monstré sacré ganz bewusst im antiken Theater von Orange in seiner vierten Sommer als Direktor angesetzt: schließlich soll der 150. Geburtstags des ältesten Musikfestivals der Welt mit einem besonderen Opus gefeiert werden.

Ab 1869 feierte man hier, dem Geist des Ortes folgend, „Römische Feste“, freilich jugendfrei. Ab 1902 setzte sich der auf die ebenfalls antiken Chorumzüge anspielende, bis heute gültige Begriff der „Chorégies d’Orange“ durch. Das Konzept eines Musikfestivals geht auf Hector Berlioz zurück, Richard Wagner machte es in Bayreuth berühmt. Doch ist eben hier, als Klangfeiern in Südfrankreich, die Mutter all dieser Veranstaltungen.    

Eine solche Langlebigkeit – das Festival überstand gleich die Kriegsniederlage von 1871, beide Weltkriege und den Mai 1968 – ist außergewöhnlich. Außergewöhnlich ist auch der Ort: das um 20 n. Ch. erbaute römische Theater von Orange, heute Weltkulturerbe der Unesco, nicht zuletzt wegen seiner bestens erhaltenen Rückwand. Das nicht mehr originale, an einen Hügel gelehnte Sitzstufenrund fasst um die 9000, gequetscht sitzende Zuschauer; heute haben meist 7000 nur wenig mehr Platz. Der Ort ist magisch, die Akustik ist es auch. Mürbe macht höchstens der Mistral, wenn er zu sehr wütet. Die pfeifenden Mauersegler verschwinden, wenn das Licht angeht, und auch die Grillen schweigen bald fein still. Die Natur macht sich der Kunst untertan.

Sarah Bernard hat hier tragödet, wie viele andere Schauspieler der Comédie Française, die hin Orange bis zum zweiten Weltkrieg vorwiegend spielten. Oper war eher selten, ab und an gab es auch mal ein Konzert. Einen gloriosen Neubeginn erlebten die „Chorégies Nouvelles“ dann ab 1973 mit einem längst legendären, zum Glück in Bild wie Ton festgehaltenen „Tristan“ unter Karl Böhm mit Birgit Nilsson und John Vickers; Nikolaus Lehnhoff hatte damals alle Mühe, Heinz Macks Lichtsegel vor dem Zerreisen im Mistral zu bewahren. Diese Aufführung fand freilich nur einmal statt, ebenso wie die nicht minder legendäre „Norma“, bei der der Wind sogar Montserrat Caballé fast davonwehte.  

Zu dieser One-Show-Politik will teilweise auch jetzt Grinda zurück, der ein Festival in finanziellen Kalamitäten und in der Auseinandersetzung mit der rechtslastigen Stadtregierung erbte. „Lieber spiele ich ein Stück wie den ,Tell’ einmal vor vollem Amphitheater-Rund statt zweimal für je 5.000 Leute. Das ist finanziell günstiger. Den ,Don Giovanni’, den er hier auch nur einmal 1996 gab, führen wir als zweiten Operntitel dieses Jahr zweimal auf.“ Grinda, der auch mit dem Bürgermeister sich arrangiert hat, weitet lieber das Angebot aus. So sind jetzt vor der historischen Kulisse auch Mahler-Sinfonien, ein sinfonisches Konzert mit DJ für die Jüngeren, das Ballet de Monte-Carko mit „Romeo und Julia“ oder eine spanische Zazuela-Nacht mit Plácido Domingo im Chorégies-Rahmen zu erleben. Dass eine Gala mit Anna Netrebko nebst Gatten abgesagt wurde, stört Grinda nicht weiter, das war eine Untervermietung.  

Fotos: Philippe Gromelle

80 Prozent des Budgets von sieben Millionen Euro muss Jean-Louis Grinda selbst einspielen. Sein Publikum kommt ebenfalls zu 80 Prozent aus dem Dreieck Lyon, Montpellier, Nizza. Er ist ein Pragmatiker und gut vernetzt, das hat ihm schon bei seinen früheren Posten in Reims, Lüttich und Nizza genützt. Außerdem hat er in seinen Anfängerjahren schon mal in Orange mitgearbeitet. In den letzten Jahren hat das Festival finanziell zu schwächeln begonnen, weil man dauernd die gleichen zehn Opern angesetzt hatte. Da brachten dann auch die größten Stars, von Alagna, Gheorghiu, Vargas, Kaufmann, Damrau an, nicht mehr genügend Anziehungskraft auf. Grinadas Konzept hat dann letzten Sommer gegriffen, als er eben nur einmal „Mefistofele“ mit Ewing Schrott spielte. Und den ebenfalls hier raren „Barbiere di Seviglia“: „Ich will Oper für die Menschen machen. Viele gehen nur hier ins Musiktheater, manche Familien schon über Generationen hinweg. Die sollen sich wiederfinden, auch wenn ihnen ein Titel unbekannt vorkommt.“

Alle Stars haben hier gesungen oder wollen es. Schon 1869 hat man hier drei Tage lang mit  Musik gefeiert, um ein altes Theater, das als Wohnviertel, Kaserne, Krankenhaus gedient hatte, wieder als Theaters zu beleben. Anders als in Verona oder Nîmes, kämpften hier keine  Gladiatoren oder wurden christliche Märtyrer von Löwen gehetzt, in Orange kannte man nur  Deklamation, Musik, Tanz.

Grinda ist mit Jonas Kaufmann im Gespräch, ein erster avisierter Titel passte noch nicht, und sein Traum ist – Cecilia Bartoli in einer Oper. Schließlich hat er mit ihr das Alte-Musik-Orchester Les Musiciens du Prince-Monaco gegründet. Dem steht Gianluca Capuano erfolgreich vor, der jetzt auch den „Tell“ sehr idiomatisch, ruhig und raumgreifend dirigiert – am Pult des Orchestre Symphonique de Monte-Carlo. Auch der Chor kommt aus dem Fürstentum, ergänzt um den Chor der Oper von Toulouse, die zwölf Balletttänzer hingegen steuert die Oper in Avignon bei. Une affaire du Midi eben.

Auf den zentralen, teuren 275-Euro-Plätzen liegen die Opernprospekte für Monte-Carlo aus, hier gibt es auch rote Sitzpolster, während das übrige Publikum seine Hinternweichmacher mitbringen muss. Oder mit provencalischem Muster gegenüber vom Eingang erwirbt, die findigen Händler haben auch Papprücksitze (6 Euro) oder Holzgestelle ohne Beine (50 Euro) im Angebot. Das gehört zu den Ritualen à la Orange, so auch die frühe Anreise, um nicht im Parkplatzkalamitäten zu kommen, und die flächendecke Menue-Formule in allen Restaurants, die vor dem Beginn um 21.30 Uhr die Speisung der Zigtausend professionell gewährleisten. Vor und nach der bis zum Ende kurzärmlig verbrachten Oper ist dann der Stopp bei einer besonders guten Eistheke obligatorisch.

Und der „Tell“? Eine runde Sache. In nur vier Tagen bei bis zu 40 Grand auf der Bühne (oder in einer gekühlten Turnhalle) geprobt, geht es hier natürlich nicht um viel Interpretation, gar Experimente. Jean-Louis Grinda selbst hat ihn, wie schon zweimal in Liège und einmal in Monaco, selbst inszeniert und einfach mit seinen bewährten Mitarbeitern die Rezepturen neu gemischt. Dieser Schweizer Ruf nach Freiheit findet in weiträumigen Chrorarrangements statt, die mal folkloristischen, mal die Entstehungszeit spiegelnden Kostüme hat Françoise Raybaud geschneidert.

Die kriegerischen wie pastoralen Elemente spiegeln auf der sonst leeren Bühne die Projektionen von Éric Chevalier und das stimmungsvolle Licht von Laurent Castaingt. Da zoomten wir in einen Zeichentrickschweiz, dann folgt eine sattfarbene Alpenlandschaft. In den Wäldern am Vierwaldstätter See spielt der Wind, die Abendsonne scheint zwischen den Stämmen hindurch, am Boden kräuseln sich die Wellen. Die Gessler-Residenz bildet die antiken Steine nach, und am Ende steht die alte Kaiser-Augustus-Statue (mit dem ergänzten Kopf) in einem demokratischen Strahlenkranz. Am Bühnenrand gibt es eine kleine Ackerfurche, die Tell und sein Sohn durchpflügen. Ein Junge wird beim Sähen von den österreichischen Okkupanten aufgehalten, am glücklichen Ende fährt ein Mädchen damit fort. Die gute Rossini-Erde als Belcanto und Boden.

Der bewährte Nicola Alaimo mit seinem eher leichten, honigfarbenen Bariton passt als ruhiger Tell mit seiner Leibesfülle perfekt auf die Cinemacopefläche, in deren Mitte ein verdrehtes Holzlattenrund zur schiefen Spielfläche (wir sind schließlich im Gebirge!) werden kann. Celso Albelo hat die Kraft und die Neven für die vielen hohen Arnold-Cs, den schöneren, geschmeidig runden Tenor besitzt freilich Cyrille Dubois in der Ein-Arien Rolle des Fischers Ruodi. Annick Massis ist eine inzwischen frankophon angesäuerte Soubretten-Mathilde, aber mit noch rund laufender Koloratur. Überbesetzt, aber wundervoll macht die samtstimmige Jodie Devos den Jemmy wichtiger als er ist – die Arie war natürlich gestrichen, aber das feine Frauenterzett im letzten Akt blieb erhalten. Nora Gubisch verströmt Autorität als Hedwige, Nicolas Cavallier und Nicolas Courjal haben die nötige Bassschwärze für den Walter Fürst und den Gessler.

Die Habsburger-Soldaten fahren auf einer Art Panzerprototyp herein, Eugénie Andrin choreografiert abwechslungsreich Hochzeitstänze, Kuhreigen, Kinderkreise, aber auch feindliche Übergrifflichkeiten auf die Dorfmädchen. Der Rütlischwur mit den Chormannen, die durch die seidige Nacht schallen ,ist aber ganz traditionell als Aufmarsch inszeniert. Und das letzte „Liberté“ wird an der Rampe geschmettert. Riesenbeifall nach vier Opernstunden von 14.000 Händen ist die Folge.    

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Pärnu und Pizza: das Familienfestival der Järvis in der estnischen Sommerhauptstadt geht in die 9. Runde

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Der Himmel ist blau, die Lärchen und Birken schimmern auf der schnurgeraden Straße im Vorbeifahren so grün wie die Wiesen. Man meint, die Ostsee schon zu riechen. Ideales Pärnu-Wetter also. Dabei hat es gestern noch heftig geregnet. Aber jetzt, wo das 9. Pärnu Music Festival in die Wochenendhöhepunktkurve einer intensiven Konzertwoche geht, ist nicht nur das Wetter ideal für Strand, Musik und mehr. Später wird das, nach getaner Programmarbeit, selbst der Beschäftigtsein als Dauerzustand begreifende Pavo Järvi sagen: „Das ist die schönste, aber auch intensivste Zeit meines Jahres. Familie, Freunde und viel Musik, so wie ich sie programmieren möchte. Meist schlafe ich hier nur drei Stunden, wenn überhaupt, aber es schmeckt sich wunderbar an.“ Und auch den wieder zahlreich erschienen Besuchern schmeckt es offenbar wunderbar, nicht nur der im Foyer der Pärnu Konserdimaja ausgeschenkte estnische Cognac und die reichlich verteilten Orangenpralinées, auch das klangliche Kulinarium. Von der kurzen Hose bis zur Fliege, dem Gesundheitsschuh bis zum Tiroler Janker, dazu lokale Tracht und sehr viel Mustermix, das Publikum ist so bunt wie altersmäßig divers. Und total entspannt. Man kommt schließlich mehrheitlich vom Sonnenbaden und Wasserpantschen, sei es im Meer oder in einem der vielen Spas. Und am Ende wird gejohlt und gibt es Standing Ovations als sei das hier eines der populären lokalen Sängerfeste.

