
Eigentlich alles gut gelaufen, beim 45. Festival della Valle d’Itria. Nur hinter den Kulissen gab es die offenbar unvermeidlichen convenienze ed inconvenienze teatrali alla Italiana, obwohl man Donizetti inzwischen dem wiedererstarkten Festival in Bergamo überlässt. Am Stärksten betroffen war diesmal die szenische Rarität der Saison, die schon mal 1992 in Salerno gegebene, mit Anna Caterina Antonacci auch eingespielte, aber jetzt in einer kritischen Partituredition vorliegende „Ecuba“ von Nicola Antonio Manfroce. Erst kam ihr, kurz vor der Premiere, wegen Krankheit der Maestro abhanden. Festivalmusikchef Fabio Luisi musste sich abmelden, konnte aber nicht seinen schon seit Monaten ebenfalls mit dem Stück beschäftigten Assistenten durchdrücken. Stattdessen stand der ebenfalls im Offenbach-„Coscoletto“ beschäftigte Sesto Quadrini am Pult, der sich freilich noch einer japanische Stalkerin zu erwehren hatte, die wüst herumpöbelte und in ihrer Tasche eine von den sie zeitweise festsetzten Carabinieri misstrauisch beäugte Flüssigkeit mit sich führte. Dann fiel vor der Generalprobe auch noch die Protagonistin Carmela Remigio aus. Obwohl sie bis zur Premiere wieder genesen war, durfte sie nicht singen, da die live sendende RAI auf der bereits in der für Sicherungszwecke aufgezeichneten Generale zu hörenden, 23-jährigen Einspringerin Lidia Friedman bestand. Nur gut, dass sich der hier vielbeschäftige Regie-Altmeister Pier Luigi Pizzi als stoischer Fels in der Premierenbrandung erwies. Stoisch ist freilich auch seine bewährt ästhetisierende Inszenierung als Rumsteh-Konzert mit Armeschwenken zu werten, die bisweilen aussieht wie Robert Wilson ohne Raffinesse, dafür aber mit dem üblich Halbnackten als Greisendessert.

Der wurde in der appetitlich christusglichen Gestalt des eigentlich gar nicht auftretenden toten Hektors schon zu den wenigen Ouvertüren-Takten auf einem Altar platziert; immerhin wird so die Vorgeschichte klar: Königin Hekuba von Troja, die bei Berlioz nur als fast stumme, ein paar Ensembles mitbestreitende Gestalt im ersten „Les Troyens“-Teil vorkommt, ist sauer auf Archill, der ihren Sohn gemordet hat. Dumm nur, dass sich ihre Tochter Polixena (das Stockholm-Syndrom ist offenbar antikealt) ausgerechnet in ihn verliebt. Papa Priamos stellt die Rache über die Staatsraison und will die Tochter diplomatisch verheiraten, um so die Griechen günstig zu stimmen. Was sich als ähnlich fatal erweist wie ein trojanisches Pferd. Die Gegner morden nämlich im Hintergrund auch ohne Rücksichtnahme auf den „Es ist kompliziert“-Beziehungsstatus des amourösen Archill. Worauf, Frauen sind halt so emotional, Hekuba als böses Schwiegermonster den Frischgetrauten niedermetzeln lässt. Ein schnelles Ende mit Schrecken und ohne Gesang, nach nur einer Stunde und 50 Minuten in drei Akten.

Beauftragt hatte den hoffnungsvollen Komponisten aus Kalabrien, der 1810 seinen Opernerstling („Alzira“) vorgelegt hatte, kein geringerer als er allmächtige Impresario Domenico Barbaria für sein Teatro San Carlo in Neapel, die bedeutendste Opernbühne mindestens in Italien. 1812 fand dort die Uraufführung statt, doch ein Jahr später war Manfroce schon tot – erst 22-jährig. Er hätte, das hört man in der faszinierend ungleichgewichtigen, zwischen italienischer Konvention und französischer Klassizismus-Experimentierlust schwankenden, melodieverliebten, aber auch gipserne Falten werfenden Partitur, zu durchaus spannenden Hoffnungen berechtigt.

