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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Martina Franca Festival IV: In Manfroces „Ecuba“ hat das trojanische Schwiegermonster schwankende Qualität

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Eigentlich alles gut gelaufen, beim 45. Festival della Valle d’Itria. Nur hinter den Kulissen gab es die offenbar unvermeidlichen convenienze ed inconvenienze teatrali alla Italiana, obwohl man Donizetti inzwischen dem wiedererstarkten Festival in Bergamo überlässt. Am Stärksten betroffen war diesmal die szenische Rarität der Saison, die schon mal 1992 in Salerno gegebene, mit Anna Caterina Antonacci auch eingespielte, aber jetzt in einer kritischen Partituredition vorliegende „Ecuba“ von Nicola Antonio Manfroce. Erst kam ihr, kurz vor der Premiere, wegen Krankheit der Maestro abhanden. Festivalmusikchef Fabio Luisi musste sich abmelden, konnte aber nicht seinen schon seit Monaten ebenfalls mit dem Stück beschäftigten Assistenten durchdrücken. Stattdessen stand der ebenfalls im Offenbach-„Coscoletto“ beschäftigte Sesto Quadrini am Pult, der sich freilich noch einer japanische Stalkerin zu erwehren hatte, die wüst herumpöbelte und in ihrer Tasche eine von den sie zeitweise festsetzten Carabinieri misstrauisch beäugte Flüssigkeit mit sich führte. Dann fiel  vor der Generalprobe auch noch die Protagonistin Carmela Remigio aus. Obwohl sie bis zur Premiere wieder genesen war, durfte sie nicht singen, da die live sendende RAI auf der bereits in der für Sicherungszwecke aufgezeichneten Generale zu hörenden, 23-jährigen Einspringerin Lidia Friedman bestand. Nur gut, dass sich der hier vielbeschäftige Regie-Altmeister Pier Luigi Pizzi als stoischer Fels in der Premierenbrandung erwies. Stoisch ist freilich auch seine bewährt ästhetisierende Inszenierung als Rumsteh-Konzert mit Armeschwenken zu werten, die bisweilen aussieht wie Robert Wilson ohne Raffinesse, dafür aber mit dem üblich Halbnackten als Greisendessert.

Fotos: Clarissa Lapolla

Der wurde in der appetitlich christusglichen Gestalt des eigentlich gar nicht auftretenden toten Hektors schon zu den wenigen Ouvertüren-Takten auf einem Altar platziert; immerhin wird so die Vorgeschichte klar: Königin Hekuba von Troja, die bei Berlioz nur als fast stumme, ein paar Ensembles mitbestreitende Gestalt im ersten „Les Troyens“-Teil vorkommt, ist sauer auf Archill, der ihren Sohn gemordet hat. Dumm nur, dass sich ihre Tochter Polixena (das Stockholm-Syndrom ist offenbar antikealt) ausgerechnet in ihn verliebt. Papa Priamos stellt die Rache über die Staatsraison und will die Tochter diplomatisch verheiraten, um so die Griechen günstig zu stimmen. Was sich als ähnlich fatal erweist wie ein trojanisches Pferd. Die Gegner morden nämlich im Hintergrund auch ohne Rücksichtnahme auf den „Es ist kompliziert“-Beziehungsstatus des amourösen Archill. Worauf, Frauen sind halt so emotional, Hekuba als böses Schwiegermonster den Frischgetrauten niedermetzeln lässt. Ein schnelles Ende mit Schrecken und ohne Gesang, nach nur einer Stunde und 50 Minuten in drei Akten.

Beauftragt hatte den hoffnungsvollen Komponisten aus Kalabrien, der 1810 seinen Opernerstling („Alzira“)  vorgelegt hatte, kein geringerer als er allmächtige Impresario Domenico Barbaria für sein Teatro San Carlo in Neapel, die bedeutendste Opernbühne mindestens in Italien. 1812 fand dort die Uraufführung statt, doch ein Jahr später war Manfroce schon tot – erst 22-jährig. Er hätte, das hört man in der faszinierend ungleichgewichtigen, zwischen italienischer Konvention und französischer Klassizismus-Experimentierlust schwankenden, melodieverliebten, aber auch gipserne Falten werfenden Partitur, zu durchaus spannenden Hoffnungen berechtigt.

Die dann freilich glorios nur knapp zwei Monate später der noch nicht 21-jährige Gioachino Rossini in Venedig mit seinem der „Ecuba“ in der Anlage nicht unähnlichen, aber viel besser seria-gemeistertem „Tancredi“ einlöste. Und das war bereits dessen zehntes  Musiktheaterwerk; allein sieben wurden bereits in den vorangegangene 12 Monaten uraufgeführt! Mit Manfroces beiden Tenorstars, Manuel Garcia und Andrea Nozzari ,sollte Rossini dann im „Barbiere di Seviglia“ bzw. in seinen prunkvollen Seria-Opern zusammenarbeiten, die er als neuer Barbaia-Protegé ab 1815 im Königreich beider Sizilien verfertigte. Ob Manfroce und Rossini wohlmöglich in eine kreative Konkurrenz getreten wären? Eine interessante Hypothese.

Uninteressant ist leider die szenische Manfroce-Gegenwart. Im öden ersten „Ecuba“-Akt bespielt Pizzi seinen inzwischen Apulien-bekannten dreiteiligen Kubus kaum. Wo tags zuvor noch das Cimarosa-Personal zwischen bunter Arte Povera über die Sitzecken quirlte, dräuen jetzt schmucklose Säulen. Der ordentliche Chor vom Teatro di Piacenza baut sich, streng geschlechtergetrennt und selten händeringend, über den in die linke (Männer, schwarz) und rechte Ecke Frauen, lila) gekanteten Treppen ins Nirgendwo  auf. In der Mitte versammeln sich die vier Protagonisten (es gibt noch zwei Stichwortgeber, wobei Martina Gresias Vertraute Teona mit mezzosatt gerundeten Einwürfen Substanzielleres beizusteuern hat) um einen Stufenaltar. Da wird erst der Tote betrauert, dann geheiratet. Schließlich tragen fünf  dekorative Statisten den dort gemordeten Archilles davon. Uninspirierte Arrangements eben, Old Pizzi style.

Es wird, trotz des hektischen Librettos von Giovanni Schmidt, spannender im pausenlos anschließenden zweiten Teil. Die Arien blühen individueller auf, ein Quartett, das in das straffe Concertato-Finale übergeht, offenbart schöne Melodien und Harmonien. Aber die ganze Opernstruktur ist kurzatmig, kommt nie zum Blühen, sackt immer wieder schnell zusammen. Also ob ihr Schöpfer geahnt hätte, dass ihm die Zeit davonläuft. Hurtig wird der dritte Akt erledigt, mit deklamierendem Accompagnato-Rezitativ, dass – bewusst kulturopportunistisch platziert – den damaligen napoleonischen Machthabern unter Murat in Neapel mit ihrer vertrauten französischen Opernschule der tragédie lyrique schmeicheln sollte. Für die „Ecuba“ ergibt das eine interessante Zwitterhaftigkeit der Stile. Es endet mit der Königin auf leerer Bühne, die sich in einem letzten, abgerissen, naturalistischen und doch stilisierten Monolog ihrer Verzweiflung hingibt, bevor das Orchester die Finalführung übernimmt.

Das Orchester des Teatro Petruzzelli di Bari spielt unter dem präzise Zeichen setzenden Sesto Quatrini mit dramatischer Attacke und ruhigem, sanftmütig harmonisch tönendem  Fluss. Nie erregt sich die Musik wirklich, sie begleitet genügsam, wie auch die Protagonisten in keinem Ton außer sich geraten, dafür den dramatischen Bögen Kontinuität verleihen.

Carmela Remigio, hager, in eng fallendem lila Gewand mit weißer Schärpe (die Kombination wiederholt Ausstatter Pizzi bei allen in Variationen mit Schwarz) ist eine herbe, mitunter schartig singende Hekuba; was der in ihrem Schmerz maßlosen, bald verhärtenden Königin gut ansteht. Die zwischen Liebe und Familienbindung sich quälende Polissena von Roberta Mantegna singt bisweilen etwas gekniffen, mit kippliger Tongebung. Weniger individuell gezeichnet sich die beiden Männer. Norman Reinhardt, der auch in  – Pizzi kann es nicht lassen! – Strumpfhosen bella figura macht, fühlt sich mit seinem virilen Baritenore als Archilles hörbar wohl, kraftvoll durchpflügt er seine Gesanglinien. Mert Süngü tut sich als  Priamo mit der Tessitur und der Extremhöhe schwer.

Insgesamt eine interessante, Martina-Franca-typische Repertoirewahl. Die einmal mehr zeigt, wie sich damals der Schwan von Pesaro sich als melodisch strahlender wie innovativer Phönix aus der zeitgenössisch öden italienischen Opernasche erheben konnte.

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Rosendal Chamber Music Festival I: Musikgeschichten von Schmerz und Pein im norwegischen Fjordidyll

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Erstaunlich, wie entschleunigend selbst für einen Hardcore-Festival-Hopper 90 Schiffsminuten sein können. Freilich ist schon die tiefsesselige Cafeteria im schnuckelig kleinen Bergen Airport ganz entspannt, und nach zehn Busshuttleminuten steht man am Bootssteg. Das schnelle Fährschiff ist neu und bequem (wir sind im reichen Norwegen), das Wetter ist herrlich. Landzungen und Inseln, alle bunt mit Sommerhäusern besprenkelt, fliegen vorbei. Das Grün ist sehr grün, die Berge sind sehr lila, das Meer besonders blaugrau. Wolken reißen dramatisch auf, durch einen engen Kanal und einer Brücke hindurch geht es in den 180 Kilometer tiefen Hardangerfjord. Auf der anderen Uferseite liegt das Ziel: Rosendal.

Sagt man in Norwegen „Rosendal“, dann lächeln alle. Denn jeder verbindet irgendeine schöne Ausflugserinnerung an dieses Versailles der Fjorde. Stopp. Die Baroniet, wie es offiziell heißt, mag zwar für die Einheimischen die Bedeutung des französischen Königssitzes haben, aber was sich da in einem lieblich grünen Tal zwischen zwei Hügeln, vor zwei Wasserfällen und hinter dem namengebenden Rosengarten präsentiert, ist das einzige nicht königliche Schloss überhaupt, dass es in diesem Land gibt.

Und ein vergleichsweise kleines, frühbarockes zumal. Als Hochzeitsgeschenk für die damals reichste Erbin mit einem Dänen wurde es 1665 fertiggestellt, 13 Jahre später adelte König Christian V. von Dänemark-Norwegen die Besitzer zu Baronen.

Immer schon war hier die Kultur zu Hause, Edvard Grieg und Henrik Ibsen produzierten sich in seinen Salons, alle romantischen Maler pinselten den Postkartenblick, und auch Leif Ove Andsnes, international berühmter Pianist aus Norwegen seit 30 Jahren, hat da schon als Jugendlicher gespielt. Er wohnt seit langem in Bergen, früher hatte er ein Festival in Südnorwegen. Jetzt ist er, zum vierten Mal und mit Freunden, sein eigener Klangherr über Rosendal, vier Kammermusikfesttage lang.

„Jeder, der hierherkommt, wird berührt durch die Eleganz und klare Schönheit dieses Ortes“, erzählt der inzwischen 49-Jährige, der mit Hornbrille und glattem Haar viel seriöser wirkt als mit seinen Stoppeln von früher, während er sich an einen Baum lehnt und zum Wasserfall blickt. „Jeder ist hier sofort mit der Natur im Einklang, die besonders an einem so heiteren Sommertag, so harmonisch und sanftmütig scheint, wie nur an wenigen Orten in Norwegen. Bäche, Wiesen, Felder, Wälder, das Dorf, das Meer, die Berge – alles ein Panoramablick. Die Natur flutet förmlich durchs Fenster – und ja, sie flutet auch durch mich. Ich merke immer wieder, wie sehr ich das brauche, wenn ich es gerade nicht habe.“

Das letzte Schubert-Jahr 1828, Mozarts Kammermusik, der Erste Weltkrieg. Das waren die nicht nur beschaulichen, sommerlich heiteren Themen, die sich Leif Ove Andsnes bisher für Rosendal ausgedacht hat. Und dieses Jahr dreht sich alles um Dmitri Schostakowitsch, der allein mit 18 Werken verteren ist. Man merkt Andsnes den gewieften Programmmacher an, die drei kompletten, über vier Tage verteilten Konzertabläufe sind clever getaktet, über die konzentrierten Spielorte verteilt, sehr gut, überraschungs- wie abwechslungsreich kuratiert.

Das Thema und die Stücke stehen im Fokus, die Prominenz mancher Interpreten, die sich hier mit aufhorchen machendem norwegischen Nachwuchs mischt, ist eigentlich sekundär. So ist es auch nicht wirklich ein Drama, wenn der vielbeschäftigte Igor Levit aus Krankheitsgründen kurzfristig absagen muss. Natürlich fehlt mit den 24 Präludien und Fugen, die er spielen wollte, ein zentraler Schostakowitsch-Programmpunkt, aber die anderen machen ihn mit Alternativen wett. Und wenn das Ersatzkonzert nicht ganz so lange dauert – umso entspannter.

Man kommt hierher, inzwischen – man hört, deutsch, englisch, französisch unter den relaxten, meist bequem gekleideten Besuchern – auch gezielt aus dem Ausland, um der Sache und der sehr besonderen Atmosphäre willen. Das Dorf ist nahe am Meer, das Garden Café im gemütlichen Gewächshaus lockt mit lecker Ökoessen aus eigener Zucht, sündigen darf man dann an der Kuchentheke im Teesalon des Schlösschens, das mit Interieurs von der Renaissance bis zum Biedermeier aufwartet.

Kaum sind wir angekommen, geht es mit der unverdrossen die faule Presse selbst auf den kurzen Wegen autoshuttelnden Medienbetreuerin erst zum sich an den Strand schmiegenden Fjordhotell und dann gleich zum ersten Konzert. Das findet im „Rittersaal“ statt – ein Euphemismus, für die nette, rotgestrichene, extra für das erste Festival adaptierte  Scheune, auf deren Boden man früher direkt mit dem Heuwagen fahren konnte. Jetzt ist der halb entfernt, der Rest ist Rang, und unter dem freiliegenden Steildach liegt der große, weißgestrichene Konzertsaal, der 400 Personen fasst. Im Foyer werden Schafsfelle verkauft, aber drinnen ist es eher stickig. Denn es ist ungewöhnlich warm, die offenen Fenster an den Seitenbänken sind die begehrtesten Plätze.

In der langgezogenen Scheune, dahinter steht noch ein Gästehaus, in denen viele der Künstler wohnen, auch Andsnes mit Frau und drei Kindern, musste der Nachhall verlängert werden. Dafür ist die weltweit operierende kalifornische Firma Meyer Sound zuständig, die ihr raffiniertes Klangsystem immer noch anpasst, mit Enthusiasmus betreut – und sogar das Festival finanziell unterstützt. So wie maßgeblich auch die Stiftung Kristian Gehard Jebsen – denn ohne Geld koa Musi’.

Für das so kompakte wie komplexe Schostakowitsch-Panorama hat sich Leif Ove Andsnes den Experten Gerard McBurney dazu geholt, der auch die Einführungen und Talks von seinem Thema begeistert betreut. Von dem stammen nicht nur einige der kammermusikalischen Adaptionen und Werkvervollständigungen, er brachte auch, neben den schon toten Zeitgenossen der Zentralgestalt, den 1943 geborenen Alexander Vustin mit. Der soll mit allein sechs Kompositionsbeiträgen als starke Stimme der sowjetrussischen Nachgeborenen fungieren.

Und er tut das gleich im ersten Konzert mit dem nachdrücklichen „Zaitsev’s Letter“,  einer originalen, brennenden Anklage eines Gefangenen während der Perestroika-Zeit, der die Zustände in den sowjetischen Gefängnissen anprangert. Der Tenor Christophe Poncet de Solages spricht, schreit, flüstert und singt das furios, Streichorchester (auch singend) und große Trommel samt Geräuschen aus dem Gulag steigern das zu filmmusikalisch dichter Beklemmung. Und danach legt, auf gleicher emotionaler Schiene, aber vergeistigter, transzendenter, neuerlich das hervorragend synchrone Ensemble Allegria mit Schostakowitschs von Rudolf Barschai zur Kammersinfonie Opus 110a umgearbeitetem 8. Streichquartett nach. Die kraftvollen Legato-Linien dieser Saitentruppe lässt dann doch die Künstlichkeit der Akustik klar werden. Sie wirkt viel durchsichtiger als das rein räumlich möglich wäre, aber genau deshalb sind die Klangmanipulatoren da; denn eine so große Musikerzahl hatte das junge Festival noch nie auf dem Podium. Also wird weiter feinjustiert.