Dabei hat Paavo Järvi, wie immer stoisch schauend, aber umso temperamentvoller muszierend, für den ersten Auftritt seines Estonian Festival Orchestra ein durchaus anspruchsvolles Programm gewählt. Von seinem alten Hard Rock-Band-Weggefährten Erkki-Sven Tüür, der einmal mehr auch im Festival-Fokus steht, hat er dessen Streichorchesteradaption „L’ombra della croce“ an den Anfang gesetzt. Eines dieser neotonalen Werke, für die die estnische Musik, angefangen mit Arvo Pärt berühmt ist, obwohl Tüür früher anders konnte. Aber da hatte Paavo auch noch Haare und die Nächte waren noch kürzer.

Jetzt tönt das wohlgefällig, die Streicher können ihren vollen, ebenmäßigen Sound bestens ausstellen, das Musikleben als großer, ruhiger Fluss. Und auch der Urheber verbeugt sich brav mit silberner Krawatte und schwarzem Hemd.

Truls Mørk hingegen kommt ganz konventionell im Frack – und auch von Festival-Laissez-faire ist in seiner ernsthaften, fokussiert glühenden Interpretation von Dvořáks Cellokonzert nichts zu spüren. Wie oft er das wohl schon gespielt hat? Egal. Es klingt feingeistig, frisch, spontan, sehr musikantisch, weich, mit fast samtigem Bogenstrich. Ein Romantiker eben. Und man mag so gar nicht Dvořáks (nicht ganz ernst gemeintem) Diktum über das Cello folgen: „Ein Stück Holz, das oben kreischt und unten brummt.“

Wunderbar gesanglich kommen die Themen, idiomatisch richtig angehaucht von den Melodien aus Dvořáks Böhmen. Wir hören große dramatische Steigerungen, lyrische Gänsehaut-Stellen, eine fein ausgeklügelte Instrumentation. Mørk kann alles, die virtuosen Sprünge, Läufe und intonationssicheren Doppelgriffe, dann wieder die schwelgerisch langsamen Passagen, ganz vom Gesang inspiriert, bevor sich dann das Orchester zu einer grandiosen Schluss-Steigerung aufschwingt.

Überhaupt das Estonian Festival Orchestra, Rückgrat dieser Musikwoche und längst auch international auf Tournee bewährt! Das letzte, tolle Baby des großen Erziehers Paavo Järvi. Diesen erzieherischen Zug hat er von seinem Vater Neeme geerbt, der natürlich auch mit Mama Liilia im Saal sitzt. Die nicht eben kleine Abordnung des Freundeskreis des Zürcher Tonhalle Orchesters, wo Paavo im Herbst als Chef anfängt, wird das wohlgefällig zur Kenntnis nehmen.

Jung mutet die diesjährige Orchesterformation an, doch das täuscht. Ein Blick ins Programmbuch verrät – da sitzen neben ein paar Scholaren lauter allererste Musiker aus den großen, zum Teil mit Paavo Järvi verbundenen Orchestern auf dem Podium: Neben diversen estnischen Formationen sind das die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, das Orchestre National de France und das hr-Sinfonieorchester, das Russische Nationalorchester und die St. Petersburger Philharmonie, die Dresdner Philharmonie, das NDR Elbphilharmonie Orchester und die Münchner Philharmoniker, das Finnische Opernorchester, das Turku Philharmonic und das Lahti Symphony Orchestra, die Königlich Schwedische Philharmonie und die Göteborger Symphoniker, das Budapest Festival Orchestra, das Royal Scottish National Orchestra und das Cleveland Orchestra.

Nach der Pause geht es weiter, das hier ist ein Familienbetrieb, mit einer umgearbeiteten Uraufführung von Paavos jüngerem Bruder, dem wilden, spielverliebten Kristjan, der seit 2015 wieder in Tallinn lebt. Doch bei dem wiederum tonal schwelgerischen, eine Choralmelodie mit Vibraphon- und Glockenunterstützung zur crescendierenden Tuttiexplosion bringenden „Korale für 80“ macht fast der Kamerakran der für Artes „48 Stunden“-Reportage mitfilmenden Teams mehr Bewegungen. Brüderliche Umarmung für den Urheber.

Dieses Orchesterauftaktkonzert endet mit einer eindrücklichen 1. Sinfonie von Carl Nielsen, einem besonderen Paavo-Järvi-Liebling. Deutlich arbeitet er heraus, wie in diesem Jugendwerk die Melodik immer wieder durch eine Dur-Tonleiter mit kleiner Septime bestimmt wird. Auch für Nielsens geliebten Wechsel zwischen Dur- und Moll-Terz hat er ein offenes Dirigentenohr, und nach dramatischen Steigerungen zieht er den Abschwung lang hin, bis zum Fast-Stillstand der Musik: befreiten Zeit im scheinbar endlosen Ausklingen, auch im Als-ob-Stillstand harmonischer Bewegungen, die gern kreisförmig ablaufen.

So geht es durch die sehr ernsthaft musikalisch auseinandergenommenen vier Sätze. Das Orchester tönt wie aus einem harmonischen Guss. Fein ausgewogen sind die Gruppen, supersynchron, aber nie mechanisch wird gespielt. Sie alle eint Spontanität und Wollen. Im zugegebenen Leroy-Anderson-Schmankerl macht sich das rhythmisch pfeffrig Luft.

Und hinterher wird gefeiert, auch so ein Pärnu-Charakteristikum. In einem der wie Pilze hier aus dem Zentrumsboden schießenden Einkaufsmalls sponsert der Besitzer des Shoppinghauses und des italienischen Restaurants auf dem Dach die Party. Diesmal also Pärnu mit Pizza. Mit viel Käse, köstlich und heiß.  

Der Beitrag Pärnu und Pizza: das Familienfestival der Järvis in der estnischen Sommerhauptstadt geht in die 9. Runde erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

En saga-hafter Järvi-Familiengipfel mit Sibelius: In Pärnu spielt der estnische Clan endlich zusammen. Aber auch andere haben schöne Kammermusiktöne

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Das Party-Paradies von Pärnu ist endlich wieder das Passion Café mit Bier und Pasta. Alles wie immer? Fast. Nach einem Kammerkonzertabend beim Pärnu Musikfest mit naturgemäß kleiner Besetzung wird im üblichen Festival-Wasserloch etwas reduzierter gefeiert. Selbst der sonst so resistente Paavo Järvi schaut zwar als nicht nur gütiger Festspielherbergsvater vorbei, verschwindet aber rotweinlos nach einer kleinen Bowlenschüssel voll Gin Tonic zur dringend notwendigen, heute verlängerten Rekreationsphase. Die anderen Recken sind ebenfalls müde, diese Programme müssen dem eh schon dicht gedrängten Probenplan abgetrotzt werden. Aber sie sind umso vehementer gewollt, denn hier finden noch intensivere Begegnungen zwischen den estnischen wie den internationalen Musikern statt. Und man kann Jahr für Jahr sehen und hören, wie die Künstler sich weiterentwickeln, öffnen, auf einander hören. Neben seiner teetrinkenden Frau ebenfalls der eigentlich ständige Gast Erkki-Sven Tüür im Café Platz genommen, denn für diesen Abend hat er zudem das sehr schön und dicht gewirkte Programm konzipiert. Das haben vielleicht nur vergleichsweise wenige intensiv genossen, denn, so hat mittags beim Lunch der Stellvertretende Bürgermeister erzählt, hier gehen sonst ganz andere Events ab. In Pärnu jagt ein Festival das andere. Gerade treffen sich etwa die estnischen Segler; man kann von der Terrasse des wunderfeinen Art Deco Rannahotell die Boote weit draußen auf dem Meer sehen. Und zur DJ Party mit David Guetta versammelten sich gleich 350.000 Menschen am nur auch wieder nicht sooo breiten Strand.

Da ist man froh, den jetzt halbleer entlangradeln zu können. Am Ende, wenn die Natur wieder die Regie übernimmt, grasen Kühe, heben sich Vogelschwärme über dem Schilf. Die Kontraste ereignen sich hier schnell, ebenso von den heimeligen Sommerholzhäusern zu den Plattenbauten.

In der Konzerthalle aber haben sich die Kammermusik-Geneigten zu einem intelligenten Abend der Extra-Klasse zusammengefunden. Für Tüür war das Streichsextett von Erich Wolfgang Korngold, das er erstmals in Heimbach beim Spannungen Festival von Lars Vogt gehört hat, der gedankliche Ausgangspunkt. Darum herum hat er freilich Musik der Zweiten Wiener Schule arrangiert, das erstaunliche Werk des 17-jährigen Korngold steht neben Miniaturen der zehn Jahre älteren Komponisten Alban Berg und Anton Webern. Auf dessen Bagatellen für Streichquartett antwortet hingegen der ebenfalls juvenile György Ligeti mit seinem meisterlich witzigen Bläser-Bagatellen. Und in der ursprünglich einmal während seiner Wiener Studienzeit von Jean Sibelius wls Septett konzipierten En Saga lassen sich vor der Pause gleich fünf Mitglieder des Järvi Clans als En-Saga-hafter Familienmusiziergipfel vernehmen.

„Dieser Augenblick, der keine Entwicklung kennt und keine Zeit, wird gleichwohl in der Zeit entfaltet“, schreibt Adorno über das Berg-Opus 5. Sekundenkurze Klangfetzen und Motivmomente, verhaucht oder überblasen, letztes Jugendstilgerank, schon atonal behängt. Der charismatische Klarinettist Matt Hunt von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und der Pianist Maksim Stsura spielen das mit klarer Präsenz und Dringlichkeit. Und ihr Lohn, wie der aller anderer, ist eine Rose, für deren Überreichung bekommen wir sehr oft die vermutlich hässlichste Personaluniform zumindest Estlands zu sehen, hautfarbenbeiger Faltenrock mit hohem Schlitz und Underpanties, dazu eine fies rotgerüschte Bluse. Aber auch der seniorenhafte Herrenlook der bedauernswerten Träger ist nicht besser! Das Pernu Festival braucht unbedingt eigenen Uniformen. Dafür musste sich doch ein schicker Sponsor finden lassen.

Wir schweifen ab. Für Weberns ebenfalls spukhaft kurze Bagatellen Opus 9 sind Artur Podlyesniy (hr-Sinfonieorchester), Adela-Maria Baratu (Dresdner Philharmonie), Veit Hertenstein (Orion Trio) und Johannes Välja (Münchner Musikhochschule) angetreten. Sie spielen sie mit aphoristischer Stringenz und feinem Tonfall. Ihre Kürze hat viel Würze.