Die dann freilich glorios nur knapp zwei Monate später der noch nicht 21-jährige Gioachino Rossini in Venedig mit seinem der „Ecuba“ in der Anlage nicht unähnlichen, aber viel besser seria-gemeistertem „Tancredi“ einlöste. Und das war bereits dessen zehntes Musiktheaterwerk; allein sieben wurden bereits in den vorangegangene 12 Monaten uraufgeführt! Mit Manfroces beiden Tenorstars, Manuel Garcia und Andrea Nozzari ,sollte Rossini dann im „Barbiere di Seviglia“ bzw. in seinen prunkvollen Seria-Opern zusammenarbeiten, die er als neuer Barbaia-Protegé ab 1815 im Königreich beider Sizilien verfertigte. Ob Manfroce und Rossini wohlmöglich in eine kreative Konkurrenz getreten wären? Eine interessante Hypothese.

Uninteressant ist leider die szenische Manfroce-Gegenwart. Im öden ersten „Ecuba“-Akt bespielt Pizzi seinen inzwischen Apulien-bekannten dreiteiligen Kubus kaum. Wo tags zuvor noch das Cimarosa-Personal zwischen bunter Arte Povera über die Sitzecken quirlte, dräuen jetzt schmucklose Säulen. Der ordentliche Chor vom Teatro di Piacenza baut sich, streng geschlechtergetrennt und selten händeringend, über den in die linke (Männer, schwarz) und rechte Ecke Frauen, lila) gekanteten Treppen ins Nirgendwo auf. In der Mitte versammeln sich die vier Protagonisten (es gibt noch zwei Stichwortgeber, wobei Martina Gresias Vertraute Teona mit mezzosatt gerundeten Einwürfen Substanzielleres beizusteuern hat) um einen Stufenaltar. Da wird erst der Tote betrauert, dann geheiratet. Schließlich tragen fünf dekorative Statisten den dort gemordeten Archilles davon. Uninspirierte Arrangements eben, Old Pizzi style.

Es wird, trotz des hektischen Librettos von Giovanni Schmidt, spannender im pausenlos anschließenden zweiten Teil. Die Arien blühen individueller auf, ein Quartett, das in das straffe Concertato-Finale übergeht, offenbart schöne Melodien und Harmonien. Aber die ganze Opernstruktur ist kurzatmig, kommt nie zum Blühen, sackt immer wieder schnell zusammen. Also ob ihr Schöpfer geahnt hätte, dass ihm die Zeit davonläuft. Hurtig wird der dritte Akt erledigt, mit deklamierendem Accompagnato-Rezitativ, dass – bewusst kulturopportunistisch platziert – den damaligen napoleonischen Machthabern unter Murat in Neapel mit ihrer vertrauten französischen Opernschule der tragédie lyrique schmeicheln sollte. Für die „Ecuba“ ergibt das eine interessante Zwitterhaftigkeit der Stile. Es endet mit der Königin auf leerer Bühne, die sich in einem letzten, abgerissen, naturalistischen und doch stilisierten Monolog ihrer Verzweiflung hingibt, bevor das Orchester die Finalführung übernimmt.

Das Orchester des Teatro Petruzzelli di Bari spielt unter dem präzise Zeichen setzenden Sesto Quatrini mit dramatischer Attacke und ruhigem, sanftmütig harmonisch tönendem Fluss. Nie erregt sich die Musik wirklich, sie begleitet genügsam, wie auch die Protagonisten in keinem Ton außer sich geraten, dafür den dramatischen Bögen Kontinuität verleihen.

Carmela Remigio, hager, in eng fallendem lila Gewand mit weißer Schärpe (die Kombination wiederholt Ausstatter Pizzi bei allen in Variationen mit Schwarz) ist eine herbe, mitunter schartig singende Hekuba; was der in ihrem Schmerz maßlosen, bald verhärtenden Königin gut ansteht. Die zwischen Liebe und Familienbindung sich quälende Polissena von Roberta Mantegna singt bisweilen etwas gekniffen, mit kippliger Tongebung. Weniger individuell gezeichnet sich die beiden Männer. Norman Reinhardt, der auch in – Pizzi kann es nicht lassen! – Strumpfhosen bella figura macht, fühlt sich mit seinem virilen Baritenore als Archilles hörbar wohl, kraftvoll durchpflügt er seine Gesanglinien. Mert Süngü tut sich als Priamo mit der Tessitur und der Extremhöhe schwer.

Insgesamt eine interessante, Martina-Franca-typische Repertoirewahl. Die einmal mehr zeigt, wie sich damals der Schwan von Pesaro sich als melodisch strahlender wie innovativer Phönix aus der zeitgenössisch öden italienischen Opernasche erheben konnte.

Der Beitrag Martina Franca Festival IV: In Manfroces „Ecuba“ hat das trojanische Schwiegermonster schwankende Qualität erschien zuerst auf Brugs Klassiker.