Musikgeschichten von Schmerz und Pein, wie sie das Leben Dmitri Schostakowitschs durchziehen, wie bei kaum einem anderen Komponisten des gewaltreichen 20. Jahrhunderts. Doch es gibt auch den heiteren, verspielt albernen Schosti, Andsnes weiß das, und so stehen am Anfang des Konzerts, das er selbst mit der Konzeptvorstellung eröffnet, dann redet die amtskettenbehangene Landrätin , noch unbeschwerte Jugendwerke, die zwei Stücke für Streichoktett Opus 11. Die versammeln in engstem Stimmenaustausch gleich mehrere der Festival-Protagonisten: Bratschistin Tabea Zimmermann und Cellist Clemens Hagen, der erstmals da ist, das hervorragend intensive Quatour Danel sowie die beiden Geigerinnen Veriko Tchunburidze aus der Türkei und Sonoko Miriam Welde aus Norwegen.

Edison Denisovs schräge Klarinettensolosonate, virtuos geblasen von Anthony McGill, Solist des New York Philharmonic leitet aber schon über in den ernsteren Teil. Man soll sich mitten in der Schönheit des Orts die „Lieder und Tänze des Todes“ vergegenwärtigen. Mussorgsky war Schostakowitsch nicht nur Vorläufer, er hat ihn oft orchestriert, auch diesen vierteiligen Liedzyklus. Leif Ove Andsnes sitzt jetzt als nicht nur Begleiter am Klavier, der junge, saftig klingende ukrainische Bassbariton Andrei Bondarenko, vielgebucht von Teodor Currentzis, singt sie mit geschmeidiger Gestaltungskraft. Und so ist auch nach diesem ersten Konzert von Rosendal 4 das Level bereits gesetzt: hoch, aber gelassen.

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Rosendal Chamber Music Festival II: Leif Ove Andsnes weiß von ersten und letzten Schostakowitsch-Dingen

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Die Kunst des Kammermusikfestival-Kuratierens: viel Musik, aber nicht überfordern; Wechsel der Konzertsäle und Formate, variable Längen, gute Künstlerdurchmischung, ein spannendes Thema. Alles das hat Leif Ove Andsnes auch bei der vierten, diesmal Dmitri Schostakowitsch & Friends gewidmeten Ausgabe seines Rosendal Chamber Music Festivals berücksichtigt. Wobei die schöne, doch intensive Atmosphäre in der Scheune des intimen Schlösschen am Hardangefjord geographisch wie ästhetische das Ihrige tut, um dieses verlängerte Wochenende zu einem eindrücklichen Ohr- und Augeerlebnis werden zu lassen. Zwischen der Musik gibt es Gespräche und Diskurse darüber, es ist genügend Essenzeit, aber auch Muse für Spaziergänge zum Wasserfall oder zwischen den Bergen Melderskin und Malmangernuten zum Hochtal wandern, über dem der Folgefonna-Gletscher züngelt.

Wie also sieht nun so ein Work/Festival Flow in Norwegen aus? Wir starten den zweiten Festival-Tag in der Kvinnherad-Steinkirche von 1250, die sich trotzig über der Küste erhebt. Und natürlich schweift der Blick erst einmal über die sonnige Meerlandschaft. Wie Kirchgänger ziehen auch die Konzertbesucher ein. Drinnen ist der blaue Holzhimmel mit Sternen bemalt, ein Schiffsmodell hängt im Raum. Hier ist die Stimmung noch konzentrierter. Trotzdem gibt es erst bessere, durchaus auch ambivalente Unterhaltungs- und Gelegenheitsmusik von Schostakowitsch & Co in kleiner Besetzung. Jugendwerke zumeist, die von seinem vielfältigen Stilspektrum künden.

Das eminent festivalwichtige, ungemein dicht musizierende Quatuor Danel setzt mit zwei Stücke für Streichquartett von 1931 den Anfang. Aus Balletten und Filmmusiken wurden 1955 die fünf Stücke für zwei Violinen und Klavier kompiliert, die Veriko Tchumburidze und Sonoko Miriam Welde, zwei echte Entdeckungen, mit makellos reinem Ton seinsvergessen klar, aber auch nachdenklich spielen; der vielbeschäftigte Sasha Grynyuk ist ihr distinguierter Klavierbegleiter. Er und die ebenfalls so versatile wie anschlaggewandte Pianistin Marianna Shirinyan sind anschließend mit den drei Stücken der originalen 2. Jazz Suite von 1938 zu hören, Annäherungen an Populärmusik, aber eben mit einem schrägen Schostakowitsch-Touch.

Dazu passend krönt vor der Pause Tabea Zimmermann, sekundiert von Shiriniyan, mit ihrem sämig-zarten, runden, aber nie fetten Ton ein Bratschenarrangement von fünf Tänzen aus Sergej Prokofiews Ballett „Romeo und Julia“. Der zweite, dunklere Konzertteil konzentriert sich auf zwei Werke, drei verstörende Klavierlieder Alexander Vustins – auch er eine aufregende Festival-Überraschung als Composer in Residence –, gespielt von Sasha Grynyuk, sowie die verloren depressive, sich aber immer wieder hoffnungsaufraffende Cellosonate Schostakowitschs, hervorragend klangsensibel und schön ausgewogen gespielt von Clemens Hagen und Marc-André Hamelin. Danach müssen die Musikfreunde hinaus ins Offene, die Natur lockt unaufhaltsam.

Freitag ist der Marathontag. Vier Hörstationen sind zu absolvieren, aber das empfindet keiner als Pflicht, eher als konzentrierte Lust. Oben in der Baronie erfüllt zudem  Instrumentalnachwuchs aus der örtlichen Musikschule die Salons und Zimmer mit ihren Biedermeiermöbeln, eisernen Öfen (einer in Gestalt einer griechischen Göttin) und nationalromantischen Bildern. Unterdessen sprechen Leif Ove Andses und sein Berater Gerard McBurney über die schillernden Schostakowitsch-Facetten dieses Programm-Kaleidoskops.

Und um vier Uhr geht es weiter in der großen Scheunenhalle, wo an den Wänden Bildschirme eine virtuelle Ausstellung mit sowjetischer Propagandakunst zeigen, während die bisweilen mit musikalischen Themen aufwartenden Bilder von Svein Johansen, die an die stimmungssteigernd an die Podiumsrückwand projiziert werden, im Original an den Wänden von Schlossküche und –keller prangen. Zunächst sind Zeitgenossen und lokale Komponisten zu hören, das kulminiert nach der Pause im drängenden 13. Schostakowitsch-Streichquartett, natürlich wieder mit den Danels.

Doch als Erstes ist Schlagwerk angesagt: das norwegische Duo PERCelleh (angeblich heißt das auf Finnisch was Unanständiges) produziert sich swingend in einer sanft geklöppelten Doppelmarimba-Fassung von Prokofiews Toccata (1912). Der ist als ebenfalls von der Stalin-Repression geknüttelter Komponistenkollege neben Vustin mit vier Werken am häufigsten in Rosendal vertreten. Eher öde: die Uraufführung von Terje Vikens Movements II für Perkussionsduo. Eine folkloristischen Saitensprung präsentieren hingen die Streichersonate (1994) des Norweger Johann Kvandal mit dem spritzigen Ensemble Allegria, das auch die drei Streicherminiaturen aus dem aserbaidschanischen Ballett „7 Schönheiten“ (1948) von Kara Karayev zu Gehör bringt – Zeichen für die Förderung der sowjetischen Teilrepubliken zu Beginn der Fünfzigerjahre. Auch Valentin Silvestrov wird als Nachgeborener mit zwei seiner vier Postludes für Klavier (Marianna Shirinyan) und Streicher (Allegria) kurz fokussiert.

Für die Künstler sind zwei französische Chefs um das leibliche Wohl bemüht, und allgemein gestärkt geht es abends ins dritte Konzert. Wie immer samt jedesmal für Erheiterung sorgenden, pfiffig abgewandelten, aber obligatorischen Sicherheitsanweisungen des Backstage-Personals. Wir plädieren unbedingt für wechselnde Kostümierung der ansprechend aussehenden Damen und Herren! Diesmal herrscht in der Scheune Versenkung. Bariton Andrei Bondarenko lässt noch einmal sein vokales Farbenspiel leuchten, vor allem seine matten und düsteren Tönungen. Denn sämtliche, mit Marianna Shrinyan am Klavier sowie Klarinettist Anthony McGill, Harfenist Johannes Wik und dem Ensemble Allegria  vorgetragenen Puschkin-Vertonungen Schostakowitschs sind 1936-37, 1952 und 1967 in schrecklichen, ja gefährlichen Momenten seines Komponistenlebens entstanden. Puschkin als Antidepressivum? Toll jedenfalls, die einmal so könnerisch in geballter Form zu hören. Und ganz anders sensibilisiert sind danach auch die Ohren für Alfred Schnittkes grüblerisch ausgedünntes, polystilistisches Klavierquintett, das Andsnes und das immer spielfreudiger kolorierende Quatour Danel interpretieren.

Was kann danach noch kommen? Nur ein spätnächtlicher, schräg-schriller Kehraus in einem ganz anderen Medium: Sasha Grynyuk begleitet meisterlich nimmermüd die zwischen Offenbach-Paraphrase und Marseillaise-Überschreibung pendelnde, zuckende, jugendlich unbekümmerte Filmmusik des 23-Jährigen Dmitri Schostakowitsch für das stumme Kinoepos „Das neue Babylon“, das in einem Pariser Warenhaus während der Kommune-Aufstände 1871 seinen Anfang nimmt. Danach sind dann aber selbst die Wohlmeinendsten Fjordhotell-bettschwer! 

Samstag ist lange frei, wenn man das von Igor Levit krankheitshalber verwaiste, vierstündige Mammutkonzert mit den ursprünglich vorgesehene 24 Präludien und Fugen schwänzt, das jetzt verkürzt und mit gutem Werkersatz von Rachmaninow, Prokofiew und Debussy gefüllt wurde. So ist der Kopf wirklich frei für die naturgemäß gut notengefüllten Nachmittags- und Abendtermine, die einmal mehr die erstaunliche Schostakowitsch-Brillanz und sein Masekenspiel bei starker Wiedererkennbarkeit vorführen. Zunächst gibt es Klaviermusik seiner Vorläufer Samuil Feinberg und Alexander Skriabin: Für beider 4. und 7. Klaviersonate ist Marc-André Hamelin der bestmögliche Spieler. Zwei Stücke des ebenfalls versatilen Alexander Vustin umrahmen die Pause. Die Hommage an seinen Lehrer „In memorian Grigori Fried“ absolvieren Tabea Zimmermann und Marianna Shirynyan mit sprudelnder Finesse. Für das buntscheckige „Offering“, eine beweglich flirrende Komposition für Klavierquartett und Perkussion, sitzen die Pianistin, die PERCelleh-Mannen und drei Allegria-Mitglieder auf dem Podium.

Und dann hebt das Schostakowitsch-Klavierquintett wirklich ab. Veriko Tschumburize, Sonoko Miriam Welde, Tabea Zimmermann, Clemens Hagen und Marc-André-Hamelin spielen sie als wunderbar gleichwertiges Ensemble in ihrem störrischen Aufbäumen und leisem Verlöschen.

Spannenderweise ist solches steigerbar, wohl nur bei einem solchen Kammermusikfestival, wenn das Ohr offen, nicht abgelenkt und gut gefüttert nach mehr giert. Im Messingkerzenleuchterschein der nächtlichen Kirche geht es pausenlos durch einen hakenschlagenden Parcours mit Vustin (das Klavier-Lamento mit einem ergreifenden Leif Ove Andsnes, Galina Ustvostkaya (das elegisch-störrische Trio für Klarinette/McGill, Geige/Danel und Klavier/Hamelin), Strawinsky (Elegy, elegant gespielt von Tabea Zimmermann).

Das mündet und findet punktgenau sein Ziel in Schostakowitschs finaler Viola-Sonate, nuancenreich klar und schnörkelos traurig als Weltabschiedswerk evoziert von Zimmermann und Andsnes. Für viele ein besondere Höhepunkt und perfekter Tagesmusikabschluss. Denn viel reden mag danach keiner mehr…

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Rosendal Chamber Music Festival III: Mit Dmitri Schostakowitsch glücklich in der Traurigkeit

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Ein Fazit gleich vorweg. Bei einer Diskussion mit einigen der beim vierten Rosendal Chamber Music Festival auftretenden, von Leif Ove Andsnes eingeladenen Künstlern wurde schnell deutlich: Obwohl kammermusikfestivalgestählt, fanden die meisten die sommerliche Spiel- und Musizierausbeute ganz besonders. Gerade weil Dmitri Schostakowitschs Musik so janusköpfig ist, zwischen Schmerz und Groteske pendelt, aber immer erkennbar bleibt, sei die Fülle von 18 Stücken in vier Tagen plus die Auseinandersetzung mit Zeitgenossen, Vorläufern und Nachfolgern so außerordentlich spannend gewesen. Man ist tief befriedigt und freudig erfüllt, auch wenn man traurige Musik gespielt hat. Ein sehr intensives Erlebnis, darin sind sich alle einig.

Und während sich draußen das Wetter etwas eingetrübt hat, tiefhänge Wolkenschleier dem Tal am Fjord und dem Schlösschen samt Gärten eine ganz neue, verwunschene Poesie geben, biegt das Festival mit noch einmal zwei sehr dichten Konzerten in der Scheune in eine fantastische Schlusskurve. Vormittags werden die Beziehungen Schostakowitschs, auch der sowjetischen Musik als solches, zu jüdischen Klängen untersucht. Dazu steht die klezmer-verbrämte Ouvertüre nach hebräischen Themen von Prokofiew in einer Fassung für Klarinette, Streichquartett und Klavier am Anfang.

Klar, dass hier wieder Anthony McGill mit seinem immer wieder neuen Farbenspektrum gefordert ist, das Quatuor Danel und Marianna Shirinyan sind die nimmermüden Mitspieler. Ähnliche Motivik findet sich auch im vierten Schostakowitsch-Streichquartett, nochmals eine lohnende Aufgabe für die Danels, die wiederum mit dem Klarinettensolisten auch „Zwei Skizzen über Hebräische Themen“ von Alexander Krein (1883-1951) bestreiten. Schostakowitschs Liedzyklus „Aus der hebräischen Volkspoesie“ muss man sich dazu denken, er wird nicht aufgeführt. Dafür mündet das Konzert schließlich in dem noch einmal neue Stimmungen ausbreitenden und verarbeitenden zweiten Klaviertrio, für das sich Veriko Tchumburizde mit ihrem glasklaren Geigenton, Clemens Hagen am vollgriffig ausgepielten Cello und Leif Ove Andsnes als dezenter, aber auch zupackender Pianist auf dem Podium zusammengefunden haben.

Denn nachmittäglichen Schlussakkord für dieses Jahr setzen dann noch einmal eine originelle Kombination von Werken. Anthony McGill startet solistisch mit den virtuos verblendeten Drei Stücken für Soloklarinette von Igor Strawinsky, ein Klassiker, der nun auch diesen zeitlebendigen Rivalen im Geiste Schostakowitsch noch zur letzten Session ins Rosendal-Spiel bringt. Dem antwortet der so störrische, wie individuelle, klangüberraschende und während dieser vier Tage liebgewonnene Alexander Vustin (der sich zudem ein letztes Mal in seiner bescheiden-linkischen Art verbeugt) mit seiner „Widmung“ für Cello, Marimba und Klavier, der sich Amelia Stalheim, Kristoffer Almas und Andsnes sorgfältigst annehmen.