Etwas ausladender kommen die die 1953 aus einem Klavierzyklus destillierten Sechs Bagatellen Ligetis daher, zudem mit viel Witz – was der fabulöse Flötist Michel Moragues vom Orchestre National de France noch zu steigern weiß, indem er gleich im ersten Satz sein zusätzlich zum Einsatz kommendes Piccolo stoisch aus der Smoking-Innentasche zieht. So merkt man kaum, dass die einzelnen Sätze auf nur ganz wenigen Tönen beruhen, die auf stetig andere Instrumente verteilt und um Oktavlagen versetzen werden. Zudem ändern die Musiker ständig ihre Klangfarben zur eine vielfarbige Suite von überaus pfiffigen, ja skurrilen Bläserminis. Die Besten aus der Holzfraktion des Estonian Festival Orchestra sind hierfür angetreten: neben Moragues, Oboist Riivo Kallasmaa (NDR Elbphilharmonie Orchester), Matt Hunt, Fagottistin Rie Koyama (Deutsche Kammerphilharmonie) und Hornist Björn Olsson (Royal Swedish Orchestra). Und die begeistern schon mit dem jagdstückartigen Auftakt.

Denkwürdiger Mittelpunkt dieser Kammer-Gala: drei im heimatlichen Flaggen-Schwarzblau (das Weiß müssen wir uns dazu denken) gekleidete Järvi-Streicher-Geschwister und Großcousin/Cousine von Paavo/Kristjan sowie Neemes Flötistin-Tochter und ein weiterer Cello-Järvi, voilà Miina, Martin, Madis, Marius und Maarika sowie Klarinettistin Signe Sõmer und Bassistin Regina Udod (beide Estonian National Symphony Orchestra). Die freilich hatten schwer mit der spröden Bearbeitung (Gregory Barrett, 2003) des melancholisch düsteren, eigenbrödlerisch mäandernden Sibelius-Stücks zu kämpfen. So entbeint, offenbart es nur seine Schwächen, und mit Dirigent wäre da sicher noch mehr Gleichklang und Stringenz herauszuholen gewesen. Trotzdem: Was für ein könnerisches Zusammentreffen. Diese Familie hat einfach Musik in der DNA.

Das schönste, reichste Werk freilich ist der zweiten Konzerthälfte vorbehalten: das allzu selten zu hörende Korngold-Streichersextett. Festivalorchester-Konzertmeister Florian Donderer (Deutsche Kammerphilharmonie), zugleich eine der Stützen bei der Musikerauswahl, Geiger Robert Traksmann (frei), die Bratscher Andres Kaljuste (Estnische Hochschule) und Mari Adachi (L’Estro Armonico Quartett), die Cellisten Georgi Anichenko (La Monnaie Orchester) und Theodor Sink (Estonian National Symphony Orchestra) spielten das mustergültig ausbalanciert und mit großem, schwingenden, immer flexiblem Ton. Die Eigenart Korngolds, natürlich eingebettet in dem zwischen Traum und Wirklichkeit oszillierenden Jahrhundertwendeklang Wien, aber nie andere imitierend, kommt mustergültig zum Tragen und Glänzen. Fein herausgearbeitet wird die ausgeklügelte Leitmotivik, die sich mit reicher spätromantischer Harmonik verbindet. Die beiden Streichsextette von Brahms klingen nach, ebenso Schönbergs „Verklärte Nacht“, dessen dichte Polyphonie dem Jungen noch unerreichbar bleibt. Doch Opernhaftes und Träumerisches, ja auch Filmmusikvorausahnendes, beherrscht bereits der frühe Korngold. Ein großartiges Plädoyer für einen Komponisten (siehe die aktuellen Opernspielpläne), dessen Zeit nun wirklich gekommen scheint. Und den auch die Esten mit begeistertem Staunen hören.

Dann endlich ist wirklich Zeit für Passion sowie die eine oder mehrere der vielen lokalen Biersorten…

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Am 22. Juli um 15 Uhr: Live-Übertragung der Klaviermeisterklasse von Sir András Schiff vom Gstaad Menuhin Festival

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Das Gstaad Menuhin Festival geht diesen Sommer unter dem Motto „Paris“ in die 63. Runde. Und seit längerem schon sind neben den hochkarätigen Kammerkonzerten in den Kirchen des Saanenlandes, den Starevents im Festivalzelt und den Nachwuchspreisträger-Auftritten die Festival Academies immer wichtiger geworden. Sie gibt es für Dirigenten, Streicher, Sänger, Pianisten und Barockmusiker. Das Festival möchten mit der Gstaad Academy im Geiste seines Festivalgründers Yehudi Menuhin verbunden sein, der während 40 Jahren neben seinen arrivierten Künstlerfreunden wie Benjamin Britten, Peter Pears oder Maurice Gendron auch immer seine Studenten oder besonders förderungswürdige junge Musiker nach Gstaad einlud und mit ihnen arbeitete und musizierte.

Erneut wird auch Sir András Schiff beim Gstaad Menuhin Festival als Professor der Piano Academy unterrichten, sowie ein Rezital in der Kirche Saanen geben. Die Piano Academy findet in der Zeit vom 20. bis zum 24. Juli im Kirchgemeindehaus in Gstaad statt. Sieben Pianisten nehmen aktiv am Meisterkurs teil. Der Meisterkurs ist öffentlich. Am Montag, den 22. Juli kann man ab 15 Uhr vier Stunden lang auch live per Videostream zuschauen und dabei sein. Dazu muss man sich bei www.gstaaddigitalfestival.ch/video/masterclass-live anmelden. Oder man schaut einfach hier, auf Brugs Klassiker zu. Allerdings nur zwei Stunden lang. Der untenstehende Bildschirm wird sich ab 15 Uhr beleben, und Sir András wird zumindest ein paar seinen Geheimnisse preisgeben…

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Pädagogik in Pärnu: Und was es mit dem oft beschworenen schlechten Sex der Esten auf sich hat

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Am Naiderand in Pärnu, da dürfen nur die Frauen zu liegen kommen, denn das heißt Damenstrand, ganz rechts außen bei den Dünen. Ansonsten ist es hier so herrlich altmodisch wie man möchte und so zeitgemäß wie es bequem ist. Man hört nur Estnisch und Russisch am selbst Feriensonntags nicht übervollen Strand. Kaum einer schreit, die Radios bleiben halblaut, keine Verkäufer nerven. Weil man hier 50 Meter knöchel- und weitere 50 knietief laufen muss, bis die kaum salzige Ostsee beschwimmbar wird, ist es ein Kinderparadies. 24 Grad hat die Luft, angenehm ist es im Wasser. Leichte Brise herrscht, die die Birken rascheln lässt. Das hier ist nostalgische Sommerfrische pur. Pärnu steht aber schon seit Jahrzehnten für Festivals und fünf Dezennien hat diese Oberguru Neeme Järvi mitgeprägt. Es begann 1970 mit einem Beethoven-Fest, so wie nächstes Jahr auch wieder. Dann folgten die Meisterklassen aus denen schließlich das Pärnu Music Festival erwuchs für das sein Sohn Paavo verantwortlich zeichnet. Beide, und auch Kristjan Järvi sowie als Seele des Betriebs Leonid Grin, unterrichten die Dirigenten, den neben den Konzerten sind die Akademien ein wesentlicher Bestandteil der Aktivitäten. Und aus denen wiederum speisen sich das Järvi Academy Chamber Orchestra und das Järvi Youth Symphony Orchestra.

Das hat dann im Abschlusskonzert der Dirigentenklasse seinen großen Auftritt, muss sich nach jedem Satz auf ein neues Schlagtemperament und einen anderen Charakter einlassen, die sich hier im fliegenden Wechsel, zum Teil mitten im Satz den Taktstock in die Hand geben. 18 internationale Kandidaten waren diesmal dabei, elf durften öffentlich auftreten. Und man hat es ihnen mit einer bunten Auswahl von Stücken nicht eben leicht gemacht. Gern hätte man von der Estin Maria Sletskaja mehr gehört, die unübersehbar bereits eine Ballettkarriere hinter sich hat und in Deutschland bereits Tanzabende dirigiert. Das arg simple Pastoral-Stück Bucolic der estnischen Tonsetzer-Doyenne Ester Mägi verlangt ihr kaum mehr als eine sanft ordnende Hand ab, während zu Mitte den etwas rhythmischeren Teil Eirik Haukaas Ødegaard übernimmt.

Selten auch im Konzert zu hören ist Arthur Honeggers teilweise sehr laut um Weltfrieden kreischende Symphonie liturgique. Doch beim Orchester, insbesondere in der fluid-stoßfesten Bläserfraktion, scheint sie vertrauter als bei dem Trio am Pult. Der Este Edmar Tuul befeuert das aus lockerem Handgelenk, die Britin Stephanie Childress bleibt im Allegro moderato seltsam steif und passiv. Der Russe Yaroslav Zaboryakin geht im wild wüsten Finale nicht wirklich aus sich heraus, versucht die sichere Nummer und langweilt nur.

Das große Gähnen herrscht leider auch bei dem unsäglich banalen Doppelkonzert für Geige und Viola von Max Bruch. Für Baujahr 1913 ist das so was von transusig uninspiriert, auch in der etwas kontrastreicheren Originalfassung mit Klarinette. Das Orchester hat rein gar nichts zu tun, Triin Ruubel und Mari Adachi in nicht eben augenfreundlichen Roben fiedeln das routiniert weg, und auch die drei Pultkandidaten wedeln nur müde im Takt. Da ist nichts zu holen und zu beweisen. 

Und auch Mozarts Prager Sinfonie beweist einmal mehr, das sich die Mainstream-Dirigenten damit offenbar immer noch unendlich schwer tun. Natürlich ist eine 16er Streicherbesetzung eine Hypothek, aber etwas mehr Schlankheit, Temperament, Flitzigkeit und Kontrastschärfe hätte man bei allen dreien erwarten können. Am ehesten bemüht sich noch im Andante Sakari Oramus Sohn Taavi. Aber nach der Hälfte verlassen auch ihn Puste und Inspiration.

Trotzdem große Freunde im wieder vollen Saal, das Dozenten-Trio (Urvater Neeme ist unpässlich) wird ganz toll gefeiert, und das sonst dem Papa vorbehaltene Traditions-Encore, Sibelius‘ Andante festivo, wird diesmal von Kristjan mit große Gestik durchgeschwungen, von der immensen Streicherbrigade aber mit feinster Synchronität und edelstrahlendem Klang zum Glänzen gebracht.

Und Feiern können auch die Jungen. „Terviseks“ schallt es im Passion. Prost auf Estnisch sei einfach zu merken, sagt trocken Paavo J. Man müsse nur an „terrible sex“. – Aber das klingt doch eher wie „Järvi Sex“, kommt der unvermeidliche Einwurf. Paavos Mine wird noch nussknackerhafter: „Der ist nicht terrible.“ Stimmt, diese Familie mehrt sich sehr fruchtbar im Dienste der Musik. Denn schon wieder ist Nachwuchs unterwegs.

Apropos Sex. Den mögen die Esten offenbar gemalt im Sommer gern. Sieht man jedenfalls all die nackten Leiber, die sich einem in dem grottenhäßlichen, offenbar aus russischer Betonunnatur sich zwischen den Holzdatschen breit machenden Pärnu Uue Kunsti Muuseum, wo sehr sonntagsmalerig die Moderne gezeigt wird. Und eine eindrückliche streng schwarzweiße Naturbilder-Hommage an Ansel Adams des bekannten Fotografen Kaupo Kikkas. Passend und von seinen Bildern umrahmt, gibt es schon nachmittags eine Musikstunde mit kammermusikalischen Liedern im Tintinnabuli-Stil Arvo Pärts für Countertenor, ein Flöten-Solo und das vogelstimmenfeine 2. Streichquartett von Peteris Vasks. Der legendäre Lette ist auch da, umarmt und küsst viel.

So breitet sich das Festival fast bis zu den Badenden aus. Auch wenn die nur aus Ton geformt sind. Und die Originale am Naiderand dann doch interessanter sind. Aber ähnelt das wellenförmige Festival-Logo nicht irgerndwie auch einem etwas verrutschten BH?

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Hirtenmädchen und Frühlingsfliegen: beim Pärnu Music Festival werden selbst ungeprobte Zugaben nicht zur valse triste

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„Dieses Festival ist nur ein Vorwand, gute Freunde zu versammeln und gemeinsam mit ihnen diesen Ort tief in unserem Herz zu verankern.“ Paavo Järvi sagt es sehr schön und sehr ehrlich in seiner Schlussansprache nach getaner Pärnu Music Festival-Arbeit. Das letzte Konzert der 2019-Ausgabe ist vorbei, die Kräfte sind erschöpft, die Gemüter glücklich. Auch weil man schließlich noch gemeinsam durch den Rausch von drei – ungeprobten – gleichwohl fantastisch gespielten Zugaben gegangen ist. Nach einer bezwingend pianissimo gewisperten Valse triste von Sibelius, folgte der hirtenmädchen-fitzelige „Vlallflickans dans“ aus der Bergakungen Suite von Hugo Alfén und schließlich, der Beifall zum in Estland superpopulären bekannten Klarinettensolo war so spontan, dass selbst der abgebrühte Matthew Hunt erstmal herzlich lachen musste, der Walzer aus dem Film „Die Frühlingsfliege“ von Lepo Sumera. Aber vorher schon musste zur Pause hin der Este Ain Anger, längst eine Bassurgewalt auf allen Wagner- Verdi- und Mussorgsky-Opernbühnen der Welt, die Gremin-Arie aus dem „Eugen Onegin“ wiederholen. Denn auch das enthusiastisch ausflippende Publikum hatte sich Beifallsmäßig so richtig eingegroovt.

Der letzte Festivaltag hatte mit dem traditionell nachmittäglichen Kinderkonzert in der hinreißenden Jugendstil-Villa Ammende begonnen, heute ein preziöses Boutique Hotel. In dem jetzt, locker über die verschiedenen, liebevoll ausgestatteten und restaurierten Gasträume und –Stuben verteilt, junge Musiker warten, um noch jüngeren Fans ihre Instrumente vorzuführen und dann kleine Stücke für sie zu spielen.

Ein letztes Mal geht es zwischen all dem Grün und den entspannten Urlaubern per Pedal hin zur Konzerthalle an der Innenseite der Strandhalbinsel. Das Abschlussprogramm des erstaunlich in diesen Jahren klanglich zusammengewachsenen Estonian Festival Orchestra würde wohl kaum ein Veranstalter buchen – obwohl Järvis Musiksturmtruppe inzwischen schon das Baltikum, Europa und dieses Jahr Japan bereist hat; 2020 sind sogar die teuren USA für eine Tournee fest in Planung. Es beginnt – er ist schließlich Composer in Residence – einmal mehr mit Musik von Erkki-Sven Tüür. „Sow the Wind“ ist ein still beginnender, sich aggressiv, aber machtvoll orchestriert steigernder Zwanzigminüter, über den Zustand der Wind säenden und stürme erntenden Welt. Nicht platt, eher hilflos, aber nachdrücklich melancholisch anklagend.

Und ähnlich depressiv, aber von der schönsten Art, geht es weiter: Ain Anger arbeitet sich skrupulös wie suggestiv durch die vier „Lieder und Tänze des Todes“ Modest Mussorgskys. Zu hören war nicht die strohige Orchestrierung von Schostakowitsch, sondern die schmiegsamere, klangfarbenfeinere von Kalevi Aho. Anger hat die seltene Fähigkeit aus diesen schrecklichen Geschichten geisteswache Zustandsbeschreibungen erstehen zu lassen, das Anekdotische wächst sich ins Allgemeine aus, packt und lässt nicht mehr los. Ein selten präsenter Interpret, dem das nur mit stimmlichen Mitteln gelingt.

Nach der Pause dann das große, freundvoll explodierende Finale mit Peter Tschaikowskys 2. Sinfonie, der Ukrainischen oder Klein-Russischen. In eine einstmals besetzten Land immer noch mit einer gewissen Delikatesse zu genießen. Das Orchester verbeißt sich förmlich in schönste Hornsoli und wiegende Folklorismen, zackig markante Marschrhythmen und zum Finale in das Große Tor von Kiew, das sich auch hier zu den Klangbildern einer Tschaikowsky-Ausstellung wölbt und öffnet. Paavo Järvi hat das bestens im Griff, treibt an, hält zurück. Es darf auch mal grell werden, doch der mattierte Feinklang des Ensembles ist stets zu spüren. Das explodiert schließlich in einer Apotheose des Blechs, Tschaikowsky-Orgasmus pur. Aber keiner stirbt hier kleine Tode, alle sind begeistert.

Und, man muss ja  schließlich weiterdenken, am 2. Oktober startet Paavo Järvi in Zürich als neuer Chef des Tonhalle Orchesters. Diese meisterlich extrovertierte wie intime Interpretation macht Lust auf den dort nächste Saison auch als Aufnahmeprojekt startenden Tschaikowsky-Zyklus. Und dann ist ja auch schon wieder Sommer, und das 10. Pärnu Jubiläumsfestival wartet. „Das wahrlich kein Endpunkt werden soll, sondern ein neuer Anfang“, wie Paavo Järvi allen zum Abschied verspricht.  Wir werden ihn beim Wort nehmen.

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Palastkabalen zwischen Politschlampen: „Agrippina“ konzertant grandios – und mit gebremstem Kosky-Händelschaum bei den Münchner Opernfestspielen

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Georg Friedrich weiß, was Frauen wünschen: Macht, Macht, Macht. Dafür kämpfen und intrigieren sie, dafür spielen sie ihre Liebhaber gegeneinander aus. Weich werden diese Weiber nur, wenn sie sich ihrem Ziel nahe wähnen: auf dem Thron oder dem begehrten Mann. Am liebsten auf beidem. Händel hat nie wieder ein so herrliches Opernlibretto vertont, wie jenes für die 1709 in Venedig uraufgeführte „Agrippina“. Strotzend vor Witz und Winkelzügen kämpfen hier keine Heroen mit dem gern, symbolisch wie verbal, als Phallusersatz zum Einsatz kommenden Pappschwert, zoffen sich die Höflinge wie Marktweiber. Ganz dem venezianischen Geschmack entsprechend, der 60 Jahre älteren, zum Teil das gleiche, exaltierte Singpersonal aufmarschieren lassenden „Krönung der Poppea“ Monteverdis nicht unähnlich, geht es unverblümt zur Sache. Denn keinem Herrscher muss hier gehuldigt werden, dem (zahlenden) Bürger der Serenissima soll die zweite italienische Oper des caro Sassone gefallen. Umso erstaunlicher diese gustiös ausgekostete Dekadenz, Niedertracht und Verderbtheit besonders der beiden Frauen, wenn man weiß, wer das raffitückische Originallibretto über wirklich gelebt habende Personen geschrieben hat: Vincenzo Grimani war Kardinal, Gesandter am Heiligen Stuhl und Vizekönig von Neapel. Da er gleichwohl gegen Papst Clemens XI. opponierte, hat man die Agrippina, die im eigenen Theater seiner Familie, dem von San Grisostomo (heute das jugendstilig umgebaute Teatro Malibran) uraufgeführt wurde, gern als Satire auf die Zustände im Vatikan gelesen. Die waren dann wohl nicht viel anders als die im alten Rom, wo Kaiserin Agrippina mit allen – jawohl: mit allen! – Mitteln dafür kämpft, dass ihr Sohn Nero den totgeglaubten Kaiser Claudius beerbt; während die, na ja, Kurtisane Poppea weder bei Claudius (der ist nämlich gar nicht tot) noch bei Otho und Nero was anbrennen lässt. In dieser Oper entscheidet sie sich für Otho, in dem älteren Monteverdi-Sequel darf es dann Kaiser Nero als zweiter Ehemann sein. Da hat das Biest Nero nämlich schon seine sich jetzt so für ihn ins Zeug legende Mutter umgebracht. Wie überhaupt die Originale aller Beteiligten des über dreieinhalbstündigen – und doch für Ohr, Auge und Hintern eigentlich kurzweiligen – Geschehens durch Gewalt ihr Erdendasein beendeten. 

„Agrippina“, das steht auch aktuell für den klugen Vermaktungsmechanismus, mit dem die Erato und ihr Warner-Classics-Boss Alain Lanceron ihren CD-Superstar Joyce DiDonato souverän in die gegenwärtigen Opernspielpläne einspeisen. Ist die versatile Amerikanerin doch gegenwärtig in Topform und in Amerika wie Europa gern gesehen. Mit über 50 Jahren ist freilich absehbar, dass selbst die Kraft und Vitalität ihres souverän geführten Mezzos nicht ewig halten kann. Nach einer letztjährigen Konzerttour mit Handels „Ariodante“ folgt jetzt die Operation „Agrippina“, die ihr zugleich den Wechsel von der gern gesungenen Händel-Heroine ins diesmal barocke Mutterfach ermöglicht – und nach Rossinis „Semiramide“ und einer Opernstudio-Gertrud in „Hänsel und Gretel“.

Noch während einer konzertanten Tournee mit sechs Stationen folgte jüngst zwischendurch die Plattenaufnahme. In der „Agrippina“-Neuinszenierung von Barrie Kosky für die Münchner Opernfestspiele wird La DiDonato beim Koproduzenten Royal Opera House im Herbst in London ihr szenisches Debüt geben. Im weiteren Spielzeitverlauf tritt sie in einer aus Brüssel übernommenen McVicar-Produktion von 2003 an der Met auf. Davor erscheint die CD. Sehr geschickt geplant ist das.

Im Madrider Teatro Real,  der zweiten, bestens eingegroovten Tourneestation, markiert schon der Anfang die Gestimmtheit des Folgenden: Das ist köstlich musikalisiert vom jungen, exaltiert sein Engelshaar wie seine spillerigen Arme werfenden Dirigenten und Cembalisten Maxim Emelyanychev und seinem fein abgetönten, zeitweise üppig aufrauschenden Orchester Il Pomo d’Oro. Emelyamychev hat das Frühwerk des 25-jährigen Händel, das dieser vornehmlich aus seiner römischen Kantatenproduktion zusammenmontierte, beschleunigt und angehübscht. Sind die meisten Arien noch lange nicht so individuell wie in den Londoner Opern, so tragen sie doch ideal die fintenreiche Geschichte.

Gleich kommt ein superschrilles Mutter-Sohn-Paar: der Nerone des so säuselfeinen wie schön schrägen Franco Fagioli im roten Samtjacken und ebensolchen Glitzerslippern. Noch übertroffen wird er von Joyce DiDonatos mütterlich brustender, intrigant Fiorituren schimmernder, fulminant komischer Agrippina im Buntseidenprint: eine vokal abgefeimte Mischung aus RTL-Dschungel-Domina Sonja Zietlow und weißblonder Alexis Carrington. Das Biest als bravouröse Diva!   