Andsnes sitzt auch zunächst links, später recht an einem der beiden Flügel, als er zum virtuosen Pausenbeginn hin mit Marc-André Hamelin erst das witzig-verspielt Strawinsky-Concerto für zwei Klaviere hintastet und -rast, dann das Allegro aus Schostakowitschs 10. Sinfonie und als Zugabe Strawinskys elefantöse Zirkuspolka.

Als echtes Finale gibt es die von Viktor Derevianko sehr schrägt für Klaviertrio und 13 Perkussionsinstrumente arrangierte 15. und letzte Schostakowitsch-Sinfonie als dessen orchestrale Fazit zu hören. So entbeint und reduziert überrascht einmal mehr das Spiel mit dem Material wie den Formen. Man wird mit Schostakowitsch einfach nicht fertig. Kann es ein besseres Festival-Resümee geben? Zumal auch dieses finale Opus von den PERCelleh-Boys, Christian Krogvold, Sonoko Miriam Welde und Clemens Hagen mit wildem Temperament und feinstem instrumentalen Können aufgeführt wird.

Doch Rosendal als wirklich besonderes Musiktreffen unter Freunden hat noch eine allerletzte Spezialität zu bieten: das gemeinsame Abschluss-Dinner im Blauen Salon der Baronie. Unter Kerzenlüstern und Meißner Porzellan wähnt man sich wie im Bergman-Film „Fanny und Alexander“. Die beiden französischen Chefs fahren noch einmal auf, Champagner perlt, Wein fließt, letztes Toasts und Dankesreden werden gesprochen.

Und dann sind in Norwegen die Ferien aus, und das Rosendal Chamber Music Festival ist vorerst wieder Geschichte. Doch den 6. bis 9. August 2020 kann man bereits im Kalender reservieren. Und auch wenn die Themenwahl nicht so besonders anmutet, zum 250. Geburtstag natürlich Kammermusikgigant Ludwig van Beethoven gedacht werden muss, die Programm- und Künstlerfreundauswahl von Leif Ove Andses wird sicher wieder so mache Überraschung auf Lager haben.

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Der Bayreuther „Lohengrin“ im zweiten Jahr: Und Greta geht zum Lichtbogen

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Nein, keine Anna, dafür Annette. Dasch. Zwei, drei unverschähmte Buhs vermeint man in dem aufbrandenden Applaus für die überglückliche Einspringerin bei ihrem Solovorhang auszumachen, ebenso wie für den diesmal eigentlich (bis auf das Deutsch) sehr korrekten Telramund Tomasz Konieczny – den das Publikum in seinem Strampler offenbar erst beim zweiten Mal wirklich erkennt. Ansonsten ist die per Instgram gerade durch aserbaidschanischen Blingbling-Hotelsuiten führende und auch vor Bett und Badewhirlpool nicht halt machende Anna Netrebko auf Erschöpfungsparty kaum ein Thema. Bayreuth ist Bayreuth und nicht Starzirkus.

Fotos: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Yuval Sharons „Lohengrin“ scheint im zweiten Jahr ein wenig belebter, etwas schärfer. Immer noch ist das eine auf Tabaleux-Bildwirkung setzende Gucklabsal, im Vergleich zu vielen anderen, sinnlos verwuselten Opernproduktionen. Ein einfaches Märchen im schrägen Munchkin-Look der Fantasyzwerge aus dem „Wizzard of Oz“ als deutsche Romantikoper mit fliegenden Laserschwert-Kindlein. Geht doch! Und wenn am Ende die störrische Elsa mit ihrem grünen Grasmännchenbruder Gottfried in Mennigerot ihr Glück mit dem Tornister anderswo sucht, dann wirkt sie diesen Sommer nicht viel anders als die dauerprotestende Greta T. auf dem Landweg zum Klimagipfel.

Annette Dasch, sie hat bereits einen Elsa-Einspringer für Camilla Nylund diese Festspielzeit hinter sich, singt das handfester, konkreter. Ihre Höhenprobleme umschifft sie gekonnt, bei ihr ist das Fräulein aber zupackender als bei Anja Harteros, weniger esoterisch. So glaubt man ihr den eigentlich von Anfang an eingeschlagenen Emanzipationsweg.

Man genießt die vielen Blau und Grautöne, Reinhard Traubs Lichtspiele und  Stromblitzezucken im Rundhorizont-Bühnenpanorama von Neo Rauch, die altmodischen Verwandlungstricks, Rosa Loys schräg-altmodische Histokostüme mit einem Touch Leipzig Gothic. Und natürlich die kleinbürgerlichen Fesselspiele im Brautgemach. Superb ist wieder Piotr Beczala als Tenor-Heilsbringer im Mechanikeroutfit, auch wenn er im dritten Akt bisweilen etwas trocken klingt. Ein hehres Wunder ist freilich wieder die hinreißend gestaltete Gralserzählung. Und Elena Pankratovas fiesfeiste Ortud als böse Flügelfee mit Omahandtasche singt mit der lodernden Emphase des Bortschtbelt, leider versteht man auch bei ihr so gut wie gar nichts.

Großes Lob Eberhard Friedrichs transparent aufgefächerten Chören. Georg Zeppenfelds verpeilt armeflatternder König Heinrich singt mit schlankem Basssilberton, der flügellose Heerrufer von Egils Silins fügt sich trefflich in Klangfarbenbild. Christian Thielemann wurde abends vorher als „Tannhäuser“-Einspringer für Valery Gergiev (des Mutter gestorben ist) seinen Bayreuther Musikdirektorenpflichten gerecht. Mit dem „Tristan“, dem er ebenfalls vorsteht, dirigiert er so viele verschiedene Opern wie wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht mehr. Vorspiel und die ersten zwei Drittel des ersten Aktes tönten doch sehr bedächtig, pauschal, dann aber nahm die Schwanenrittermär mit dem weißen Plastikflügel Fahrt und Furor auf. Und schließlich war man mit einem rundum festspielwürdigen „Lohengrin“ sehr zufrieden. Von Anna N. redete da längst keiner mehr.

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Kulturpolitik in Wuppertal und Salzburg: ein Trauerspiel, auf Kosten der Steuerzahler

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In Streitfall um die fristlose Kündigung von Adolphe Binder, der letztes Jahr nach nur einer Spielzeit fristlos gekündigten Intendantin des Wuppertaler Tanztheater ist jetzt alles klar: Das Landgericht Düsseldorf hat in zweiter Instanz entschieden, dass die Kündigung unwirksam ist. Revision ist nicht zugelassen. Adolphe Binder darf am Tanztheater Wuppertal bleiben. Aber erst im Januar 2020 wird entschieden wie und unter welchen Konditionen. Die zerstrittenen Parteien mögen sich einigen, gab ihnen der Richter mit auf den Weg. Ob es dazu kommt? Der neue Geschäftsführer hat – wohl qua seines Amtes – bereits jetzt schon wieder gegen Binder gehetzt, dabei war sein Vorgänger wohl einer der Hautdrahtzieher im Intrigenstadel. Die abgeschmetterten Beschuldigungen gegen Binder betrafen in erster Linie die Vorlage eines angeblich mangelhaften Spielplans für die Saison 2018/19 und Binders Führungsstil. Wie jetzt im Vorfeld der neuerlichen Verhandlung bekannt wurde, traf man sich deshalb in kulturpolitischen Kreisen der Stadtpolitik, um Binder mit völlig fingierten Anschuldigungen aus dem Amt zu drängen. Dafür wurde sogar ein PR-Berater engagiert, der diese Lügen an die geneigte Presse durchstechen sollte – darunter an die Ex-Lebensgefährtin des Ex-Geschäftsführers, die bereits von Anfang an öffentlich gegen Binder gehetzt hatte. Bisher nicht geklärt ist dabei vor allem auch die Frage, welche Rolle dabei der Pina-Bausch-Sohn und Erbe Salomon spielt, dessen Stiftung mit viel Bundeskulturgeld unterstützt wird, der aber vor allem ein Interesse hat, dass die Bausch-Tantiemen fließen. Als Adolphe Binder gleich zwei Uraufführungen ansetzte (was ihr Auftrag war), die von den internationalen Koproduzenten des weltweit gastierenden Tanztheaters sofort freudig gebucht wurden, konnte das nicht in seinem Sinne sein, denn damit wird weniger Bausch exportiert.

Leider hat auch Pina Bausch selbst zu den desolaten Strukturen beigetragen, unter denen sich jetzt die Leitung dieses weltberühmten Ensembles zerlegt, unterstützt von einer besonders dämlich-provinziellen Kulturpolitik. Bausch selbst hat irgendwie geherrscht, kein andere durfte ran, aber Kompetenzen waren nie richtig geklärt. Die klamme Stadt scheint restlos überfordert, und innerhalb der Companie kosteten die Diadochenkämpfe, angefacht vom Rechteinhaber, seit dem überraschenden Bausch-Tod vor zehn Jahren bereits diverse Geschäftsführer und Berater. Siegesgewiss hat man nach dem unverantwortlichen Binder-Rauswurf, deren Reputation jetzt mühsam wiederhergestellt werden muss, bereits eine neue Chefin eingestellt. Ob die beiden Damen zusammenarbeiten können oder wollen? Andernfalls muss eine abgefunden und Schadensersatz gezahlt werden. Aber Wuppertal hat es ja….

Nicht weniger absurd geht es bei den Osterfestspielen Salzburg zu, worüber jetzt die „Salzburger Nachrichten“ einen Briefwechsel veröffentlich haben, der an Pikanterie kaum zu überbieten ist und über den schon während der aktuell laufenden Festspiele eifrig geklatscht wurde. Denn die ohne Not auf das gleich Gleis gesetzten, aber frontal aufeinander zufahrenden Züge Christian Thielemann (Künstlerischer Leiter bis 2022) Nikolaus Bachler (Kaufmännischer Geschäftsführer ab 2021 und künstlerisch gesamtverantwortlicher Intendant ab 2022) sind zum ersten Mal zusammengekracht.

Ihre erste persönliche Begegnung im Beisein des Staatskapellenvorstands in Bayreuth (!) erbrachte nur, dass man sich nicht mag und nicht aufeinander eingehen wird. Das hat dann Bachler Ende Juli noch einmal in einem geharnischten Brief an Thielemann deutlich gemacht, in dem er jegliche Leitungskompetenz ab 2022 einfordert und die Verträge für die wegen der langen Opernvorlaufzeiten geplanten Produktionen von „Lohengrin“ (2022) und „Elektra“ (2023) nicht gegenzeichnen will. Der düpierte und vorgeführte Thielemann, dem also bei einem Minifestival mit einer Oper und drei Konzerten von Bachler jegliche Entscheidung abgesprochen wird, denkt aber nicht daran, abzuspringen. Eben hat sich sein Vertrag bis 2022 verlängert, der der Kapelle läuft momentan bis 2020, er will das aussitzen, möglicherweise bis zur Unregierbarkeit der Festspiele, die dann keinen Spielplan mehr haben, wenn man sich nicht einigt. Ähnliches war schon mit unvereinbaren Verträgen zwischen ihm und Serge Dorny in Dresden geschehen, der Vertrag des rausgeworfenen Dorny (der geklagt und Recht bekommen hatte) musste ausgezaht werden.

Anderseits hat Thielemann mit dieser Planung neuerlich seine Faulheit vorgeführt. Natürlich können wiederum die Osterfestspiele kein Interesse daran haben, dass er dort  – nach einer „Turandot“ 2021, wohl mit Anna Netrebko – 2022 „Lohengrin“ aufführt, den er gleichzeitig in Bayreuth dirigiert, zudem mit den von dort bereits bekannten Interpreten Piotr Beczala (Lohengrin) und Elena Pankratova (Ortrud). So günstig hat höchstens noch Karajan gemolken. Und auch die „Elektra“, die Katharina Wagner inszenieren soll (Exklusivitäten gelten heute wohl nicht mehr, gleochwohl ein No-Go für Bachler), hat er schon in Dresden viel billiger dirigiert.

Bachler, der auf seiner neuen Austragsstelle auch gegen den gegenwärtigen Intendanten Peter Ruzicka gehörig hetzt, will angeblich den ihm bestens vertrauten Kirill Petrenko samt Berliner Philharmoniker wieder nach Salzburg zurückholen. Die haben noch bis 2022 einen Vertrag in Baden-Baden und bekräftigen leutselig, wie gut es ihnen da gefällt. Wer den Switch nach Salzburg finanzieren soll (die Staatskapelle Dresden ist viel günstiger und als Opernorchester besser), steht freilich in den Festivalsternen. Denn den Osterfestspielen geht das Geld wie das Publikum aus.

Thielemann hat den Schwarzen Peter jetzt zu Recht dem Aufsichtsrat der Osterfestspiele zugeschrieben, der für diese absurde Personenkonstellation und die noch absurderen Verträge verantwortlich ist. Der wiederum hauptsächlich von Vertretern der öffentlichen Hand besetzt ist, während das Festival zu 90 Prozent privat finanziert wird. Wie schreiben doch die „Nachrichten“ so schön? „Die Gesellschafter der Osterfestspiele könnten Thielemann schriftlich kündigen, und zwar bis April 2020, damit sein Vertrag nicht über 2022 hinaus verlängert würde. Dies wäre delikat: Damit gäben die Salzburger – Stadt, Land, Tourismusfonds (je 20 Prozent der GmbH), Karajan-Stiftung (25 Prozent) und Förderverein (15 Prozent) – einem weltweit begehrten Dirigenten, der vor allem mit Wagner und Strauss brilliert, den Laufpass.“ Salzburg halt…Fortsetzung folgt.

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Lucerne Festival I: Bernard Haitink sagt beim ersten Dirigierabschied leise Mahler-Servus

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Das Spiel der Mächtigen. So nannte Giorgio Strehler 1973 in Salzburg eine Shakespeare-Kompilation um König Heinrich IV. Und unter diesen Titel stellte später Jürgen Flimm sogar mal einen ganzen Salzburg-Sommer. Und jetzt soll die Macht mit dem Lucerne Festival sein. Denn irgendwie muss man sich aus dem gewaltig überquellenden Festspiele-Katalog abheben, vor allem, wenn man „nur“ ein Orchesterfest ist. Am Vierwaldstätter See stehen nun also „Macht“-Plakate herum. Darauf zu sehen sind eine militärische Schirmmütze, ein Diadem und ein bischofslila Pileolus. Die Macht der Armeen, der Könige und der Kirche. So, so. Die Macht der Dirigenten, überhaupt der alten weißen Männer im Musikbetrieb, sie bleibt sorgsam ausgespart. Auch #MeToo. In der Schweiz, da geht es nur um die Macht der Musik und um Musik der Macht, Beethoven, Schostakowitsch, Rachmaninow und was hier noch so gespielt wird, sie alle hatten sich Auftraggebern und politischem Umständen zu unterwerfen. Mächtig viel Musik wird zudem gespielt. Ein Gemeinplatz. Vor zwei Jahren lautete das Luzern-Motto „Frau“. Es gab sogar einen – eigentlich diskriminierenden – Frauentag der dirigierenden Damen. Ein Feigenblättchen. Dieses Jahr darf genau eine, die eher unbekannte Ruth Reinhardt, bei zwei Lucerne Academy Konzerten ans Pult. Ansonsten stehen bei den drei hauseigenen Klangkörpern, den gastierenden zwölf Großorchestern und den vier Kammertruppen die Herren vorn; immerhin gehören neun davon der älteren und elf der jüngeren Dirigentengeneration an. Wenigstens hier verändert sich was! Einer von diesen neun, der läutete nun eben in Luzern, wo er auch wohnt (so wie seine Kollegen Herbert Blomstedt und Vladimir Ashkenazy), seinen gar nicht langen, sondern sehr kompakt genommenen Abschied vom Pult, also das Ende seiner Laufbahn ein: der am 4. März 90 Jahre alt gewordene Bernard Haitink.