Poppea, die Rivalin, ist kein Mäuschen, sondern eine knallharte, ebenfalls paillettenrot glitzernde Brünette, die schmeichelndes Klangzuckerbrot wie die Koloraturenpeitsche zu gebrauchen weiß. Elsa Benoit singt sie mit fester Kantilene und schmiegsamem Timbre. Bei diesen Superweibern haben Männer nicht viel zu melden, deshalb passt es auch, dass gleich zwei von ihnen einst von Kastraten gesungen wurden. Nur Kaiser Claudius (Renato Dolcini) orgelt baritongewaltig, die Liebhaber aber fisteln im Falsett (Carlo Vistoli als Narcisco) oder grummeln im Bass (Andrea Mastroni als Pallante). Dafür steht der als Operettenfigur von der traurigen Fliege-mit-Glitzerstein-Gestalt ausstaffierte Ottone – übrigens die einzige integre Person in diesem verworfenen Spiel – für tief empfundene Melancholie und zarten Klangwohllaut: Xavier Sabata spinnt feine Melodiefäden und hat langen Atem.

Fotos: Wilfried Hösl

Eine sanfte Enttäuschung ist hingegen, die Kosky-Visualisierung im Münchner Prinzregententheater. Da hat der vielbeschäftige Chef der Komischen Oper (Mitte August hat bereits „Orphée aux Enfers“ in Salzburg Premiere) für eine neben London noch nach Amsterdam und Hamburg weitergereichte Koproduktion ein wenig sehr aus dem Musterkoffer inszeniert. Auch Rebecca Ringst hat nur einen bekannt benutzerfreundlichen Käfig auf die leere Kreiselbühne gestellt, der hinter seinen erst nach einer halben Stunde aufgehenden Jalousien die üblich kahl aseptischen Gänge, Kabinette, Salons, Hinterzimmer und Treppen in einem anonymen Epizentrum der Macht offenbart: Klassizismus in Blech.

Darin passiert nicht sehr viel, Kosky nimmt die Palastkabalen zwischen Politschlampen ernst als steifes House of Händel-Cards, wo Agrippina routiniert virtuos die Fäden zieht. Trotzdem wird sie immer wieder schrill und brustig, zumindest in der stämmigen Vokalgestalt von Alice Coote, die wenig Aura und Vokalfinesse hat. Da ist die DiDonato weit weg. Ihre Gegenspielerin Poppea in wechselnden Roben von Klaus Bruns ist wiederum die hier viel kratzbürstigere Elsa Benoit, die doch entschieden zu viele lyrische Arien hat; auch wenn die Figur diesmal plastischer wirkt.

Am Ende des ersten Teils hat Iestyn Davies’ verstockter, jetzt blutender Ottone seinen großen, anrührenden Arienmoment, wo die Stimme endlich nicht nur nach englischem Oratoriencountertenor klingt, sondern sinnliche Melancholie entwickelt. Lange Anlaufzeit braucht diesmal auch Franco Fagiolis Nerone, der zunächst als Salon-Punk mit Hoodie, Tattoos und Piercings herumtänzelt, dann so langsam den ganz normalen Möchtegern-Imperatorenwahnsinn heraushängt. Den größten Lacher hat er, als er bei angeschaltetem Saallicht durch das geldige Münchner Premierenpublikum schreit, um angeblich die Armen mit milden Gaben zu beglücken und sich gewogen zu machen. Da hüpfen die Diamanten vor Freude.

Nach der Pause wird dann hektisch auf der ewig gleichen Treppe herumgeturnt, die Coote kommt im Negligee, röhrt plötzlich ein Arien-Tune unpassend ins Miko, bevor eine Slapstick-Verstecknummer über weiße Sofas und Hocker anhebt. Irgendwie bringt sie den drögen Abend auch nicht auf Touren. Sie beschließt ihn aber als einziger Kerl im Smoking, während die anderen Männer (der bassgewölbte Gianluca Buratto als HB-Männchen Claudio, neuerlich Andrea Mastroni – Palante, Eric Jurenas – Narciso, Markus Suhikonen – Lesbo) sich beständig zum Äffchen machen. Mit viel szenischem Ausrufezeichen wird, Nero ist endlich Kaiser, nach Agrippinas Stoßseufzer „Jetzt kann ich glücklich sterben“ noch ein langsames Oratorien-Instrumentalstück abgespult. Agrippina wurde später von ihrem Sohn getötet, das soll jetzt jeder merken.

Als bewährter Middle-of-the-Road-Handel-Runner steht in München einmal mehr Ivor Bolton am Pult, also auch in diesem seit 2008 ersten Werk von Georg Friedrich. Es wird ordentlich klangverfeinert und phrasiert, aber das Bayerische Staatsorchester ist eben kein Barockensemble. So ist nach dieser hervorragenden Tournee-Produktion, die selbst ohne Szene kurzweiliger und charakterschärfer war, das Bessere der Feind des nur Guten. Das ordentlich, aber nicht so richtig festspielwürdig war. Ungeduldig warten wir freilich auf die CD-Veröffentlichung.

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Habt Ihr Bock auf „Meistersinger“? Die Kinderoper als Bayreuther Juwel in der Opernkrone. Aber auch der WoWa-Festakt konnte sich sehen und hören lassen

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Wagnerianer, wachet auf! Den wahren, werktreuen Wagner findet ihr seit langem schon in der Bayreuther Kinderoper! Mit Drachen und Rittern, mit Riesen und einer echten Schusterstube. Ivan Ivanov hat die diesmal für die aktuelle „Meistersinger“-Inszenierung detailpusselig bis zum letzten Leisten gebaut. Und auch sonst ist das ein wirkliches Ausstattungsfest. Auf nur zwei dreiteiligen Drehelementen gibt es Straße und Kirche, Außen und Innen mit Erkern und Backsteinen, Buntglasfenster, Fliederbusch und Gemerk. Liebevoll und praktisch zugleich. So wie auch die Kostüme: der fränkelnde Frisör Kunz Vogelsang träg Tigerprint und Kunstpelz, Armin Kolarczyks famos böser Beckmesser sieht aus wie der Sheriff von Nottingham. Die liebliche Eva der kinderoperbewährten Christiane Kohl ist selbst blumenmalende Künstlerin mit grünen Haarenden. Und – Bayreuth schwelgt ja seit einiger Zeit durchaus ironisch in der Selbstreferenz – der höhensichere Vincent Wolfsteiner als Stolzing ähnelt deshalb, natürlich nur für die Erwachsenen im Auditorium der Probebühne IV, bis in die letzte Blondhaarspitze dem einstigen Tenoridol und best-looking-Lohengrin Peter Hoffmann. Origami-Schwänchen als Liebessymbol verteilt er zudem.

Fotos: Enrico Nawrath

Historisch korrekt und nur 75 Minuten kurz! Ein „Meistersinger“-Traum. Und witzig ist es auch noch, obwohl natürlich auch in der cleveren Bearbeitung von Katharina Wagner und Markus Latsch viel Regelwerk bemüht werden muss. Dramaturgisch geschickt kindergerecht gesetzt sind die beiden Action-Hauptszenen, die Prügelfuge, bei der viel Schaumgummiobst fliegt, und der „Wacht auf!“-Chor, der die bei 37 Grad etwas erschöpft und unruhig in den Seilen hängenden Kids schlagartig wieder wach macht. Die schlafenden Meister übrigens auch.

Der wonnige Pogner von Timo Riihonen sieht in seinem Brokatwams samt Korkenzieherlöckchen aus wie der eitle Albrecht Dürer persönlich, Werner Van Mechelen gibt einen netten, jovialen Sachs, auch Simone Schröder ist wieder als gewitzte Magdalene dabei. Die vor allem Bänke (auch die sind in Bayreuth durchnummeriert) umstellenden Bühnenarbeiter mimen zudem die Kirchenbesucher, das in jeder Hinsicht unter Azis Sadikovic glutvoll aufspielende Brandenburgische Staatsorchester ist auch als Lehrbuben und Nachtwächter aktiv.

Dirk Girschik ist eine flüssige und freche Inszenierung gelungen, die Kinder bleiben fast durchgehend dran und haben Bock, wie David (Stefan Heibach) extra nachfragt. Immer wieder merkt man, wie fasziniert sie von der schieren Fülle dieser Stimmen sind, die sich da ganz analog und live vor ihnen aufgebaut haben und losschallen. Und am Ende, wenn sich as große Tor hinten öffnet, wird der neue Meistersinger Walther ins Freie entlassen. Kühler ist es da aber auch nicht. Im Gegenteil! Aber der Meister hätte an diesen „Meistersingern“ seinen sächsischen Spaß gehabt.

So wie sicher auch am Festakt am Abend vorher für Enkel Wolfgang, der vor neun Jahren starb und am 30. August 100 Jahre alt geworden wäre. Der ging in so sachlich wie würdevoll, gewitzt und ehrerbietig über die Bühne, wie viele ihn noch während beinahe 60 Jahren Festspielleiterschaft erlebt haben. Und auch die unangenehmen sturen WoWa-Seiten wurden nicht unterschlagen. Wiens-Ex-Operndirektor Ioan Holender hielt von Opernpraktiker zur Opernpraktiker die Laudatio, Christian Thielemann erinnerte sich an die drei Dirigiermöglichkeiten – „zu schnell, zu langsam, schön flüssig“. Wobei er sich letztere zu Herzen nahm für das auf der Bühne nur selten zu sehende Festspielorchester (mit, da muss Katharina W. noch nachbessern, viel zu wenig Frauen, elf, vorwiegend an Harfen und Flöten, gegenüber fast 100 Männern.

Bayerns Kunstminister Bernd Sibler kam im hellen Anzug auf die Bühne und prägte das Motto, das wohl mindestens für den diesjährigen Festspielauftakt gilt: Anschwitzen. Und so müsste es nach heute Abend eigentlich heißen: Anschwitzt is!

Die ausgewählte Musik sollte vor allem an den Festspielleiter erinnern, mit dem „Meistersinger“-Vorspiel, als seiner Lieblingsoper, die er hier dreimal inszeniert hat und die als letzte eigene WoWa Vorstellung 2002 gegeben wurde. Stephen Gould gab einen schönen „Tannhäuser“-Vorgeschmack mit der Rom-Erzählung und gedachte der legendär ausgebuhten Inszenierung des Ossis Götz Friedrich. So wie Wotans „Walküre“-Abschied für  den Chereau-„Ring“ stand und mit dem fruchtig-schlanken, doch auch herzhaft zupacken könnenden Günther Groissböck als Wotan 2020 auf Kommendes Lust machte.

Doch wirklich berührend wurde es dann in den letzten fünf Festakt-Minuten, als Waltraud Meier, die letztes Jahr als Ortrud schon ihr Bayreuther Comeback und Abschied gefeiert hatte, für ein letztes Isolden-Lebewohl nach – genau – flüssigem Vorspiel zum Liebestod auf die Bühne kam, während hinten, vor der blauen Operafolie, wo diverse Kostüme aus der Wolfang-Ära schwebten, ihr goldener Mantel sich drehte. Natürlich war das eine reduzierte, klug technisch vorbereitete Interpretation, aber mit was für einer Körperspannung die Meier allein schon auftrat, und wie sie ihr Signaturstück selbst 26 Jahre nach ihrem Rollendebüt vor Ort noch servierte. Chapeau! Bayreuth als Gestern, Heute und Morgen. Kinder, schafft Altes und Neues.   

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Die Drag Queen beim Wagner-Sängerkrieg: In Tobias Kratzers neuem „Tannhäuser“ setzen die Bayreuther Festspiele einmal mehr ihre Hügel-Selbstbespiegelung fort

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Das Bayreuther Festspielhaus ist ein prima Kino, das wussten schon die amerikanischen Besatzer, die hier nach dem Zweiten Weltkrieg für einige Zeit ihre Truppenlichtspiele einrichteten. Zudem eignet sich Richard Wagner hervorragend als Filmkomponist, wie er in der über 100-jährigen Geschichte des belichteten Zelluloids bewiesen hat. Und so fliegt es sich zur Eröffnungspremiere der Bayreuther Festspiele 2019 gleich beim „Tannhäuser“-Beginn ganz wunderleicht per Operndrohne über den Sehnsuchtsort Wartburg. In all ihrer touristischen Schönheit liegt sie da, und von Valery Gergiev luxusklangbegleitet geht es erst langsam choralgemessen, dann fanfarenkeck und rhythmisch bewegt weiter durch Thüringens Haine und Flure – bis Manuel Brauns entfesselte Kamera einen altmodischen Kleinlaster-Töff (nein, kein Wartburg!) ins Visier nimmt.

In dem hat es sich, freudig erregt und wohlig in die Kurven gehend, ein sehr seltsames Kleeblatt wohnlich bequem gemacht. Von einem Beuys/Schlingensief-Hasen auf dem Dach bewacht sitzt da Frau Venus im rückenfreien Pailletteneinteiler am Steuer des Liebeslasters – Elena Zhidkova, macht das mezzoschlankschrill, aber mit vollem Körpereinsatz als sehr konkrete Person. Neben ihr hat ein ziemlich trauriger Zauselclown Platz genommen – Tannhäuser, liebeskrank und heimwehsatt. Hinten sitzen noch zwei Gefährten, denen es ebenfalls im dauersexualisierten Venusberg fad geworden ist: Oskar Matzerath, der Grassche Blechtrommler (Manni Laudenbach) und Le Gateau Chocolat, eine schwarze Drag Queen, die schon mal ihrer Garderobe für Kommendes sortiert.

Fotos: Enrico Nawrath

Ein Quartett der Außenseiter steht also im Mittelpunkt dieses „Tannhäuser“, wie ihn sich der Regisseur Tobias Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier erdacht haben. Die Liebesgöttin mit zweifelhafter bis gar keiner Moral. Der abgeirrte Minnesänger, der zum verlachten Spaßmacher herabgesunken ist. Ein Zwerg. Und ein farbiges Transgender-Wesen. So ist Bayreuth, mit zudem einer Frau wieder mal an seiner Leitungsspitze, mittenmang im gesellschaftskritischen Dialog.

Von der echten Wartburg, die ja freilich nur eine falsche, weil historisierend im 19. Jahrhundert wiederaufgebaute Fiktion ist, wollen diese Sinn- und Seelensucher gar nichts wissen. Ihr Gralstempel der anderen Art offenbar sich erst später: Wagners Festspielhaus, auch auf einem grünen Hügel über einer einstmals grünen Aue gelegen. Den Weg weist vom Fahrrad aus die quellklarfrisch singende Katharina Konradi als hirtenknäbliches Bayreuther Einlassmädel in Blau. Und auf der Straße samt Sicherheitsabsperrung ziehen die fein gekleideten Festspielbesuchter, von Eberhard Friedrich bewährt angeleitet, den Pilgerchor singend zu ihrem Opernmanna.

Das alles vermischt sich ganz vorzüglich mit den Filmeinspielungen. Und mit der Jagdgesellschaft des Landgrafen (mächtig bassbärbeißig: Stephen Milling), offenbar den Sängern aus dem Festspielhaus, in freilich altväterlichem Kostüm. Auch Elisabeth schaut kurz vorbei – erst im Bademantel, später als blonde Mittelaltermaid, wie auf den Sammelbildchen von Liebichs Fleischextrakt, so lugt sie zwischen den Park bevölkernden Ottmar Hörlschen Plastigwagnerwichteln hervor.  

Vorher freilich sang sich Tannhäuser noch ausführlich seinen Frust aus dem nimmermüden Tenorhals von Stephen Gould. Toll macht er das – immer noch, debütierte er doch 2004 in dieser Rolle auf dem Hügel. Will er modern oder altmodisch sein als freier Künstler, der sinnlich schrankenlosen Liebe der Venus folgen oder den eher keuschen Sympathiebekundungen der heiligen Elisabeth? Auf jeden Fall will er ein anderer sein, als im letzten, trübselig gehassten Bayreuther „Tannhäuser“ von Sebastian Baumgarten. Als das Gefährt an einem mit viel Lachern bedachten Straßenschild „Zur Biogasanlage“ vorbeikommt, klebt da einer gerade den „mangels Nachfrage geschlossen“-Sticker drauf, so wie eben jenes befremdliche Deko-Element von Joep van Lieshout längst geschreddert ist.

Aus dem Venusberg ist er draußen, wenn auch nicht endgültig, in der Festspielhaus-Wartburg ist er noch nicht wieder angekommen, also überfallen Tannhäuser & Co einen Burger King (es gibt Tote!), gegessen wird dann in einem abgeranzten Märchenpark neben Frau Holles Hütte. Chocolat kommt als notgeiles Schneewittchen wieder und gemeinsam pflastern sie alles mit ihren Flugblättern und Plakaten, die die Venus fabriziert hat: „„Frei im Wollen! Frei im Thun! Frei im Genießen!“, so handeln sie gemäß der sozialrevolutionären Parole vom Meister selbst. Später wird die Banderole am Königsbalkon hängen.

Sie schmückte auch bereits vor acht Jahren, damals überfiel man eine Bank, jetzt die Wartburg/Festspielhaus, die erste Tobias-Kratzer-„Tannhäuser“-Inszenierung in Bremen. Und diese Reverenz ist nicht die einzige, denn auch die neue Produktion reiht sich ein in die inzwischen recht lange Reihe Bayreuther Bühnenselbstreflektionen, wie sie immer dichter und auch immer schwieriger zu entschlüsseln sein werden. In der ersten Pause wird von der Venusgang der Teich vor dem Festspielhaus mit Discosongs beschallt, der eben noch als Fake auf der Bühne schimmerte.

Und wenn Le Gateau Chocolat in bibo-gelber Puschelrobe später durch den Bayreuther Dirigentengang gen Bühne stöckelt und vor Christian Thielemanns Bild sich in Pose wirft (so wie der kleine Oskar, vor dem tief gesunkenen James Levine Halt macht), dann meint das natürlich auch die „Schwarze Venus“ Grace Bumbry, die 1961 hier mit dem „Tannhäuser“ ihre Weltkarriere begann. Und am Ende des zweiten Aktes, in der größten Verwirrnis, wenn hinter der Bühne die Inspizientin alias Katharina Wagner die Polizei gerufen hat, diese den Hügel hochjagen und als Statisten die Bühne stürmen, dann wirft die flamboyante Drag Queen die Regenbogenflagge über die Harfe – hier gilt es wirklich und ganz absolut der Kunst – in jeder Ausprägung.

Davor aber galt es eher dem Festhalten, einer wie auch immer sich legitimierenden Tradition. Die zweigeteilte Bühne zeigt unten einen altfränkischen Wartburgsängersaal aus den Opernfifties, oben aber die live flimmernden, virtuos gehandhabten Backstage-Videos von heute. Und wir sehen, dass auch die offenbar selbstmordgefährdete Elisabeth keine Heilige ist, wohl schon vor Tannhäuser was mit Wolfram hatte – Lise Davidsen singt trotzdem bereits die Hallenarie mit der glockenmächtigen Siegesaura eines künftigen hochdramatischen Sopranstars inmitten des ganz normalen Wahnsinns eines langsam aus dem Ruder laufenden Opernaufführung. Die Venus hat sich nämlich unter die Knappen gemischt, und mischt, „Fanget an!“, den gar nicht mehr manierlichen Song Contest auf. Tannhäuser jetzt wieder ganz brav, möchte da mittun, sich am Ende sein Foto abholen. Am Schluss freilich ist Chaos. Aber auch der Höhepunkt der Pointen überschritten.

Kratzer weiß nämlich nicht nur zu gestalten, sondern auch mit seinen Mitteln hauszuhalten. So wie das auch, noch etwas ruckelig in den Tempi und mit Wacklern in den Ensembles, aber oft auch lyrisch fein fließenden, bunt kolorierend, und ohne jede Feierlichkeit dahinschmetternd, Valery Gergiev mit dieser noch juvenil draufgängernden Partitur tut. Die nämlich klingt immer noch nach großer, romantischer Oper. Auch wenn ein wenig der individuelle, der souveräne Zugang fehlt.

Romantisch, aber eher melancholisch, ja sogar beckettgrau mutet dann der still verdämmernde dritte „Tannhäuser“-Akt an. Die Bühne ist jetzt ein Schrottplatz zwischen dürren Bäumen. Tannhäuser kommt hier wieder wie später dann der wissende, aber desillusionierte Parsifal. Vorher aber singt der echt fertige Wolfram (Markus Eiche ist trotzdem mit seinem Labsalbariton schön als Bayreuther Eigenvokalgewächs herangereift) einen Abendstern der besonderen Art an: Ein Werbeplakat von Gateau Chocolat und seinem Uhren-Franchise; der nämlich hat die Kunst verlassen und ist in den Kommerz gegangen. Wolfram im Clownskostüm und die in ihrem Gebet die Zeit sopranstillstehen lassende Elisabeth hausen hingegen in dem verwahrlosten Lieferwagen, schieben einen letzten Quickie. Dann bringt sie sich doch noch um.

So endet eigentlich tief verzweifelt, was frohgemut begann. Tannhäuser, der sich einmal zwischen beiden Welten entscheiden konnte, weiß nicht mehr, wo er hingehört. Ihm bleibt nur noch die Partitur, die er stets mitgeschleppt hat und die er jetzt verbrennt. Elisabeth liegt tot in seinem Schoß, die Revoluzzer-Venus wurde Feme, und auf der Leinwand geht es in den letzten Sonnenuntergang einer falschen Utopie. Jeder Diskurs um die Kunst, aber auch um Fleisch und Seele, Venus und Maria, er erübrigt sich. Bravi und Buh – wie immer in Bayreuth.

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Festival Martina Franca I: Eine gar nicht lustige Stalkerin und zwei hübsch komische Mediziner-Intermezzi in der Masseria

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In Salzburg hat die Anna N. einen Auftritt abgesagt, weil sie erkältet war, und das hat gleich einen kleinen Skandal gegeben. Oper halt. Aber selbst im beschaulichen Martina Franca, wo das raritätensüchtige Festival della Valle d’Itria in die 45. Runde geht, gibt es Theater außerhalb der Oper. Der 35-jährige Dirigent Sesto Quatrini, der für den erkrankten Musikchef Fabio Luisi eingesprungen ist, leidet schon länger darunter, das Opfer einer japanischen Stalkerin zu sein. Die Sopranistin studiert am Mailänder Konservatorium und war letztes Jahr bei der dem Festival angeschlossenen Nachwuchsakademie „Rodolfo Celletti“ dabei. Deshalb war sie auch eine Zweitbesetzung in „Giulietta e Romeo“ von Nicola Vaccaj, die Quatrini dirigierte. Seither verfolgt sie ihn. Er hat einen Polizeibeschluss erwirkt, dass sie nicht mehr als 500 Meter an ihn heran darf, sie hat auch bereits zwei Polizisten mit einer Schere bedroht. Jetzt aber ist sie selbst in Apulien hinter ihm her. Auf den sozialen Medien beschimpft sie den Festivalchef Alberto Triola, zeigt Tote und Verstümmelte. In Martina Franca bewegen sich die Verantwortlichen nur noch mit Leibwächtern, weil die Polizei die wirre Dame nur kurzzeitig festsetzt, wenn sie wieder öffentlich ausfällig wird, sie aber nicht des Landes verweist.