Im Juni hatte er bei Interview in der niederländischen Zeitung „De Volkskrant“ das Ende seiner aktiven Laufbahn angekündigt. Damals dirigierte er zum letzten Mal im Amsterdamer Concertgebouw, wo er 27 Jahre lang Chefdirigent war. Bereits Anfang des Jahres hatte er anlässlich seines Geburtstages angekündigt, er wolle ein Sabbat-Jahr nehmen. Wobei die Eingeweihten sich schon denken konnte, was das meine. Schließlich war Haitik in den Jahren davo mehrmals gestürzt oder musste aus gesundheitlichen Gründen absagen. „Ich bin 90“, sagte er in dem Interview. „Wenn ich sage, dass ich ein Sabbatical nehme, dann ist das, weil ich nicht sagen will: ich höre auf. Ich habe keine Lust zu all den offiziellen Abschiedssachen, aber es ist eine Tatsache, dass ich nicht mehr dirigieren werde.“ Der Abschied schmerze auch, sagte er, aber die Gefühle behalte er für sich. „Wenn ich eine Träne vergieße, dann weine ich privat.“

Daran hat er sich gehalten. Es folgen jetzt noch vier allerletzte Konzerte am Pult der Wiener Philharmoniker mit Beethovens 4. Klavierkonzert (Solist: Emanuel Ax) und Bruckners 7. Sinfonie, einem schönen Weltabschiedswerk ab Ende August in Salzburg, bei den Proms in London und – wieder in Luzern. Zunächst aber hat sich Bernhard Haitink in Luzern vom Chamber Orchestra of Europe verabschiedet, mit dem er auch schon sehr lange gearbeitet hat. In Luzern debütierte er übrigens 1966 mit dem damaligen Festspielorchester mit Werken von Schubert, Martin und Mahler. Schubert und Mahler lagen auch jetzt auf den Pulten. Vom einen die 5., vom anderen die 4. Sinfonie.

Langsam am Stock tippelte Bernard Haitink in die festlich gestimmte Salle blanche. Ein Helfer leistete diskrete Unterstützung, auf den bereitstehenden Stuhl setzte sich der freundlich lächelnde Greis nur satzweise. Seine Bewegungen waren zunächst minimalistisch, kaum eine Miene verzog sich, doch das steigerte sich im Lauf des Abends zur bisweilen auch fordernden Geste. Am Ende ließ er sich bereitwillig von der führsorglichen Sopranistin Anna Lucia Richter hinein- und herausführen. Die junge Frau und der nun gelöst blickende alte Mann, der begeistert dankbar bejubelt wurde, das hatte etwas freundlich Anrührendes. Ein Zyklus hatte sich geschlossen. So ist das Leben. Alle, die dabei waren, werden den Abend in heiterer Erinnerung bewahren.

Schuberts Fünfte schnurrte beweglich innig herunter, ein längeres Einspielstück, um sich warmzugroven. Das Orchester spielte weich und zart, das geht heute aufgerauter, kontrastreicher. Doch Hauptsache, Bernard Haitink kam auf Betriebstemperatur.

Das war er dann in einer entspannt diesseitigen, die durchaus ambivalenten Stellen der janusköpfigen Mahler-Vierten nicht weiter betonenden Interpretation. Schnell war vor allem der dritte Satz, distinguiert gelangen ihm die Schlusswendungen, das Rubato und die Beschleunigung im zweiten etwa. Das Orchester, nun von 47 Spielern auf 66 aufgestockt, produzierte einen vollen Klang, mit einer 12er-Streicherbesetzung ohne die Üppigkeit der großen sinfonischen Ensembles, dafür wendiger, geschlossener. Sehr idyllisch „Das himmlische Leben“, seraphisch deutlich und glockenklar beschworen von Richter.

Hier wollte einer keine neuen Interpretationspflöcke einrammen, wobei Haitink sich immer in den Dienst des Werkes und des Komponisten gestellt hatte, nie den großen Egoshooter heraushängen ließ. Und so auch an diesem Abend. Mit Freunden noch einmal gepflegt musizieren, zur Freude aller. Ohne großen Aufwand, ohne Geschrei. Kann man schöner Ade sagen als mit diesem leisen Mahler-Servus?

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Lucerne Festival II: Immer sollst du mich befragen: Igor Levit startet seine weltweiten Zyklus aller Beethoven-Sonaten

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Der eine hört auf, der andere fängt an. Früher hieß es mal, „in Linz beginnt’s“, für Igor Levit ist das aber das KKL am Vierwaldstätter See. Einen Abend nachdem der 90-jährige Bernhard Haitink beim Lucerne Festival seinen kurzen Abschied vom Dirigieren mit dem Chamber Orchestra of Europe eingeläutet hat, folgt der 32-Jährige Deutsch-Russe mit dem offiziellen Start seines ihn vielerorts beschäftigenden Zyklus aller Beethoven-Sonaten. Das ist im Angesicht des 250. Komponisten-Geburtstags zugeben nicht sonderlich originell, aber das muss Levit nicht kümmern, jetzt war es an der Zeit, Mitte September kommt auch die CD-Veröffentlichung auf neun CDs bei Sony. Alfred Brendel war gleichalt, als er seinen ersten Sonaten-Zyklus Anfang der Sechzigerjahre veröffentlichte. Anders als Brendel ist Levit aber ungemein virtuoser. Was er gern versteckt. Und furchtlos scheint er sowieso, wie könnte man sonst als erste CD die drei letzten Beethoven-Sonaten herausbringen? Ausgerechnet.

Jetzt aber alles auf Anfang. Fadendünn, bachartig geradlinig, so geht er die erste Sonate in f-moll an, ein Rückschau, kompositorisch ist Haydn, der Widmungsträger, noch nicht erreicht. Ein Anfänger vergleicht sich mit der damals schon versunkenen Vergangenheit. Levit startet von hier aus mit Siebenmeilenschritten. Er hat es gern statccatohaft, wenig Pedalgebrauch. Ganz konzentriert, in lichter Strenge arbeitet er sich voran. Lehrbuchhaftes alla breve wechselt sich mit individuellen Gedanken ab. Levit hält immer wieder inne, legt bewusste Pausen ein, stört den Fluss, variiert sanft die Tempi, setzt schroffe Dynamikkontraste, dann wieder dezidiert weiche Übergänge. So wird man zum Zuhören verführt und gezwungen. Und Ende – fortissimokurz. Nach der emotionalen Überspannung folgt die liedhafte Gelöstheit des Adagios, die beständige Figuration und punktuelle Erregung, sie weicht längeren Linien. Schön klingt der Steinway in der Weite der Salle blanche. Mustergültig ziseliert wird das Allegretto samt Trio. Wie stets gern attacca, so wirbelt das Prestissimo los. Plötzlich hört es einfach auf. Schroff.  Levit zelebriert nicht, er stellt zur Diskussion.

Zweimal zwei Sonaten offeriert dieser erste Abend. Frühes geht einem Duo aus mittlerer Beethoven-Zeit voraus. Von der ersten folgt ein großer stilistischer Sprung zur 12. Sonate in As-Dur. Jetzt ist Beethoven Beethoven – und experimentiert mit Sinn und Form. Größer ist die Fraktur, länger gehalten wird die Spannung von Igor Levit. Klangfarben mischen sich in den Vortrag, der förmliche Zwang zum leisen, suggestiven Zuhören. Doch wieder belebt Levit das mit sehr eigenen Akzenten, ganz besonders im ersten Satz, einem Andante con variazioni samt punktiert flirrendem Thema. Dessen fünf Abwandlungen wechseln sich mal wie gemeißelt, dann vorbeihuschend ab, die artikulatorische wie kolorierende Fantasie scheint grenzenlos. Bis die Zweiunddsreisigstel losrasen. Das Scherzo beschleunigt machtvoll in seinen Sforzandi zum Allegro molto, der Andante-Satz erweist sich als sehr reflektierte, gar nicht heldisch auftrumpfende Marcia funebre sulla morte d’un eroe.  Im Allegro werden die Terz-Sexten-Wechsel in Sechzehntelketten licht und freudig genommen. Pause. Ebenso freundlicher Beifall. Dazwischen hat sich der Pianist nur einmal kurz im Rund verbeugt ohne den Saal zu verlassen.

Nach der Pause ein weiterer Sprung nach vorn, Sonate Nr. 25 G-Dur op. 79, das zehn Minuten kurze „Sonatinen“-Ding. Igor nutzt es als Steinhaufen, bisweilen als Geröllhalde von Ideen, ein Abenteuerparcours, der vieles anreißt, nichts ausführt, im Zickzacklauf. Der Künstler und der Komponist in der Werkstatt, hier ein augenzwinkerndes presto alla tedesca mit gustiösem Übergreifen der linken Hand, sehr zart endend. Da ein kühl-kühnes Andante. Man wird auch körperlich hingezogen von diesem tief über die Tastatur gebeugten, die Arme kraftvoll aus dem Rücken Zupackenden. Chronologisch kurz rückwärts gegriffen, das Eigentliche dieser zweiten Konzerthälfte – und fast ein Prinzip auch in den kommenden Abenden – ist eine der berühmten Sonaten, die Eckpunkte, die Namentliche: diesmal Sonate Nr. 21 op. 53 „Waldstein“, gewidmet dem Freund und Gönner Graf Waldstein. „Fidelio“ klingt hier durch, streng, schwer und virtuos ist sie, dicht, ja orchestral, man nennt sie auch „Klavierkonzert ohne Orchester“.

Igor Levit startet fast mathematisch strengt, zeigt Struktur als laborhafte, klinisch kalte Vivisektion. Durch die schnell warmes Blut pulst, die Finger laufen leicht. Zärtlich sogar? Wieder so ein Kontrast, der die Wahrnehmung beim Zuhören schärft, der wach hält. Schön und überlegen kostet er das aus. Fragend ausgestellt kommt die Introduzione des Adagio molto, das sich immer mehr verflicht, dichter wird, mit raffiniert gekonnt verschattetem Farbenspiel schwelgend in das Final-Rondo übergeht. Das Levit neuerlich wie zum Diskurs ausstellt, auffächert, fast nachbuchstabiert und doch sehr eigenwillige Betonungen setzt, wenn die Fingerfertigkeitsnummer aufblitzt. Ich kann’s und jetzt will ich auch. Triller, Oktavläufe. Am Anschlag, es geht in die Zielgerade. Jubel. Und doch ein Abend der bewusst gesetzten Fragezeichen.

Als passende, gern gegebene Zugabe noch die leis verhuschte „Valse humoresque“ von Schostakowitsch. Beethoven – der Zeitgenosse. Mögen die begonnen Spiele auf diesem Niveau weiterklingen. Am Sonntag folgen im KKL Luzern schon die nächsten fünf Sonaten. Im Herbst, beim letzten Piano Festival, geht es weiter. Und anderswo fängt es erst an.

https://www.youtube.com/watch?v=fau_hHNh5ng&list=RDfau_hHNh5ng&start_radio=1&t=36

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Lucerne Festival III: Yannicks Glitzerabsätze steuern sicher auch durch das größte Schostakowitsch-Klangchaos

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Das Lucerne Festival, das ist zum Glück schon länger mehr als die Summe seiner hochkarätigen Orchestergastspiele – deren Programm man sich freilich mit diversen anderen Festspielen zu dieser Zeit teilen muss. Mit dem 2003 von Claudio Abbado neuinitiierten Lucerne Festival Orchestra und der ein Jahr darauf erstmals unter Pierre Boulez angetretenen Lucerne Festival Academy, die sich der Moderne verschrieben hat, stehen zwei wirklich originäre, als Alleinstellungsmerkmal wirkende Klangkörper vor Ort bereit, die auch auf Gastspiele gehen. Zudem gibt es ein Netzwerk von über eintausend, inzwischen bis zu 40-jährigen Alumni der Academy, die sich ebenfalls zu einem Orchester auf Zeit formieren. Dieses Ensemble wird dieses Jahr erstmals auch am 8. September vom LFO-Chef Riccardo Chailly dirigiert (und kostenlos gestreamt), der wiederum hat einerseits Rachmaninow zu einem Themenschwerpunkt erklärt, zum anderen aber auch Mahlers 6. Sinfonie. Und es gibt erstmals ein weiteres LFO-Programm für einen Gastdirigenten, der künftig wechseln soll, diesmal aber mit Yannick Nézet-Séguin einen guten, von Publikum wie Orchester gleichermaßen begeistert aufgenommenen ersten Exponenten hatte. In einem beziehungsreichen Programm der „Macht“-Werke: Beethovens Violinkonzert mit dem artist étoile Leonidas Kavakos und – passend vor dem Mahler – Schostakowitschs 4. Sinfonie.

So originell wie bunt war diese Konstellation schon optisch. Die beiden Herren kamen in ungewöhnlichem Aufzug. Kavakos, der die Farbe Petrol liebt, erschien in einem ebensolchen leichten Seidenkittel zu schwarzchangierenden Seidenhosen und schwarzen Samtslippern. Die hatten bei dem 44-jährigen Kanadier in sehr körperbetont sportiver Funktionskleidung noch ein Brokatprint, rote Sohlen und glittersilbrige Absätze – hinsehenswert!

Aber auch zu hören gab es Erfreuliches. Ein Schwelgen in manchmal fast selbstzweckhaft auf weit über 50 Minuten gedehnter, groß besetzter Schönheit. Leonidas Kavakos spielt ein eher kontemplatives, die ruhige Lyrik der Komposition voll auskostendes Beethoven-Konzert mit ausladend-üppigen, dabei leuchtend geschmackigen Kadenzen. Nézet-Séguin ließ ihn generös gewähren, folgte mit lockerer, luxuriös ausschwingender Akkuratesse. Die Farben der Stradivari „Willemotte“  aus dem Jahr 1734 brachen sich in immer neuen Facetten. Als große Kadenz erklang die von Beethoven, von Kavakos als reizvolles Wechselspiel mit der Pauke bearbeitet. Als zarte Zugabe das Andante aus der zweiten Bach-Sonate.

Dann aber krachte es gewaltig, bei der bruitistisch krawalligen 4. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, 1936 im Stalinismus verboten, verloren, rekonstruiert und erst 1961 uraufgeführt. Nézet-Séguin zeigte nicht nur Muskeln, er ließ das wie befreit um sich schlagende und schmetternde Orchester klar kontrolliert von der Leine. Das bäumte sich störrisch auf, die einzelnen Gruppe zeigten formidabel ihre Qualitäten, betören schön und melancholisch klar war das kräftig zum Einsatz kommende Solofagott. 

Das Laute und das Leise standen sich in schärfstem Kampfkontrast gegenüber. Der Saal schien nachzuvibrieren, war wieder eine Fortefortissimo-Entladung verpufft. Yannick Nézet-Séguin hatte viel Spaß, die Luxusklangkarosse LFO durch die Kurven zu jagen, er dirigierte ohne Taktstock, mit klarer nie selbstzweckhafter Zeichengebung, er geleite, fing liebevoll auf, blieb immer souverän auch Herr im größten Instrumentalchaos. Das spukhaft fahle Scherzo huschet dahin, im Rondo-Finale mischte sich Explosives, Banales, Anrührendes, Nachdenkliches. Ein perfektes Abbild des zerrissenen 20. Jahrhunderts, eingefangen von einem der prägenden, auch durch die Zeitläufe gezeichneten Tonsetzers.

Das war denkwürdig. Denkwürdig war auch der Beifall, schon nach dem ersten Satz schrie einer begeistert Bravo. Und hinterher wollten selbst die Musiker gar nicht mehr von dem charismatischen Nézet-Séguin lassen. Dieser Mann ist Musik pur. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo er eben für den wiedermal kranken Mariss Jansons in Salzburg eingesprungen war, hätte ihn gern als nächsten Chef. So viele anderen auch, doch der kleine Mann hat auch nicht mehr Zeit als andere, und ist mit dem Philadelphia Orchestra und der Metropolitan Opera (zudem seinem Orchester in Montréal) mehr als ausgelastet.

Ein Glanzpunkt des Lucerne Festivals – mit den eigenen Kräften. Das LFO wird vom Ruhme des Orchestertreffens in der Zentralschweiz im Herbst neuerlich auf China-Tournee künden, die Academy hat längst, auch die sind per Konzert integriert, selbstständige Kammerensemble wie das JACK oder das Mivos Quartet. Akademisten geben einen Tangonacht mit dem tanzenden Dirigenten Mariano Chiacchiarini. Neben dem Starangebot gibt es die stolzen, auch beliebten Debütantenkonzerte, der gern mit Elektronik arbeitende Schweizer Thomas Kessler ist 2019 composer in residence.