Dabei ist hier doch inzwischen Harmonie pur. Das Festival, das sich zwar selten Gespieltem widmet, aber immer wieder seine Ausrichtung änderte und auch finanziell schlingerte, scheint augenblicklich in ruhigem Fahrwasser. 2010 übernahm Alberto Triola die künstlerische Leitung und legte den Schwerpunkt  auf Barockoper und Belcanto, vorzugsweise der neapolitanischen Schule. Zum 41. Festival kam Fabiol Luisi hinzu, inzwischen ist mit dem Orchester des Teatro Petruzzelli in Bari sowie mit dem Opernchor aus Piacenza ein gleichbleibendes musikalisches Niveau gewährleistet. Im dritten Jahr sorgt hier zudem Regiealtmeister Pier Luigi Pizzi für zumindest geschmackvolle Professionalität. Meist gibt es drei Opern, dazu nette musikalische Kleinigkeiten und Konzerte, verteilt auf die diversen Kirchen und Klöster der in der heißen Sonne weiß und honigfarben strahlenden Barockstadt.

Eine Spezialität von Martina Franca sind zudem die kleinen Opern in diversen Masserie, den apulischen Bauernhäusern (meist zu Hotels oder B & Bs ausgebaut und veredelt) im Unesco-Welterbe des Itria-Tals der Trulli. Die 45. Festival-Ausgabe ist diesmal ganz der neapolitanischen Oper in ihren diversen Genre-Ausformungen vorbehalten. Dazu gehören auch die Intermezzi, die komischen Pauseneinlagen in ernsten Opern teilweise derselben Komponisten. Schließlich war Oper im 17. und 18. Jahrhundert ein stundenlang abend- und nachtfüllendes Vergnügen, bei dem es laut und hell zuging, bei dem man während der kurzen Karnevalsaison jeden Abend kam, sich mit den Mitwirkenden auf die eine oder andere Weise vergnügte, Bekannte traf und der Impresario meist noch einen Ridotto, einen Spielsalon, führte, um nicht nur Ausgaben, sondern auch Einnahmen zu haben. Ein soziales Ereignis eben.

Ein soziales Ereignis, mit viel Volk, ist ebenfalls zur Festivalabendeinstimmung das kostenlose „Concerto per il Spririto“, bei dem sich der Chor aus Piacenza ein weiteres Mal präsentiert – mit Brahms’ Deutschem Requiem in der Fassung für zwei Klaviere. Während draußen der abendliche Giro durch die Hauptstraße flaniert, ist die Basilica di San Martino mit dem mächtigen Relief des Heiligen über den Eingang  auch schon früh übervoll. Alte Damen unterhalten sich noch ungeniert weiter wenn schon längst das „Selig sind, die da Leid tragen“ begonnen hat. Staccatospitz klingen die Klaviere, amorph bleibt die Stimmenmasse in dem halligen Barockschiff. Nach jedem Satz wird geklatscht, viel Andacht, gar „spirito“ ist nicht, man spielt weiter auf den Handy, von der entzückenden Schäfermadonna her zuckt das Blitzlicht. „Silenzio“, das ist in einem Italien, wo fast überall der Fernseher in Dauerschleife läuft, kaum mehr möglich.

Auch nicht weiter taldraußen, in der schicken Masseria San Michele. Neben der Kapelle geht es erstmal als Opern-Aperitif zur Primitivo-Verkostung unter Sternen, mit Öl, Brot, Käse und Tomaten in den Garten, wo das Techno-Bum-Bum aus der Nähe, bellende Hunde, röhrende Motorräder noch nicht stören.

In umschlossenen Hof, vor der Hausfassade, die mit einem roten Kreuz und vielen Lichtgirlanden ausstaffiert ist, gibt es dann pausenlos gleich zwei Intermezzi, die eigentlich für fünf Zwischenakte von zwei Tragödien geplant waren. „L’ammalato imaginario“ von Leonardo Vinci, 1726 während dessen L’Ernelinda“ uraufgeführt, variiert Molières „Eingebildeten Kranken“, wenn hier eine junge Witwe sich einen Hypochonder anlacht, um versorgt zu sein. Dafür verkleidet sie sich als Arzt und überzeugt den Alten, dass gerade ihre Person das beste Heilmittel für ihn wäre. Natürlich ist er schnell desillusioniert, man bleibt aber trotzdem zusammen.

Auch „La vedova ingeniosa“ von Giuseppe Sellitti, als eines der letzten Intermezzi 1735 erstmals gegeben, variiert mit den obligaten zwei komischen Personen eine medizinische Geschichte. Diesmal stellt sich eine ebenfalls junge Witwe krank, um sich so an einen reichen Arzt heranzumachen. Zudem ringt sie ihm, verkleidet als ihr duellfreudiger Bruder, gleich das Heiratsversprechen ab. Das Genre kannte nicht sonderlich viel Abwechslung, höchstens dass mal noch eine gewitzte Magd (Pergolesis „La serva padrona“ ist ja als einziges Beispiel dieser Gattung noch wirklich bekannt) den üblichen Alten bezirzt.

Links im Bauernhof de luxe spielt das Orchesterchen Capella Musicale Santa Teresa die Marchi einen etwas dünnen Streichersound; dazu gibt es eine Theorbe und den ordentlich taktierenden Maestro Sabino Manzo am Cembalo. Sehr abwechslungsreich tönt das nicht. Zwar wurde hier dem einfachen Volk aufs Maul geschaut, das unverfroren seine Lüste und Schrullen lebt, vieles wird aber auch im Secco-Rezitativ abgehandelt, die uniform gestrickten Musiknummern sind selten, kommen, naturgemäß über Arien und Duette nicht hinaus; ebenfalls hinterlassen die Ouvertüren wenig Eindruck. Es war halt Pausenüberbrückung zwischen Sorbetti und Herzhafterem.

Doch das wird wettgemacht durch die beschwingt einfallsreiche Inszenierung von Davide Gasparro, der sich Maria Paola di Francesco ein rechts platziertes, raffiniertes  Bühnenbildobjekt hat bauen lassen. Das ist erst Rikscha und Thespiskarren in einem, rote Draperien und weiße Volants verweisen wieder auf den durch Lachen heilenden Hintergrund. Das Ding mutiert zum Himmelbett und zum Krankenlager, schließlich wird es zum Boxring der Duellanten mit Handschuh und Holzschwert.

Da wuseln also zudem zwei stumm pantomimische Diener mit Luftballons. Die perückenrotgelockte Lavinia Bini und der auch durch einen falschen Schnurbart nicht verunzierte Bruno Taddio spielen fesch und singen ansprechend – zumindest der Bariton. Die Sopranistin hat sich im Masserie-Freiluftdienst verkühlt und macht nur das Mündchen auf; hinten tönt nett Maria Silecchio. Was dem ganzen Ärzte- Durcheinander, bei dem auch noch der Mann unfreiwillig die Treppe runterfällt, eine gewisse surreale Note gibt. Die in dem gemütlichen Ambiente gern genossen wird. Auch weil das Festival von Martina Franca damit gegenüber der sommerlichen Festspielkonkurrenz, den Mainstream und Rossini beackernden Festivals in Macerata und Pesaro ein sympathisches Alleinstellungsmerkmal hat.

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Festival Martina Franca II: Für Porporas koloratursatten „Orfeo“ musste der Palazzo Pizzi Vorhänge lassen

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Das dickleibige Programmbuch ist in eine Art rustikale Picknickdecke eingeschlagen, das passt gut zum Außenprogramm in apulischen Bauernhöfen. Aber auch das Plakat für das  45. Festival della Valle d’Itria ist gelungen. Heißt doch dessen Moto „Neapel und Europa. Das goldene Zeitalter“. Aus einem einigermaßen goldenen (eigentlich kalkstein- und marmorweißen Palazzo Ducale, der mit seinem eher schmucklosen Innenhof als von nichts ablenkender Hauptspielort dient, und der wie ein Reisekoffer seinen Deckel geöffnet hat, flattern die Theaterzettel mit den diesjährigen Werken heraus: Neben den beiden Intermezzi von Vinci und Sellitti, die das niedrige Genre der neapolitanischen Oper manifestieren, geht es auch in der chronologischen Folge des Festspiel-Finales wie auf einem Zeitstrom zu. Auf diese beiden Werke von 1726 und 1735, beide in Neapel uraufgeführt, folgt eine in London erstmals gegebene Opera Seria des Neapolitaners Nicola Porpora, dessen Todestag sich letztes Jahr zum 250. Mal gejährt hat. Und weiter geht es mit dem Hauptwerk eines der berühmtesten Neapolitaner, Domenico Cimarosa, auch wenn dessen „Il matrimonio segreto“ 1792 in Wien das Licht der Opernwelt erblickte. Als Finale folgt schließlich der Übergang zum Klassizismus, die 1812 in Neapel herausgekommene „Ecuba“ des 21-jährigen Nicola Antonio Manfroce. Der starb freilich ein Jahr später, wir wissen nicht, ob er dem gleichzeitig seine Opernkarriere startenden und bald auch Neapel erobernden Gioachino Rossini hätte gefährlich werden können. Und außerdem war im Rahmen des Festivals auch noch einmal, als Hommage an dessen 200. Geburtstag, Jacques Offenbachs zweiaktige Opéra-comique „Coscoletto“ zu erleben, die einzige, die in einem längst schon zur Nudelkoch-Karikatur herabgesunkenem Neapel spielt – schließlich war die Opernhauptstadt des 19. Jahrhunderts ganz eindeutig Paris.   

Das alles hätte sicher auch Paolo Grassi gefeiert, der, sein Vater stammte aus Martina Franca, das Festival 1975 mitbegründet hat. Hier waren bisher weit über 100 Opern zu hören, und 100 Jahre wäre der ehemalige Journalist, Gründer des Mailänder Piccolo Teatro mit Giorgio Strehler, Scala-Intendant mit Claudio Abbado und RAI-Präsident, diesen Sommer geworden. Grund, ihn auch im eigenen Centro Paolo Grassi wie im Palazzo Ducale mit Ausstellungen, Buchveröffentlichungen und diversen Aufführungen und Veranstaltungen zu ehren.

Fotos: Clarissa Lapolla

Ein wenig mehr zum Porpora-„Orfeo“. Der ist eigentlich nur zu Teilen von ihm, ein typisches Pasticcio aus Originalarien und älteren Nummern von Hasse, Vinci, Francesco Araja, Franco Maria Veracini und Geminiano Giacomelli, die Porpora zusammengestellt, überarbeitet und mit Rezitativen versehen hat. So wurde mit einem koloraturgespickten Vehikel für die beiden Kastratensuperstars Farninelli und Senesino sowie die Primadonna Francesca Cuzzoni der ewige Londoner Opernkrieg mit Händel weiterangestachelt. Aus heutiger Sicht und nach dem Hören der von dem Musikwissenschaftler Giovanni Andrea Sechi neu editieren Partitur ist schnell klar, warum ein Gluck 30 Jahre später ausgerechnet mit einem „Orfeo“ die dringend nötige Opernreform miteinläutete.