Ganz besonders spannend ist die Academy dieses Jahr, weil zu dem bewährten Duo Wolfgang Rihm und Dieter Ammann, die im Komponistenseminar in großer Runde der Neuvorstellungen der sehr divers ausgewählten, sich lustig präsentierenden Teilnehmer („ich zeige jetzt meinen Zweifel und Ängste als Diaschau, etwa traditionelle und moderne Schweizer Architektur, auch das Jodeln“) zerlegen und auch Einzelsitzungen geben, der mit Rihm befreundete George Benjamin dazustößt. Der ist ein versierter Dirigent, es macht Riesenspaß, zu erleben, wie er konstruktiv im Academy-Probenhaus „Südpol“ in einem eigenen Frühwerk für 14 Instrumentalisten klanglich die Leviten liest. „Spielen sie Vibrato?“ –  „Yes“ – „Aber vielleicht nicht die ganze Zeit…oder besser gar nicht.“

Er tut das in „At First Light“ von 1982, einem Stück, das sich auf ein Gemälde von William Turner bezieht. Und dazu wiederum kann man sich eine ergiebige Ausstellung über „Turner. Das Meer und die Alpen“ im ebenfalls im KKL beheimatete Kunstmuseum zu Gemüte führen. Ein Bild mit der Rigi im Sonnendunst kann sogar für eine sechsteilige Summe für den Luzernen Dauerverbleib erworben werden. Und auch hier spielt das Festival Kammermusik. Fantasieanregend sind auch andere Titel, die auf dem Probenplan im „Südpol“ stehen:  „Jagden und Formen“, „Said the Shotgun“, „Utopia III“, „Concordanza“, „Jauchzende Bögen“.

Das Lucerne Festival ist wieder mal an einem Wendepunkt. Im Frühjahr wurde bekannt, dass man das Osterfestival und das Pianofestival im Herbst einstellen wird. Das hat Geldgründe (auch wenn für den abspringenden Sponsor Nestle Ersatz gefunden wurde), man will sich aber auch konzentrieren. Der Frühjahrssatellit mit Geistlicher Musik um die Residenz des BR-Orchesters wird mit der Ouverture spirituelle der Salzburger Festspiele besser bedient, Pianisten kann man konzentriert auch anderswo hören.

Im Herbst kooperiert man ein erstes Mal für ein verlängertes Wochenende mit dem neuen Konzertsaal im Touristikressort Andermatt, mal sehen, was das für Synergien mit der Region bringt. Außerdem sollen je ein Wochenende am Jahresanfang und Ende das LFO und die Academy noch stärker in den Fokus nehmen. Es wird sich zeigen, ob das auf Stars und Spitzenorchester bei Spitzenpreisen bis zu 320 Franken geeichte Publikum da mitzieht.

Und zum 100. Geburtstag seines Vaters, des nicht nur in der Schweiz immer noch sehr geschätzten Tenors Ernst Haefliger haben Festivalchef Michael Haefliger und seine beiden Geschwister Christina und Andreas gemeinsam mit seinem alten Stammlabel Deutsche Grammophon eine sehr feine Erinnerungsbox mit 12 CDs herausgebracht. Die umfasst die großen Schubert-Liedzyklen (besonders die „Schöne Müllerin“ des Vierzigjährigen begeistert mit ihrem sanft lasierten obertonreichen Duktus), die heute etwas fern klingende, aber immer noch hörenswerte Bach-Arbeit mit Karl Richter, Renaissance-Musik, ein superbes „Tagebuch eines Verschollenen“ von Janacek mit Rafael Kubelik sowie eine Fülle teilweise erstveröffentlichter Opernarien, oftmals mit Ferenc Fricsay. Zwischen 1943 und 1970 gastierte Haefliger zwanzigmal bei den damaligen Luzerner Festwochen. Da passt die Tenorkiste sehr gut zu weiteren Eigenveröffentlichungen des Festivals, Liedern mit Edith Mathis (audite) und zwei Bruckner-Sinfonien mit Claudio Abbado (Accentus Music), darunter sein allerletztes Konzert mit der Neunten von 2013. Und mit Riccardo Chailly am Pult gibt es auf DVD (Accentus Music) dessen klangluxurierenden Ravel-Abend mit dem LFO von 2018.

Da hat man schon wieder Lust auf Lucerne Festival 2020!

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Schubertiada I: Joyce DiDonato zeigt erstmals in Europa „Winterreise – die Oper“

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Nein, das ist kein Schreibfehler, ich bin nicht in Schwarzenberg, sondern in Vilabertrán, genauer: in der Canònica de Santa Maria. Hier findet mit der Schubertiada das renommierteste, aber immer noch kleine und intime Liedfestival Spaniens statt. Spielort ist ein altes, wehrhaftes Augustinerkloster aus dem 11. Jahrhundert im Osten von Katalonien, zwischen dem Opernfestspieldorf Perelada und dem Dalì-Geburtsort Figueres, das den Pilgern auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella als Herberge diente. Dort setzte jetzt Joyce DiDonato die Reihe eindrucksvoller Spaniendebüts fort, die hier etwa Jonas Kaufmann (mit weniger Gage als sein Begleiter Helmut Deutsch) oder Christian Gerhaher absolvierten. Und der durchaus wählerische Matthias Goerne, der hier seine erste Auslandskonzert überhaupt sang, feierte eben mit zwei Liederabenden sein 25-jähriges Schubertiada-Jubiläum. Und wenn schon la Joyce und Schubert, dann mit etwas ganz Besonderem.

„Wintereise“! Die war schon vor einigen Jahrzehnten mal das große Klassik-Gleichstellungs/Diversitätsding. Darf, kann, muss diese ehern zu den Grundfesten abendländischer Bürgerlichkeit gehörende Sammlung 24 „schauerlicher“ Lieder von einer Frau gesungen, gar interpretiert werden? Lotte Lehmann, war die erste, die es tat und Anfang der Vierzigerjahre auch aufnahm.

Dann war lange Schweigen im Schubert-Walde ob der unerhörten Tat, die Männer verfilmten und spielten das Werk, setzten sie statt mit Klavier für Gitarre und Viola, man versuchte dem in der Schneeeinsamkeit verlassenen Wanderer als distanzierter Erzähler oder als neurotisch Zerrissener gerecht zu werden. Ian Bostridge schrieb gar ein kluges Buch über sie.

Und die Damen? Die Mutigen sangen sie und spielten sie ein, allen voran Brigitte Fassbaender und Christa Ludwig, beide um geschlechtliche Neutralität bemüht; aber auch der mütterliche Kontraalt Natalie Stutzmann und die zartweiß lasierte, schneekristallgläserne Christine Schäfer.

Und jetzt auch die elegante, doch zupackende Mezzosopranistin Joyce DiDonato. Die zwischen Barock und Belcanto, Jazz und Moderne sehr wandelbare Amerikanerin aus dem weizensatten Kansas, sie ist freilich nicht nur ein unmittelbar atmosphärisch den Raum füllenden Bühnentier, sondern auch ein Künstlerin mit sehr eigenwilligem Zugang. Und sie erfand: „Die Winterreise – The Opera“. Zweimal hat sie das Werk bereits als packende Gesangsszene und Gebet einer (vielleicht doch nicht mehr) Jungfrau in den USA aufgeführt, gemeinsam erarbeitet mit dem freundlich ihr verbundenen Multitalent Yannick Nézet-Séguin – diesmal am Flügel statt am Dirigentenpult.Und jetzt hat sie sich – weitere Auftritte sollen unbedingt folgen – auch in Europa getraut. Freilich auf vergleichsweise verwachsenem katalanischen Pfade.

Das Licht flammt auf, und dann sitzt in der Apsis, eine Madonnenstatue aus Alabaster an einem Pfeiler scheint fast sinnfälliges Requisit, „die reiche Braut“, die der trostlose Wanderer nicht bekommen konnte, auf einem Stuhl neben dem Flügel. Auf einem Tischchen liegt ein in Leder gebundenes Buch – die Aufzeichnungen des verlorenen Liebsten. „Das Mädchen sprach von Liebe“, so fand die Mezzosopranistin ihren spezifischen Zugang zu dem Zyklus. Sie ist die Frau, die Witwe in Schwarz, ausgeschnittenes Spitzenoberteil, eine Lederkorsage, die etwas leicht Fetischhaftes ausstrahlt, viele Seidenvolants. Sie erinnert sich an den Geliebten, vollzieht, erlebt mittels seines Tagebuchs dessen Schneewanderung nach.

Zum ersten, zum wiederholten Mal? Wir wissen es nicht. Als sie vom „treuen Frauenbild“ singt, springt Joyce DiDonato auf, nach dem als unwiederbringlicher Glücksmoment mit aller Emphase durchlebten „Lindenbaum“ (ähnlich später der „Frühlingstraum“) strauchelt sie, braucht sie neuerlich den Stuhl, dann reißt es sie wieder hoch. Sie drückt und quetscht als Zurückgebliebene das Buch, küsst es schlägt es vors Gesicht, gleichzeitig dient es der Sängerin als Erinnerungsstütze. Text und Anmerkungen finden sich drin, so kann sie frei agieren, in fast makellosem Deutsch. Der Franzose David Zobel begleitet eher arios als kontrastiv dialogisch.

Sie singt das so großartig, gefühlvoll und abwechslungsreich, mit voller, dann fahler Stimme. Unmittelbar muss man an ein anderes, berühmtes Schubert-Lied denken: „Gretchen am Spinnrad“ – Meine Ruh’ ist hin“. Joyce DiDonato verwandelt gekonnt, nie sentimental, auch wenn sie sie sich viel mehr Expression getraut als jeder singenden Kerl, die Männersicht in Frauenliebe und –leben. „Was passierte mit ihr?“ Das fragt sie, die das Gleiche schon als Charlotte nach Werthers Selbstmord wissen wollte. Untröstlich ist sie am Ende, den „Leiermann“ singt sie auswendig.

Ist sie jetzt ganz in die Welt des toten Mannes eingetaucht, oder sieht sie selbst Gespenster? Das Rätsel bleibt. Und die „Winterreise“ ist auch die ihre, sie ist um eine weibliche Facette reicher geworden. Und doch bei aller Verehrung – ein bischen grinsend fällt mir dann doch noch der berühmte Ann-Miller-Werbespot für Cambell’s Tomato Soup ein. „Liebling, warum musst Du aus allem immer eine so große production number machen?“ Aber bei La Joyce geht es eben kaum kleiner. Außerdem überzeugt sie…

Der Beitrag Schubertiada I: Joyce DiDonato zeigt erstmals in Europa „Winterreise – die Oper“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

Berlioz beswingt: John Eliot Gardiner startet beim Festival im Geburtsort La Côte-Saint-André eine grandiose europäische Tour mit „Benvenuto Cellini“

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Bei Wagner dürfen die Nibelungen, die in den Grüften Nibelheims das Rheingold schmieden, nur unartikuliert jaulen. Bei Hector Berlioz haben die Gießarbeiter eine Stimme, ja mehr noch: sie revoltieren sogar. Soviel zur sozialen Komponente beim einstigen Dresdner Barrikadenerrichter und beim Pariser Dandy und avantgardistischen Antistar, der keine Häuser für seine allzu kühnen Opernpläne fand und deshalb – Glück für die Nachwelt – sich sein Geld mit beißenden Musikkritiken und herrlichen Feuilletons erschreiben musste.

Für vier richtige Musiktheaterprojekte hat es doch gereicht. Berlioz bediente sich anlässlich der Stoffwahl zuallererst bei Benvenuto Cellini. Aus dessen Memoiren eines außerhalb von Gesellschaft und Gesetz stehenden Künstlers destillierte sich der 31-Jährige, angeheizt von zwei Jahren Romaufenthalt, von 1834 an seinen persönlichen Traum von Renaissance, Romantik, Rausch und Revolte: als gleisnerisch strahlendes und hektisch dahinjagendes Stück über Genie, Kult und Wahn; ein wenig antiklerikal (die Zensur verbot den Auftritt von Papst Clemens VII.), voller Feste, tönend bewegten Massen, Maskenzügen, mit einem Mord und als Apotheose des Künstlers im Guss der Perseus-Statue gipfelnd. Doch gegenüber dem Original immer noch abgemildert. Cellinis sexuelle Ambivalenz beispielsweise ersetzte Berlioz durch eine züchtige Liebesgeschichte, die er einer E.T.A. Hoffmann-Novelle entnahm.

„Ein Bandit von einem Helden“, nennt Berlioz seinen „Cellini“, der sich mit diesem wilden Künstler natürlich auch selbst meinte. 1838 erblickte er das Licht der Opernwelt und wurde bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts nie in seiner Originalgestalt gegeben, dann aber immerhin auch von Colin Davis mit Nicolai Gedda endlich aufgenommen: ein seiner Zeit weit vorauseilendes Kunstopus und ewiges Work in Progress. Wie spießig muten dagegen die „Meistersinger“ oder „Palestrina“ als Künstleropern an, wie vehement verteidigt Berlioz bei allen genretypischen Zugeständnissen (die er aufbricht) das Recht des bürgerlichen Subjekts auf selbstbestimmtes Leben und unumschränkten Ausdruck seiner artistischen Begabung. Leider hat Berlioz nie haushalten können, und so gehören die Sängerrollen, der Chorpart sowie der Instrumentalbeitrag des fast beständig auf der Stuhlkante agierenden Orchesters mit ihren horrenden Anforderungen zu den Klippen des Opernrepertoires. Einzig deshalb ist diese vitale, herrlich moussierende Opéra semi-seria so selten zu erleben.

2002 hat damit schon früh John Eliot Gardiner am Opernhaus Zürich das letzte Berlioz-Jahr 2003 (200. Geburtstag) eingeläutet), bevor er sich in Paris erstmals auf historischen Instrumenten Berlioz’ monumentalem Meisterwerk „Les Troyens“ zuwandte. Frankreich, wo man eigentlich nur die opiatischen Dünste und Hexenorgien der Symphonie fantastique und den faulig-sinistren Zauber des Gaultier-Liederzyklus‘ „Nuits d’été“ schätzt, hält sich bei seinem bedeutendsten Komponisten der Romantik nach wie vor vornehm zurück. Das hat sich 2019, dem 150. Todestag des großen Hector etwas geändert. Philippe Jordan hat an der Opéra Paris in den letzten Jahren alle Opern präsentiert , und vor allem das wunderfeine Berlioz Festival an dessen ländlich nettem Geburtsort La Côte-Sainte-André zwischen, Lyon und Grenoble im Departement Isère gelegen (wo es auch das sehr schöne Museum im umgestalteten Geburtshaus (der Vater war Arzt) feierte den größten Sohn des Ort gebührlich.

„Le Roi Hector“ heißt dieses Jahr der Akt II der Geburtstagsfeierlichkeiten, der erste hat schon im letzten Sommer begonnen. Schließlich gibt es immer mehr Berlioz-fanatische Dirigenten und Orchester, die sich in der überdachten Plein-Air-Arena atmosphärischen Château Louis XI ein musikalisches Stelldichein erster Güte geben. Das Orchestre national de Lyon, das Jeune Orchestre Européen Hector Berlioz und das Orchestre Les Siècles unter François-Xavier Roth, das Mariinsky Orchester unter Valery Gergiev, das Orchestre national du Capitole du Toulouse unter Tugan Sokhiev – alle da. Wie früher in Salzburg sind die Straßen mit Wimpeln und Fahnen geschmückt, die Geschäfte wetteifern mit Berlioz-Fenstern und in Sichtweite des stählernen Scherenschnitts im Blumenbett gibt es jetzt auch ein hauswandfüllendes neues Berlioz-Graffiti gleich gegenüber dem Likör-Museum in der ehemaligen Destille Cherry Rouge.

Und jetzt kam sogar der französische Kulturminister Franck Riester zum Museums- und Konzertbesuch vorbei, hielt in den Schlossgärten eine launige Ansprache, während um die Ecke sich das Volk mit Cruditées-Platten und lokalem Rosé neben einem hölzernen trojanische Pferd auf den Konzertgenuss einstimmte: denn natürlich ist auch der La-Côte-Saint-André-Dauergast John Eliot Gardiner als regierend-dirigierender Berlioz-Stellvertreter auf Erden mit seinem Orchestre Révolutionnaire et Romantique sowie dem glänzend beweglichen Monteverdi Choir mit von der Festivalpartie. Diesmal mit einer kleinen Europa-Tournee, die eben den „Benvenuto Cellini“ in einer halbszenischen Version mitführt. Damit kann sich auch das Musikfest Berlin am Samstag eines ersten Höhepunktes sicher sein. Zumal der frisch geschiedene Sir vecchio John ungewohnt locker inszeniert hat.

„Das Leben ist ein Roman, der mich sehr interessiert“, wird Hector Berlioz auf Taschen, Broschüren, Handtüchern und Foulards zitiert. Der Lebensroman des Florentiner Goldschmieds Benvenuto Cellini, melodramatisch, auch komisch-satirisch-sentimental übersteigert, er wurde ihm auch höchst gelungener Opernanlass.

Dessen Feuer und Furor, Gefühl und Gezeter jetzt John Eliot Gardiner mit den Seinen gar köstlich entfacht. Hell lodert die Berlioz-Flamme schon bei der stehend servierten Ouvertüre im mit zeittypischem Instrumentarium ausgestattete Orchester. Vier Harfen, vier wunderbar charaktervolle Fagotte, fettes Schlagwerkinstrumentarium mit allein drei Kesselpaukern, zwei Gitarren, Cornette und das Ophikleide. Dessen Spieler muss später im römischen Karneval auch noch einen Esel geben – gelingt formvollendet.

Vom Dirigierpult aus (später sitzt der Sir) zündelt und funkelt John Gardiner mit hippeliger Mutwilligkeit. Farbig, transparent ind höchst beweglich. Alles ist hier beständig im Fluss. Das nervöse Flirren dieser Musik, ihre erotische Unrast, die spöttischen Grenzüberschreitungen, schrägen Genreparodien fügten sich zu einem faszinierenden Pandämonium südlich-sinnlichen Außersichseins. Und alles gipfelt im halbstündigen, kaleidoskopisch sich zersplitternden Finale des römischen Karnevals als einem perfekt choreografierten Chorwirbel. Bravo!

Die Sänger spielen in historisch andeutenden Kostümen, es gibt sogar Kleiderwechsel, man läuft durch die Musiker und rennt über Podien, der Chor als Mönchen, Werkstattmitarbeiter, keifende Nachbarinnen immer bewegt mit dabei. Nur der senile, einzig auf seine künftige Perseus-Statue geile Papst Clemens VII des bassschlank salbadernden und segnende Tareq Nazmi schlurft allein, ohne Gefolge und in zu kurzem Habit herum. So machte ihn freilich schon Berlioz lächerlich.

Der Künstler als Grenzgänger, ja Paria wird kaum thematisiert. Cellini, das ist das Genie, das trinkt, rauft und mordet und seinem päpstlichen Auftraggeber mit der Zerstörung der bestellten Skulptur droht, das ist der Künstler, der sich und sein Werk absolut setzt und am Schluss alles gewinnt, Absolution, Ruhm und die Hand seiner Geliebten. Doch anders als spätere Künstleropern bewegt sich „Benvenuto Cellini“ nicht in metaphysischen Dimensionen, hier geht es um pure Schöpferkraft und Lebenslust. Hier gib es pralle Commedia, Intrige und kurz auch mal mörderische Spannung, doch meist ist das eine knallbunte, abwechslungsreich rhythmisierte, mit leichter Hand hochvirtuos hingepinselte römische Klangfreske. Dafür singt Michael Spyres den Benvenuto höhentrittsicher charmant, mit gut gelagertem baritonalen Tenor und nie nachlassender Kraft. Eine absolute Spitzenleistung.

Sophia Burgos hat für seine geliebte Teresa zarte Spitzentöne und Temperament. Maurizio Muraro gibt als ihr Vater Giacomo Balducci dem Ensemble komisches Bassfundament, Adèle Charvet ist Bevenutos kantilenensüchtiger Lehrling Ascanio. Lionel Lhote ist hoch amüsant als immer zu kurz kommender Intrigant und Nebenbuhler Fieramosca, Er fungiert als Baritonbuffo im animierenden Spiel, zu dem in den Nebenrollen auch Vincent Delhoume und Ashley Riches hinzukommen. Am glücklichen Ende erhebt sich gülden glänzend nach erfolgtem Statuenguss zwischen letzten Rauchschwaden als Perseus der Schauspieler Duncan Meadows, der seit Jahren am Royal Opera House mit seiner Muskelmasse als Salomes Henker beeindruckt. Wunderbar, dieser beswingte Berlioz!

Nächste „Cellini“-Stationen: am 31. Beim Musikfest Berlin in der Philharmonie (vorher mit dem Quartett der Kritiker des Preises der deutschen Schallplattenkritik), am 2. bei den BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall und am 8. in der Opéra Royal de Versailles

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Gstaad Festival I: Maurice Stegers Baroque Academy in vollem Schwung – und heute mit Livestream

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Der Sommer war groß, die Musikfeste waren viele, aber jetzt ist doch noch Zeit, einen Abstecher ins Schweizer Saanenland zum Gstaad Festival zu machen. Gemäß dem doch erstaunlich vielgestaltigen, sich über fast zwei Monate hinziehenden, von Festchef Christoph Müller ausgegebenen und sehr abwechslungsreich variierten Motto „Paris“ reise ich diesmal über den Lac Léman, also den Genfer See, aus der französischsprachigen Schweiz an. Windungsreich kurvt das Bähnchen von Montreux über den in zartem Sonnennebel blaugrau glitzernden See zwischen den Weinbergen empor, bis es ins hügelige Berner Oberland geht. Märchenwelt pur, so richtig sommersatt.

Vom Puppenstubenbahnhof Schönried sind es – noch mit dem Koffer – nur ein paar Meter zum Châlet Sandra. Da nämlich hat die immer zum Festivalfinale fidel fiepsende Baroque Academy von Maurice Steger einen ihrer Unterrichtsorte. Sonst eine teure Internat-Dependance, schwingt jetzt die legendäre Teilzeit-Köchin Eliza (eigentlich ist sie Psychotherapeutin, das passt) hier den Löffel und umwärmt mit ihrer Fürsorge. Zitronengraspastinakensuppe, Bolognese und mit Basilikum marinierte Wassermelonen stehen liebevollst angerichtet bereit. Und die Kekse! Da fühlt man sich sofort angekommen, taucht ein die Akademisten und die Handvoll Yungsters am Blasrohr, die hier ungeheuer enthusiastisch seit letztem Jahr mittun dürfen. Der 15-Jährige sieht aus wie 12, der 13-Jährige wie 15, Wunder der Pubertät, spielen tun sie aber alle toll.

Das hört man gleich beim nachmittäglichen Pop-Up-Abschlusskonzert der ganz Jungen, die sich mit Steger und allen anderen Dozenten vor ihren Fans in der Halle des wie stets äußerst gastfreundlichen, die Musiker umsorgenden Wellness-Hotels Ermitage auf das Schönste produzieren. So viel Spaß und Aufbruchsfreude, so viel Können, Wissen und Engagement. Und dann noch lecker Kuchen!

Abends gibt es in der heimeligen Kirchen von Zweisimmen ein hinreißend witziges Concert Comique, extra für das Festival zusammengestellt und mit schrägen, viel Barock-Wissenswertes transportierenden Causerien des sich auch als historisch gewandeter und geschminkter Tanzmeister produzierenden Stephane Mester vorgetragen. Da haben alle mit Werken von Antoine Desplanes, Michel Pignolet de Montéclair, Michel de la Barre, Joseph Bodin de Boismortier, Michel Corrette, Marin Marais und Arcangelo Corelli ihren Spaß und ihre Kleinmeister-Freude.

Man entdeckt Musik, man lauscht Könnern wie Gamben-Königin Hille Perl, die hier auch schon zum wiederholten Mal unterrichtet, aber hinterher auch ganz bremisch trocken von ihrem Steuerärger und dem Sorgen um ihren austrocknenden Waldbesitz berichtet.

Um Mitternacht hat Eliza noch zum gemeinsamen Mahl aufgekocht, aber heute geht es hier gleich weiter im Livestream der Baroque Academy des Gstaad Festivals. Viel Spaß dabei.

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Gstaad Menuhin Festival II: Pianistinnenkleider zur Durchsicht und türkise Herrenfingernägel

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Und dann ist es auch schon wieder vorbei. Für dieses Jahr. Man glaubt es kaum, vom 18. Juli bis zum 6. September stemmten sie da im Berner Oberland mit dem Gstaad Menuhin Festival über sieben Wochen lang eines der größten Klassikmusikfeste überhaupt. zum 63. Mal. Doch jetzt ganz früh morgens, ist alles ruhig. Der letzte Orchesterton ist schon lange verklungen. Waldeinsamkeit am Bahnhof Schönried, nur die Kühe auf den Weiden klingeln. Auch hier steht eine Klapptafel, die auf den Zweck meines Besuches hinweist: Gstaad Baroque Academy, natürlich mit dem Konterfei ihres Chefs und ihrer Seele – Blockflötist Maurice Steger. Und allerpünktlichst rattert um 4:24 der Zug der Montreux-Berner Oberland-Bahn heran, um mich und die drei ähnlich unausgeschlafenen Abreisenden aufzunehmen. Noch ist es dunkel, nichts von dem herrlichen Gebirgspanorama ist auf der Fahrt nach Oeschseite (Halt auf Verlangen), Saanenmöser usw. den Genfer See hinunter zu sehen, das sich die letzten zwei Tage freilich hinter Wolken versteckt hat. Der Herbst, er ist da.

Macht aber hier gar nichts. Umso reueloser lässt sich die Zeit indoor verbringen, im so arg individuellen Ermitage Hotel, dessen Besitzerpaar nicht nur das Festival sponsert, sondern mit der Beherbergung der der Baroque Academy einen aktiven Beitrag leistet. Denn das Gstaad Menuhin Festival ist ja längst mehr als die sieben großen Konzerte und inzwischen auch konzertanten Opern (dafür gibt es eine ganz besondere, auf die großen Namen abonnierte Förderin) im Zelt. Da gibt es die vielen, oft liebevoll individuellen Konzerten in den insgesamt neun stimmungsvollen Kirchen des Saanenlands, wovon die größte, die Mauritiuskirche in Saanen mit ihren Fresken aus dem 15. Jahrhundert, bis zu 800 Besucher fasst. Es gibt die Preisträgerkonzerte mit spannendem Nachwuchs, die fünfmal wiederkehrenden Menuhin’s Heritage Artists und eben das riesige Academy Projekt, Fortbildung war dem Namenspatron ja immer schon ein Anliegen: mit der Conducting Academy samt Profi-Festivalorchester, in diesem Jahr unter Manfred Honeck, der Piano Academy von András Schiff, dem Amateur- und Jugendorchester als Play@ Gstaad Menuhin Festival, der Geigenakademie unter dem festen Strich von Ana Chumachenko, der Gesangsklasse von Cecilia Bartolis Mama Silvana Bazzoni (die Tochter schaute auch für ein Vivaldi-Konzert vorbei) sowie den Barockis.

300 Anmeldungen gab es dieses Jahr allein für die einzigartige Dirigentenakademie, nach der der Neeme-Järvi-Preisträger dann mit Schweizer Orchestern konzertieren darf. Das ist genauso einmalig wie vieles andere, womit der gewiefte Schweizer Orchestermanager Christoph Müller seit 2002 das einst ein wenig dümpelnde Festival fit für das 21. Jahrhundert und vor allem wieder finanziell stark gemacht hat. Seither haben sich die Zuschauerzahlen verdreifacht. Der Umsatz ist von 2 Millionen Schweizerfranken auf knapp 7 Millionen gestiegen. Und langsam kommt sogar der ersehnte Konzertsaal (100 Millionen Franken soll er kosten) in greifbarer Nähe.

Nostalgie pur verströmt hingegen das Menuhin Center im putzigen Puppendorf Saanen. In einer bis zur kleinen Küche mit Memorabilia gefüllten Wohnung im alten Salzhüsi aus dem 18. Jahrhundert sammelt der Festivalveteran Rolf P. Steiger Erinnerungen an den Gründer. Mit einigen seiner Kinder ist man noch in regem Kontakt, auch eine seiner Geigen, ein Geschenk chinesischer Bauart mit geschnitztem Menuhin-Portätkopf, hütet man hier. Menuhin grüßt zudem als Bronzemaske oder in Yogastellung. Sehr sympathisch – und immer Donnerstag nachmittags sowie nach Vereinbarung offen.    

Zwischen den nahen Dörfern Saanen und Rougemont liegen nur wenige Kilometer, doch beide gehören unterschiedlichen Kantonen an – und die Sprachgrenze verläuft hier. Ein Grund mehr für Müller als Festivalmotto 2019 „Paris“ auszugeben. Das mag in der Großstadt nicht weiter aufregend sein, doch erstens lassen sich damit gerade in der Kammermusik aufregende Entdeckungen machen. Und für das hiesige Publikum aus Einheimischen, Chalet-Besitzern und Wochenendtouristen sind selbst Programm mit Berlioz, Strawinsky oder Ravel schon ein gewisses Risiko. Zudem ist auch der Pianist Bertrand Chamayou als Artist-in-Residence (noch) kein Superstar. Aber ein klasse Klassikkünstler.

Mit Olivier Latry, dem Organisten von Notre Dame, dem Cembalisten Christophe Rousset, dem Orchestre philharmonique de Radio France, dem Cellisten Gautier Capuçon, dem Orchestre National de Lyon sowie Bizets „Carmen“ mit Gaëlle Arquez war zudem für ausreichend französisches Flair gesorgt. Die jährliche Uraufführung wurde bei Tristan Murail bestellt, der sich prompt von der Aura der Berge anregen ließ. Und einen patenten  „Karneval der Tiere“ auf Schwyzerdütsch samt Papp-Eifelturm und im Schwarzlicht neonleuchtendem Kinderpantomimentheater gab es auch.

Man strömt schließlich gern zum Abschlusskonzert, zu dem sich – ganz parislos – die durchreisende Dresdner Staatskapelle die Ehre gibt. Die liefert unter dem zartfühlenden Myung-Whun Chung ein klangseidiges Ruhekissen, auf dem Klavier-Darling Yuja Wang (diese Saison schon zum zweiten Mal da) ihre stählernen Finger so nervös wie wohlig, so technisch zupackend wie sensitiv streichelnd ausbreiten kann. Sie kommt sogar in bodenlangem Kleid, freilich wider hauchdünn und seeehr transparent. Rachmaninows 3. Klavierkonzert wird so zur feintönenden Studie über Spätromantik und mechanisch hurtigen Finalaufbruch, aufmerksam den davonfliegenden Tönen nachlauschend und dann beherzt in die Tastenvollen gehend. Als Zugaben gibt es die Vokalise und eine rhythmisch gehärtete „Tea for Two“-Variation; danach schmecken der Pausenchampagner und der Alpenkaviar umso besser.

In der zweiten Konzerthälfte gelingt Chung dann eine freudig strahlende, dabei langsam und weich anhebende zweite Brahms-Sinfonie, mit raffiniert federndem Allegretto grazioso und einem nie lauten, gar schmettersatten Finale. Die Sachsen haben dabei mal wieder ihre Akkuratesse und Noblesse unter Beweis gestellt, und ja, das klingt durchaus französisch elegant, gar nicht deutsch hintergründig. Als Zugabe der 1. Ungarische Tanz.

Die Besucher genießen das hier oben. Sie sind aber auch, in kleiner, konzentrierter, dabei sehr treuer Zahl in den diversen Eremitage-Salons bei der Baroque Academy zu finden, wo man, zum inzwischen siebten Mal, nicht nur die Flötentöne lernt. Man bestaunt aber auch neben dem Aufzug die Alpenkräuter, die hier als Lehrsammlung in Wassergläsern stecken, freut sich am skurrilen Cortina d’Ampezzo-Touch des One Million Stars-Swarovski-Bartresen, den schrägen Kuhbildern in der Halle, dem Neonwasserfall im Souterrain vor den Salonfenstern. Ein eigenwilliges Sammelsurium, sehr wohnlich, mit liebevollem Personal bestückt und gut geführt.