Beim Stillstand beinah jeglicher Handlung ist der effektvolle Porpora-Arienmix nicht mehr als ein selbstzweckhaftes Konzert im Kostüm, aber damit passt es natürlich wunderfein in einen Raritätenkontext wie im dieses Jahr sehr sinnig komponierten Martina-Franca-Programm. Zumal es sogar ein wenig szenisch aufgehübscht wurde. Dieser „Orfeo“ ist erst beim Ende von Akt Zwei angekommen, wenn inhaltlich der halb so lange Gluck mit dem Begräbnis der Euridice ansetzt. Bei Porpora und seinem Librettisten Paolo Antonio Rolli geht es erstmal in die Unterwelt zu Pluto und seiner renitenten Proserpina, die teilzeitig auf die Erde zurückwill, und die schließlich den Herr des Hades dazu überredet, des Sängers tote Braut wieder zurückkehren zu lassen. Die giftige Schlange hat ihr nämlich König Aristeus an den weißen Hals gehetzt, der die Dame auch liebt, obwohl er sich eigentlich schon der boiotischen Prinzessin Autonoe versprochen hat. Eifersüchtelei, Neid und Missgunst auch hier, freilich beendet durch den göttlichen Gesang des Orpheus, der Pluto milde stimmt und ein glückliches Ende ermöglicht. Denn sogar das zerstrittene Paar findet sich.

Inszeniert besser arrangiert, kostümiert und beleuchtet hat das mit hübsch anzusehender Gestik Massimo Gasparon, Lebensgefährte und Langzeitassistent der mit 89 Jahren zwar restgrauhaarigen, aber keineswegs ruhigen Regieeminenz im Valle d’Itria, Pier Luigi Pizzi. Der hat vermutlich sogar die Brokatvorhänge und Seidendecken aus seinem venezianischen Palazzo gestiftet. Gasparon hat zudem das diesjährige Einheitsbühnenbild im Palazzo Ducale-Hof, drei weiße Kuben, schwarz verhängt und mit im Abendwind wehenden Vorhängen zum Katafalk umgewidmet.

Dazu sind zunächst das Götterpaar in lila Faltenwurf und goldenen Pappschnörkeln auf den überbordenden Roben, mit Helmbusch und Kürass auf den Stufen drapiert – ganz wie dem Kostümmusterbuch der Barockoper entsprungen. Der versatile Bass Davide Giangrigorio (der vor allem in seiner zweiten Arie an Statur gewinnt) und die pastose Giuseppina Bridelli singen sie beide mit Gusto.

Dann erscheinen voll Grandezza und Reifrockschwung die beiden Damen, deren launische Liebe hier verhandelt wird, und die zunächst gar nicht wissen, an wenn sie sich amourös eigentlich anheften wollen: Anna Maria Sara, etwas flach in der Tiefe, ist die blonde Euridice in Kobaltblaugolden. Burgunderrot glänzt und vokalfunkelt mit dunkler Perücke der lyrische Mezzo von Federica Carnevale als Autonoe.

Schließlich erscheinen noch zwei Herren der Schöpfung, beides Countertenöre als gar nicht schlechter Kastratenersatz. Der junge Südamerikaner Rodrigo Sosa dal Pozzo schummelt ein wenig in den Koloraturen, legt aber einen flamoyant royalroten Aristeus auf die Bretter. Und als Orfeo im Musikerrock, grün und ziegelfarben, kann der in der Höhe kurze Raffaele Pe sein weiche, langatmige Legatotechnik ausspielen. Ein fast schon sentimentalisch eingefärbte Künstlernatur, die, eine goldene Leier schlagend, aber auch vokal zubeißen kann.

Vier schwarzgewandete Statisten mit weißen Masken vollführen die Umbauten und sehen manierlich aus, ebenso das als Chor ausreichende, als dekorativer Rahmen fungierende  Vokalquartett in Weiß und Orange. So schlägt die kurzweilige, bisweilen auslandend prunkvolle Musik allerschönst die Zeit tot. Ihre Dramatik verdankt sie freilich weitgehend dem beherzten, souverän gliedernden Zugriff des barocken Dirigier-Krösus George Petrou. Mit seinem klangvoll aufrauschenden Armonia Atenea-Ensemble, hier erstmals und vermutlich nicht letztmals zu Gast, liefert er genau den instrumentalen Mehrwert, den ein solcher Catwalk der Arien braucht, um ihm wenigsten ein bisschen theatralischen Sinn zu verleihen. Was vollauf gelungen ist. Und auch die herrlichen Stöffchen haben ihre Schuldigkeit getan.

Schade nur, dass man vergessen hat, die bereitstehenden RAI-Mikrofone aufzubauen. So sieht sich wegen süditalienischen Schlendrians die Nachwelt leider um einen Mitschnitt als Tondokument gebracht. Aber immerhin, nach dem Festival ist vor dem Festival, hat die künstlerische Leitung aus Alberto Triola und Fabio Luisi bereits das Programm für 2020 bekannt gegeben: Man spielt von Ermanno Wolf-Ferrari „Gli amanti sposi“, Saverio Mercadantes „La rappresaglia“ und zum Beethoven-Jahr dessen „Fidelio“-Vorbild, die „Leonora“ von Ferdinando Paër. Klingt interessant, und das Programm bleibt sich linientreu.

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Festival Martina Franca III: Hier ist alles lecker – das Bergamotte-Eis und das Cimarosa-Opernsorbetto

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Salzige Pistazie, Bergamotte mit Basilikum, Maracuja-Käsekuchen. So exotisch wie die Opern sind in Martina Franca bisweilen auch die Eissorten. Yummi! Und dann gibt es natürlich auch noch Granite und Sorbette, für geschmackliche Abkühlung ist in Apulien reichlich und bestens gesorgt. Auch kulturell gibt es genügend Klang-Sorbets: als erfrischende kleine Konzerte, etwa mit den Sänger der Accademia Rudolfo Celletti, die auch die kleineren Rollen oder den Chor in den großen Opern beim Valle d’Itria-Festival übernehmen, und die hier ebenfalls mit Raritäten aus dem italienischen Salonliedrepertoire überraschen, das reichhaltiger ist als vermutet. Ein Sorbetto als Oper ist natürlich auch das einzig überlebende der über 70 Musiktheaterwerke Domenico Cimarosas, „Il matrimonio segreto“: eine kaum Rokoko-verkleidete Verheiratungskomödie in bester Commedia dell’arte-Tradition, mit einem alten, schwerhörigen, reichen, aber geizigen Hagestolz, der seine ältere Tochter unter eine adelige Haube bringen möchte. Die zweite Tochter freilich ist schon einem seiner Angestellten heimlich anvertraut. Und dann ist da noch die nicht unvermögende verwitwete Tante, die ebenfalls ein Auge auf diesen Paolini geworfen hat. Genug generöse Verwicklungen, um über zwei Aktrunden zu kommen. Ein Jahr nach Mozarts Tod in Wien wurde uraufgeführt und so begeistert aufgenommen, dass der Kaiser – damals hatte man noch Zeit – das Werk gleich wiederholen ließ.

Fotos: Paolo Conserva

Der Titel der mit liebenswürdiger, aber nicht unbedingt genialer Musik aufwartenden bürgerlichen Buffa ist hingegen nie aus dem Repertoire verschwunden. Nur sechs, nicht übermäßig schwere Rollen, diverse federleicht dahinplappernde Ensembles, zwei spritzige Finali, eine zeitlose Vorlage, das lässt sich immer leicht premiereneinschieben. Und trotzdem: Sehr oft war der einstige Bestseller in den letzten Jahren gar nicht auf den Bühnen zu erleben. Also durchaus, auch weil es ins Neapel-Thema passt, ein Stück für Martina Franca.

Und für den selbst ausstattenden Regie-Doyen Pier Luigi Pizzi, der nach sehr viel arg ernster, wenn auch stets ästhetischer seriöser Opernherumsteherei im Alter wieder auf den komischen, ja sogar beweglichen Geschmack gekommen ist. Und weil – Italien halt – mal wieder kurzfristig das Budget gestutzt wurde, hatte er sich schon im Festival-Vorfeld bereit erklärt, die ursprünglich ihm zugedachte ernste Oper und die Komödie auch noch zu übernehmen – in derselben Bühnenbildstruktur, aber nicht „Ariadne auf Naxos“-gleichzeitig.

Auch der alte Pizzi lässt das Mausern nicht. Er liebt Sorbetti, bei ihm gern in Gestalt wohlgeformt (halb)nackter Männlichkeit. Aber Achtung, alles consensual, also einvernehmlich wie das heute #MeToo-gerichtsdeutsch heißt. Und damit dieser Programmpunkt schnell erledigt ist, ereignet er sich gern gleich zu Inszenierungsanfang, so wie die Cameo-Auftritte Alfred Hitchcocks. Das Sorbetto heißt diesmal Alasdair Kent und gibt als nett singender, schlecht blondierter Twinktenorino den Paolino, der erstmal nur im Slip aus dem (getrennten) Schlafzimmer kommt und gleich nach dem Bademäntelchen langt; aus er anderen Richtung erscheint Gattin Carolina (die flockig trillernde Benedetta Torre).

Wir befinden uns in einem dreiteilig weißen, italoschicken Loft mit viel moderner Kunst an der Wand, in Gelb, weiß, schwarz und rot, sehr passend zum Ambiente, aber teuerste Arte Povera von Luigi Fontana und Alberto Burri. Laut Pizzi ist der bald hineinplatzende Papa Geronimo Kunsthändler, Paolonio sein ebenfalls im Haushalt lebender Assistent. Marco Filipo Romano, optisch Matthias Goerne nicht unähnlich, singt ihn im knatschgelben Anzug mit fruchtig prallem, geläufigem Bariton. Auch die beiden anderen, kostümmäßig ein wenig Seventies-Atmosphäre einbringenden Frauen, Maria Laura Iacobellis als  mit der schwersten, exzellent gemeisterten Arie bedachte Elisabetta, und Ana Vittoria Pitts als mezzovibratobebend gurrende Tante Fidalma, haben es sich schnell in den diversen Sitzgruppen bequem gemacht. Schließlich verströmt im blauen Anzug mit Op-Art-Optik-Hemd der kantige Bariton von Vittorio Prato als Graf Robinson ein wenig adelige Exzentrität.

Das schnurrt soap opera-flutisch wie die 100x-ste „Rote Rosen“-Folge ab, die effektreiche Dramaturgie macht klipp und klapp, so wie auch die Türen. Sie wird zudem beflügelt vom fehlerfrei ablaufenden Cimarosa-Soundtrack des Orchestra del Teatro Petruzzelli di Bari, den – ähnlich temperamentbeschwingt wie jüngst Offenbachs „Barbe-Bleu“ in Lyon – Michele Spotti mit viel rhythmischer Verve und abwechslungsreich spritzig, aber auch süß blubbernd dirigiert. Oper im Süden – sorbettoschööön!

Der Beitrag Festival Martina Franca III: Hier ist alles lecker – das Bergamotte-Eis und das Cimarosa-Opernsorbetto erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

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