Was sich auch auf die Akademie auswirkt. Da geht es entspannt zu, die knapp 30 handverlesenen Teilnehmer, vorwiegend Flöten- und Gambenvirtuosen, aber auch eine Cellistin und eine Geigerin, die jüngsten 13 Jahre alt, arbeiten trotzdem so konzentriert wie enthusiastisch. Ein paar Schritte über die Gleise sind es nur, wo im Chalet Sandra, dem Winterdomizil für die weiblichen Schüler eines der teuersten Schweizer Internate, die gute Akademieseele Eliza mit ihrem Team aufkocht und weitere Unterrichtsräume bereitstehen. Von hier aus wird zudem livegestreamt.

Dieses Jahr kann noch abwechslungsreicher am Repertoire gearbeitet werden, weil Maurice Steger neben seiner Gambenfreundin Hille Perl auch Meister am Cembalo, der Geige, Harfe, Aufführungspraxis, Theorbe und sogar historischer Tänze eingeladen hat. Spannend, was da so im Diskurs der Künste alles über Tempi und Rhythmusgefühl herauskommt. Und auch die Konzerte werden bunter im Repertoire, sei es in der Hotelhalle im kleinen Saal oder in der schön verziert atmosphärischen Kirche von Rougemont. Und zwischendurch trifft man alle in den acht Saunen oder dem neuen, einen wie auf Wolken dahingleiten lassenden Solebad in der großzügigen Spa-Abteilung des Ermitage.

Eigentlich will hier keiner zurück in den Alltag der Schulen, Hochschulen und der Konzertsaison. Denn wie sagte es Maurice Steger zwischen Musik von Detri und Purcell, Hotteterre le Romain, Händel und Giovanni Battista Fontana so schön? „Es war ein Privileg, mit diesen Menschen erneut auf einer Reise des Lernens wie der Emotionen unterwegs gewesen zu sein“. Und man hat zudem festgestellt, dass sich auch bei Herren türkise Fingernägel sehr gut als individuelle Farbe an der Blockflöte einsetzen lassen.

Da mag doch Gstaad 2021 unter dem vorwiegend WIEN-erisch geprägten Motto mit ganz vielen Beethoven-Variationen (und einem „Fidelio“ mit Jonas Kaufmann und Anja Kampe) nur kommen.

      

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Stalinschnautz und Baumwollbauch: Karin Beier inszeniert in Hamburg „Die Nase“ als expressiven Sowjet-Ulk, Kent Nagano härtet Schostakowitsch

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Bodyshaming!! Lauter hässliche, fette, faltenreiche, schlaffärschige und zudem nackte Leute auf der Bühne der Staatsoper Hamburg! Zum Glück für den Kritiker aber alle nur im kampagnenneutralen Fatsuit. Das ist die, bisweilen mit Kittelschürzen, Koppeln und Schirmmützen veredelte Standardkostümierung, in der der wieder einmal seltsam flau verhuschte, sich nicht richtig trauende Chor unter Eberhard Friedrich (der in Bayreuth so viel hehrere Wunder tut) als meist kleiderlose Hundertschaft paradiert. Mit dem sozialsatirischen St. Petersburg der Novellenvorlage Nikolai Gogols vom aufgeblasenen Major Kowaljow, dessen Nase abhandenkommt (gemeint ist natürlich auch ein unterhalb der Gürtellinie situiertes Körperteil) und der seine gesellschaftliche Stellung verliert, während der jetzt autarke Riechkolben zum Staatsrat aufsteigt, hat diese Neuinszenierung wenig zu tun. Und auch nicht mit den futuristisch-kommunistischen Operndiskussionen, denen der vom Meyerhold-Virus infizierte Dmitri Schostakowitsch 1930 als 22-Jähriger „Die Nase“ höchst umstritten, aber erfolgreich ins Gesicht schoss. Obwohl sich die Ausstattung von Stéphane Laimé (Bühne, auch für den riesenhaften Riecher an der Fassade zuständig) und Eva Dessecker (Kostüme) etwas fantasiearm genau auf dieses Klischee einschießt.

Fotos: Arno Declair

Kommunistisch roter Lackvorhang, Fahnen, kyrillische Schlagwörter, Drehbühne, Zerrspiegel, Filmscreens, Treppen, ein Turmgerüst, ein Teigfladen abkackender Monsterofen, da werden wieder einmal die schrillen Twenties beschworen, ohne dass ihr Geist wirklich erfüllt wird. Und gerade bei diesem Stück ist es allzu naheliegend. Der Hundertminüter besteht eigentlich nur aus filmschnittigen Szenen, dahinwalzenden Zwischenspielen, schrägen Parodien, wilden Perkussionsorgien, radikal raffinierten Rhythmen, fiesen Fugen und als lustvolles Chaos arrangiertem knalligem Krach.

Dem gilt es eine Form zu geben, optisch wie akustisch. So wie dies Kent Nagano gelingt, unerbittlich disparate Disharmonien teilend, sich in periphere Polyphonie verästelnd. Der Lärm aus Trillerpfeifen, kreischigem Blech, und Streicherostinati wird nicht zu mutwillig, die leisen Stellen bekommen Kontur und Tiefe. Die Hamburger Philharmoniker meistern das, nach anfänglichen Ruckeleien, als sei’s ein Kindermusikspiel. Auch das vielfach geforderte, in unbequemste Lagen getriebene Vokalensemble mit dem einmal mehr exzellent in eine modernen Rolle den Abend vokal wie darstellerisch an sich reißenden Bo Skovhus (Kowaljow), dem näselnden Gideon Poppe (Diener Iwan), dem scharf quakenden Andreas Conrad (Wachtmeister), Levente Páll (Barbier) und Bernhard Bechthold (Nase) singt und schreit solches scheinbar mühelos.

Nein, wir wollen jetzt nicht ins Detail gehen. Es gibt sie ja zuhauf, die schmutzigen Witze, die davon handeln, wie sich angeblich der männliche Gesichtserker zu anderen, weiter unten platzierten Körperteilen verhält. Auch Karin Beier, Directrice am Hamburger Schauspielhaus und heute im nahen Opernhaus jenseits der Binnenalster nach langer Zeit mal wieder metierfremdgehend tätig, kennt sie alle. Und das mitlachende, am Ende höfflichen, mit einem Bühchen durchsetzten Applaus spendende Publikum kennt sie offenbar auch. Schließlich hat sich Baier doch zum furzige Finale noch eine solchen erlaubt: Kowaljow, der seine Nase endlich wieder hat, sieht etwas Penisähnliches durch die Gegend getragen werden und schaut gleich in seiner Hose nach, ob noch alles da ist. Man kann ja nie wissen! Entwarnung. Blackout.

Das schrille, zwischen Balalaika und Bumbum oszillierende, 77 Rollen auffahrende Werk über Paranoia und Kastrationsangst soll auch seine Revuenummern haben. Die hier überwiegend als Nackedei-Reigen der allgegenwärtigen Schutzpolizei mit Stalinschnauz abschnurren. Da bleibt einem dann doch das Schmunzeln im Halse stecken. Darf man über den so harmlos ausstaffiert lachen? Baier hangelt sich durch Zitate einigermaßen ästhetisch abgesichert an einem Konzept entlang, füllt es mit Routine, ohne aus dem bewusst flach gehaltenen Stoff inhaltlich etwas Neues zu destillieren. Das Schostakowitsch-Karussell rotiert, die Klangwalze rollt, die Entertainment-Message funktioniert. Und wenn das satte Dutzend Schlagwerker auf der Bühne losschmettert, dann gibt es sogar Szenenapplaus. Da wird dann auch kaum registriert, dass sie per Videofahrt durch Hamburg wenigstens momenteweise Zeitbezug herstellen will, die diktatorische Überwachungsgesellschaft auch auf heute bezieht.

Als einziger naturhaft gebliebener Mensch zwischen Popanzen, die die Hand zum deutschen Gruß recken,  wird so der tolle, zwischen Charakterbariton und traurig im Stimmungsdunkel schwankende Bo Skovhus zum Wahrhaftigkeitssymbol unter all den Knallchargen (besonders parodiespaßig: Hellen Kwon, die die abhanden gekommene Nase im Brotteig findet). Es singt rührend naiv auf Deutsch (in der Übersetzung der Komischen Oper von Ulrich Lenz), möchte seine Integrität bewahren und ist doch zum Schluss, die Nase ist wieder dran, auch nur eine ausgestopfte Marionette wie die anderen. Der Preis ist allzu hoch. Kowaljow, dem die Nase abgeht, trägt erst eine Art abgebissenen Schweinerüssel, dann ein schwarzes Loch als Stigma im Gesicht. Ja, es geht auch, so absurd es abläuft, um Ausgegrenztsein.

Skovus gibt dem Opus eine ehrliche Direktheit. Er macht aber auch deutlich, dass dem juvenilen, nach der Uraufführung erst einmal für 45 Jahre in Russland verbotenen Formalismusschwelgen des frechen Spund Schostakowitsch nicht selten die Puste ausgeht und dass sich die Erzählstränge lockern. Karin Beier aber sieht das nur in Maßen kritisch, die nostalgischen Unterhaltungswirbel toben weiter. Das eigentlich brav nacherzählte Anarcho-Radaustück, Nagano brilliert darin wie schon 202 an der Berliner Staastoper, bleibt dabei weitgehend, wie es ist. Die Regie spitzt die wild und mutwillig gegen alle Kunstkonventionen verstoßende Satire höchstens comichaft zu, verfällt freilich wieder der süßen Honigfalle der üblichen Konstruktivismusoptik expressionistischer Sowjetbauart.

Schade, man möchte doch so gerne mal eine Inszenierung sehen, die diesem virtuosen Revolte-Opus  auch ein bös-gehaltvollen Bedeutungsunterbau gibt, statt sich immer nur in virtuoser Bühnenbespaßung zu genügen. Immerhin die aber gelingt Karin Beier ganz vortrefflich.

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Der alte Hexenmeister hat keine Verdi-Opernlust: eine fade „Macht des Schicksals“ wird vom Charlottenburger Pöbelpublikum zum Miniskandal hochgejazzt

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Mit dem Alter kommt die Oper. Das ist zumindest bei Frank Castorf so, der nach einer langen Auszeit seit seinem Basler „Otello“ 1998 erst 2013 im Musiktheater weitermachte, dann aber gleich mit dem „Ring“ in Bayreuth. Seither scheint er Sängerblut geleckt zu haben, denn ich schöner Regelmäßigkeit folgte danach Gounods „Faust“ in Stuttgart und „Aus einem Totenhaus“ von Leos Janacek an der Bayerischen Staatsoper. Und jetzt Verdis „La forza de destino“ in der Mailänder Zweitfassung an der Deutschen Oper Berlin, in der Stadt, in der er seit 1992 an der Volksbühne als Intendant wirkte und wütete und weiterhin regelmäßig inszeniert. Das aber scheint an der Charlottenburger Schnittmenge der nach wie vor mentalitätsmäßig geteilten Stadt einigermaßen vorbeigehuscht zu sein. Wie sonst wäre es zu verstehen, dass man sich, herausgefordert durch eines seiner bekanntesten Stilmittel, der interpolierten Fremdtext-Suada, so provozieren ließ, dass man sich mitten im vierten Akt eine mehrminütige, rüde und äußerst provinzielle Brüllorgie lieferte, nur weil da zwei der Sänger, die an der Stelle gar nichts zu suchen hatten, einen Text aus Curzio Malapartes Roman „Die Haut“ über die Befreiung Neapels durch die Amerikaner 1943 auf Englisch aufsagten? Was Castorf zudem brav in diversen Interviews via Lokalpresse angekündigt hatte. Doch das unaufgeklärte Opernpublikum tat ihm den Kleinklein-Skandal-Gefallen mit der ortüblichen Nöl-Vehemenz, nachdem man bis dahin über drei Stunden ziemlich durchgegähnt hatte.

Fotos: Thomas Aurin / Deutsche Oper

Denn das ist leider der größte Vorwurf gegen den inzwischen 68-jährigen Großregisseur. Er langweilt sich offenbar selbst, verteilt aus dem Fundus seine reichhaltigen, einst innovativen Mittel und lässt es eben laufen. Zudem scheint er nicht wirklich musikalisch. Im „Ring“ hat es funktioniert – und auch wieder nicht: Visionäre Bilder und angeödete Passagen wechselten, sehr stark waren freilich Wagner und die visuelle Seite der sich beständig wandelnden, immer neue Winkel offenbarenden Drehbühne mit ihren Kompositarchitekturen sowie der Shabby Chic der Kostüme seines inzwischen beständigen Ausstatterteams Aleksandar Denic und Adriana Braga Peretzki. Beim „Faust“ war Castorf sowieso im Thema drin, die Textverweise zu Dreyfus und der Pariser Kommune funktionierten schlüssig. Beim „Totenhaus“ geht alles so schnell und gleichzeitig, dass seinen Literatur-Einblendungen auf den Wänden nicht weiter störten.

Doch die sowieso schon inhaltlich mäandernde, zerrissene, über Ländergrenzen und Zeitsprünge hüpfende „Forza“ mit ihrem holzschnitthaft typenartigen Personal, sie ist so nicht in den Griff zu kriegen. Zumal Denic diesmal die ersten anderthalb Stunden seine Drehbühne gerade einmal um 180 Grad verfährt, Gefechtsstände und eine naturalistische Barockkirchenfassade, später Sanitätszelte, einen Lastwagen plus die üblichen Holztreppen zeigt, und Braga Peretzkis übersexualisierte Fummel auch keinen Novitätswert mehr haben. Auch den Running-Gag einer erst als Montezuma-Diva im Glitzersambahöschen hinternwackelnden Transe als ewiges Opfer (Ronni Maciel als Außenseiter-Indio macht sich tapfer rezitierend zum Heiner Müllerschen „Engel der Verzweiflung“), die später Kolonialismus und Minderheitenverfolgung anklagt, hatte eben der Bayreuther „Tannhäuser“ viel überzeugender und integrativer vorgemacht.

Vom anfänglichen Hakenkreuz auf einer Rednertribüne für den Marchese von Calatrava (knorrig: Stephen Bronk) über Franco-Fahnen und einen Papp-Mussolini hinter der Kamera als Kinoreklame wird wieder viel Fascho-Klimbim aufgefahren, aber in den satirisch grellen Kriegsszenen der Preziosilla (sehr rhythmuskorrekt: Agunda Kulaeva) wagt dann das Volk im „Carmen“-Gewand höchstens ein statisches Flamencotänzchen. So harmlos hat man diese visionäre Verdi-Folie selten gesehen. Doch Chor und Solisten scheinen von jeder Regie alleingelassen, müssen selbst das Beste an Bühnenpräsenz draus machen.

Gute Typen sind  der wenig gütige Fra Melitone (Marko Mimica singt das fein, aber ohne die gewohnt weiche Bassfülle) und der jugendlich attackierende Frau Melitone (mal kein Charakterbariton, sondern mit viriler Kraft: Misha Kiria). Markus Brück als solider Hausbariton reißt das mit vehementer Carlos-Garstigkeit ebenso wenig zu den Verdi-Sternen empor. Seine Bariton-Tenor-Duette muss er meist unter schwerem Videoscreen-Beschuss absolvieren, wo dann zwischen viel Kunstblut Verwundete katatonisch zucken. Wie man überhaupt diesmal von den Filmeinspielungen fast chronisch und ohne echten Mehrwert abgelenkt wird.

Doch in dieser schwer zu besetzendenden Oper müssen vor allem die beiden Hauptrollen besser besetzt sein – oder man lässt es. Auch die Oper Frankfurt in der stringent in ihrer Rassismus-Anklage antiamerikanischen Kratzer-Inszenierung hat das mit No-Names idealer  hinbekommen. Immerhin kann der auftrumpfend laute, im Piano nur verquetschtes Säuseln produzierende Russell Tomas noch einmal zeigen, wie fehlbesetzt er in Salzburger Mozart-Partien war. Das Timbre ist aber nicht wirklich schön, er singt einförmig, phrasiert fad und lässt sich darstellerisch wenig abringen. So wie Maria José Siri, die eben eine solide B-Sängerin ist und bleibt, aber ohne vokale Imagination oder wirkliches Glänzen in der üppig sich ausspreizenden Stimme. Eher kontraproduktiv, wenn sie dann bei „Pace, Pace“ auch noch sinnlos Sandsäcke schleppen muss…

Die größte Bürde musikalisch ist aber der für den wegen Schulterschmerzen abhanden gekommene Paolo Carignani nun am Pult stehende Spanier Jordi Bernàcer. Der dirigiert so blockhaft abgekackt, dabei ohne Innenspannung, dass dieses Verdi-Schwergewicht schnell in sich zusammensackt. Lauter Einzelteile sind da zu hören kein Fluss, schöne Stellen, ohne Zusammenhalt. So werden der optische Einfallsarmut und das schlechte Licht (das nicht mal bei den Solistenvorhängen optimiert ist, nur noch evidenter.

Und, auch wir werden älter: An den genialen „Forza“-Vorgänger von Hans Neuenfels aus dem Jahr 1982, aber bis in die Ära Harms ein bebuhter Repertoirekracher wegen seines kirchenkritischer Bilderrätselfurors samt Panzersegnung und der damals traumschöne, glühend-ätherische Verdi-Linien spinnenden Julia Varady, an den denken wir angesichts dieser braven, spannungsarmen allzu Castorf-altersroutinierten Betrübnis nur mit noch mehr nostalgischer Traurigkeit zurück. Da kann sich der Regisseur noch so sehr im Triumph einer wieder geglückten Provokation im dann doch recht ärmlichen Buhstürmchen sonnen.

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Aviel Cahns Genfer Operneröffnung: Sinnfreier Wellness-Bilderstaub zum betörenden Dauerlullen in „Einstein on the Beach“

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Studierstube, faustisch. Das funktioniert immer. Und am Ende ein nicht aufhören wollender Glitzerfolienregen. Mehr Glamour war selten im freilich nur noch halb vollen Grand Théâtre de Genève. Und dazwischen der selbst zwischen den distinguierten Helvetiern bollestolze Intendant Aviel Cahn. Der hat es geschickt gemacht. Welche Großwerke des 20 Jahrhunderts sind in der kleinen Opernschweiz noch nicht gegeben worden? Und er, selbst Zürcher, der das flämische Doppelhaus Antwerpen-Gent in den letzten zehn Jahren ganz ordentlich aufgemischt hat, startete jetzt in der Suisse Romande seine erste Spielzeit mit zwei kultigen Dinosauriern. Am Anfang steht Philip Glass’ und Robert Wilsons minimalistisches Monumentum „Einstein on the Beach“, von dem man sich 1976 ein neues Musiktheaterzeitalter erhofft hatte und das sich doch als meteoritengleicher Solitär erwiesen hat. Und an das Ende der Saison hat Cahn Olivier Messiaens transzendent-fluoreszierende Vogelheiligen-Legende „St. François d’Assise“ gesetzt. Lang und groß und spektakulär, Schweizer Erstaufführungen sind es zudem. Dazwischen liegen die Uraufführung von Christian Josts Oper „Reise der Hoffnung“ nach Xavier Kollers Oscar-prämiertem Film und eine von einer türkischen Exilautorin mit neuem Libretto versehene „Entführung aus dem Serail“. Da ist die Aufmerksamkeit sicher. Doch wieviel Zauber wohnte nun diesem Anfang inne? Musste die Fontäne im Genfer See verblassen?

Fotos: Carole Parodi

Das nun nicht wirklich. Zwar hatte Aviel Cahn bereits fröhlich zum Kreativangriff auf die beiden anderen, international relevanten eidgenössischen Opernburgen in Zürich und Basel geblasen, denn Konkurrenz belebt ja das Geschäft. Er will das solipsistische Kulturleben der mondänen, aber auch kleinstädtischen Ansiedlung aufbrechen und durchmischen. Die Institution Oper soll durchlässiger und diverser werden. Es hatte vorab schon eine Clubbing Night im frisch renovierten Opernfoyer gegeben, und auch ein Einstein-Eis aus der blauen Box (Fior di Latte mit Zitronentopping) war ein hübscher Werbegag – am Premierenabend freilich nicht vorhanden. Ansonsten saß hier das üblich ältliche Genfer Großbürgertum plus ein paar jüngere Neugierige. Der Aufforderung, das immerhin vierstündig pausenlos mäandernde Spektakel selbst aus 50-sitzigen Reihen zwischendurch verlassen zu können, kamen dann doch gar nicht so wenige nach. Anders freilich als ich, der sich nach zwei Stunden ein paar Halbzeitluftschnapper auf der nächtlich frischen Place Neuve gönnte und wiederkehrte, ward das Groß der Flüchtenden nicht mehr gesehen.

Dabei ist das Bühnengeschehen immer sehr hübsch anzusehen und höchst professionell aufbereitet. So also sieht das aus, ohne das ikonografische Original-Bob-Wilson-Setting dessen diverse Wiederaufnahmen zuletzt 2014/15 noch einmal die internationale Festivalrunde gedreht hatten. Damals freilich hatte es schon alt und historisch gewirkt, der lullige Zauber war verflogen. Erneuerung tat Not. Doch plötzlich scheint Philipp Glass wieder einigermaßen angesagt. Gerade die frühe Operntrilogie der Porträts, zu der sich noch das indische Gandhi-Spektakel „Satyagraha“ (1980) und das altägyptische Pharaoneon-Epos „Akhnaten“ (1984) über den Sonnenanbeter Echnaton fügen, hat neuerlich Konjunktur. Und auch der abstrakte „Einstein“ ohne Sänger, nur mit einem Vokal- und Instrumentalensemble im Graben, er taucht wieder auf den Szenen auf.

In Genf ist Aviel Cahn damit frontal auf eine ganz neue Ästhetik zugegangen. Er hat dafür clever die Eventbehübschungstruppe des Italoschweizers Daniele Finzi Pasca engagiert. Der war schon für die Eröffnungszeremonien Olympischer Spiele zuständig, für kunterbunt-künstlichen Cirque du Soleil-Eskapismus und hat zuletzt in Vevey die hier wichtige Fête des Vignerons optisch neu angerührt. So eine Art Schweizer Fura dels Baus also, nur viel netter und beflissener. Trotzdem könnte sich die Mannschaft schnell in den auf solche Schlüsselreize mit gierigem Schnappen reagierenden globalen Opernbetrieb einspeisen lassen. Und Aviel Cahn ist immerhin der erste, der sie engagiert hat.

Vier Stunden darf man hier staunen uns sich freuen, ein wenig schlafen, im Sitzen dämmern sich zublubbern lassen von den irisierend einfachen, aber auch immer wieder irritierend, weil kaum merklich verschiebenden Glass-Klängen und –Patterns, die der nimmermüde Titus Engel mit größtmöglicher Präzision seinem aus Studierenden der Genfer Musikhochschule zusammengestellten Einstein-Ensemble entlockt. Und man hört befriedigt: Das lange, auch langweilende Opus kann auch von nicht Glass-geschulten Musikern bewältig und samt sein mal zwei-, mal viertaktigen Loops und simplen Tonwechseln durchgezählt werden. Frei und zwanglos schwingt das dahin, man lässt sich schwebend zufrieden mitttragen.

Auf der Bühne freilich ereignet sich nur ein saftmütiges optisches Wellness-Theater, Augenfutter der niedlichen, der besänftigenden Art, mit Tricks und Spielereien, als Fest der Farben und Formen. Zwei Damen, eine mit leuchtendem Lesebord, eine als Glitzerclown, sind vorwiegend für die sinnfreien Texte zuständig. Und wir schauen und staunen – wie über dem Formeln und auch eine Notenlinie an seine Tafel schreibenden Einstein das Bücherregal nach oben wächst; wie ein Fahrrad führerlos durch die Luft schwebt und Papierflieger Salti wagen; wie eine Meerjungfrau auf halber Höhe Kapriolen schlägt, wenn Einstein zwischen Liegestühlen endlich am Strand aufschlägt; wie auf Wagen gesteckte, zuckende Leuchtröhren immer neue Formationen bilden und die Farben wechseln, sich zur flackernden Tropfsteinhöhle fügen; wie bei Schattenspielen Figuren größer und kleiner werden; wie ein fein geputzter Schimmel graziös über die Bühne tappt und kreiselt; schließlich von ein paar „Carmen“-Toreros umwedelt; Und dann hebt auch noch eine Braut ab gen Bühnenhimmel.

Das alles wiederholt sich über die neun Szenen und fünf Knee Plays, die Intermedien, immer wieder, ist harmlos, aber nicht wirklich relevant. Instagramtaugliche Retorten-Poesie. Bonbonbuntes Licht, kaum Tanz – wie im Original von der gestrengen Lucinda Childs –, einfach nur unterhaltenden Arrangements von wenig Personenraffinesse, dafür immer wieder von Beifall unterbrochen. Minimalismus-Akrobaten, schöööön! Einmal darf eine Geigerin die klanglichen Endlosschleifen auf der Bühne vorführen, auch eine Solosängerin produziert sich minutenlang in Castafiore-Manier. Und am Ende dann ganz viel umherfliegende Schreibpapierblätter und Glitter. Sternestaub für guckmüde, irgendwie wolkig glückliche Augen und leere Hirne. Aber keinerlei politischen Anspruch, so wie es noch die Uraufführung mit ihren Bildern eines rassistischen Amerikas formulierte, über das man zu Gericht saß.

Aviel Kahn hat sein Event gehabt. Im opernmäßig immer noch etwas hinterherhinkenden Genf war das nicht schwer. Aber im Stagione-Haus Grand Théâtre war zur Eröffnungspremiere weder das Orchestre de la Suisse Romande im Graben, noch der Chor auf der Bühne, auch die Vokalisten hatten sich keinem wirklichen Vergleich zur stellen. Die eigentliche Bewährungsprobe der neuen Equipe kommt also erst noch, sie ist einigermaßen mutig, frech und offensiv gewählt: Verdis „Aida“

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Neuer Klangkörper an der Spree: Vive l’Orchestre de Berlin

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Foto: Janine Kuehn

An der Seine gibt es das Orchestre de Paris, an der Spree, wo sich einst viele Hugenotten ansiedelten, gibt es jetzt ab heute das Orchestre de Berlin. Diesen Samstag wird sein Gründungskonzert geben. Und man hat sich nichts geringes vorgenommen: Mit Gustav Mahlers 6. Sinfonie (da sind alle beschäftigt!) wird der junge Klangkörper unter Johannes Klumpp im Konzertsaal der UdK zum ersten Mal ertönen. Nicht dass es nicht schon genügend Orchester hier gäbe. Aber Jugend vor! Junge Spitzenmusiker und Akademisten werden die Berliner Orchesterlandschaft bereichern. Es musizieren erstmalig gemeinsam Karajan-Akademisten der Berliner Philharmoniker, Studierende der Barenboim-Said Akademie, Akademisten der Staatskapelle Berlin sowie Studierende der UdK sowie der Hanns Eisler Musikhochschule. Die intensiven Proben begannen am 9. September. Zum Konzept aller Konzerte des Orchestre de Berlin gehört eine öffentlich zugängliche AfterParty mit DJ, wo sich Musiker und Publikum ganz ungezwungen begegnen und austauschen können. Heute wird der schottische DJ Andrew Moore auflegen. Initiatoren des Orchestre de Berlin sind die beiden jungen Brüder David und Lucas Stiff sowie Manager David de Bjaouix. Die Gebrüder Stiff die aus Berlin stammen und hier am Canisius-Kolleg ihr Abitur gemacht haben, wo die allererste Probe des Orchesters stattfand, führen auch eine bereits sehr erfolgreiche Konzertagentur mit über 30 Veranstaltungen im Jahr im In- und Ausland.

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Susanna strahlt mozärtlich unter Florentiner Sternen: Das New Generation Festival lud zum dritten Mal in die Gärten des Palazzo Corsini al Prato

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„Firenze è come un albero fiorito“ – „Florenz ist wie ein blühender Baum“. So singt der junge Rinuccio in Puccini frecher Erbschleicher-Farce „Gianni Schicchi“. Ja, stimmt, ist es immer noch, wenn man den Blick leicht hochwärts schweifen lässt und über die Touristenhorden hinwegschaut. Aber leider gar nicht, was die Musik angeht, die Oper im speziellen. Zwar wurde die Gattung hier eher zufällig von einer gelehrten Accademia Ende des 16. Jahrhunderts quasi fälschlicherweise erfunden, als man wieder mal die vergessenen Kultspiele der Griechen mit der Humanisten-Seele suchte, doch den Erfolg hat man sich gleich darauf von Mantua und Venedig abjagen lassen. Und dann war lange nix. Gut, Zemlinskys „Florentinische Tragödie“, Max von Schillings’ „Mona Lisa“ und Leoncavallos „I Medici“ spielen vor Ort, sind aber nicht eben Repertoirekracher. Man hat zwar drei Opernhäuser, das Teatro della Pergola als ältestes Logentheater Italiens (immerhin Verdis „Macbeth“ wurde hier uraufgeführt), das hässliche Teatro communale und die noch hässlichere Opera di Firenze von 2014. In der west der fast schon verblichene Maggio Musicale dahin, der – führungslos – jetzt ab Winter im Schnelldurchlauf von Alexander Pereira wieder wachgeküsst werden soll. Also kann am Arno ein wenig Musiktheater-Belebung von außen nicht schaden. Und just am Tag, als der Wechsel des Österreichers von der Scala in die Toscana verkündet wurde, hub dort zum dritten Mal das weitgehend von Englishmen of Umbria – in Umbrien zur britischen Toscana-Fraktion gehörenden Upper Class Engländern und ihren Zöglingen – initiierte Festival New Generation an.

Das sind wiederum vier Tage, ein verlängertes Wochenende ab Donnerstag, mit einer (zweimal gegebenen) Oper, einem Konzert und einem Jazz-Gig. Das alles nicht weit von der Florentiner Oper an der Porta al Prato entfernt, aber viel exklusiver. Im pittoresk angegammelten Privatpalazzo Corsini al Prato samt eigenen Gärten in schönster italienischer Bosquetten- und Statuen-Manier, mit Pinien, Zypressen, Orangerien und Stallungen, in denen, zwischen den mit Tüchern verdeckten Oldtimern, jetzt Garderoben und Lagerraum untergebracht sind. Man kommt elegant festlich, die Damen freilich haben es leichter als die smokingschwitzenden Herren, denn auch Florenz kann sehr schwül sein. Die Briten sind in der Überzahl, doch auch italienische Nobili lassen sich blicken, und sogar Schleswiger Uradel ist anwesend. Ganz so eng mit der Kleiderordnung ist es dann doch nicht, auch casual ist gern gesehen, Hauptsache, bunt, lässig und fancy.

Ein paar Worte zur gastgebenden Familie, die sich, ziemlich inkognito, unter die Gäste gemischt hat und einige Wochen den jungen Leuten im Hause Obdach gewährt. In Florenz ist der hochadelige Corsini-Clan, der wohl aus der Gegend von Poggibonsi stammt, seit dem Ende des 12. Jahrhunderts nachweisbar. Im der Renaissance wurden sie als Händler mit England für Wein, Wolle und Seide reich. Mitglieder kamen in der Politik wie beim Klerus zu Ansehen, wurden aber später an Einfluss von den Medici überflügelt. 1371 wurde ihnen von Kaiser Karl IV. der Markgrafentitel verliehen. Zwei Corsinis waren Bischöfen von Fiesole (einer wurde als Sant Andrea Corsini sogar 1629 heiliggesprochen), zwei von Florenz. Die Familie sammelte weiter Land und Titel, unterhielt auch ein Bank.

Im 16. und 17. Jahrhundert entstanden – neben weiteren, bis heute gehaltenen Besitztümern – die beiden Florentiner Paläste Corsini Lungarno und al Prato; in der Chiesa del Carmine wurde eine Kapelle für Sant’Andrea Corsini errichtet. Ihren gesellschaftlichen Höhepunkt erreichte die Familie mit Lorenzo Corsini, der als Papst Clemens XII. von 1730–40 in Rom amtierte. Er gründete die Kapitolinischen Museen und beauftragte die Fontana di Trevi sowie die Fassaden von San Giovanni in Laterano und Santa Maria Maggiore. Sein Neffe und Kardinalnepot ließ in Rom den Palazzo Corsini alla Lungara gegenüber der Farnesina errichten, der später Joseph Bonaparte und heute einen Teil der städtischen Gemäldegalerie beherbergt. Tommaso Corsini (1835–1919) was Bürgermeister von Florenz und schenkte den römischen Palast samt Inhalt dem Staat.

Die heutige Familie Corsini sitzt in Florenz, Rom, London und anderswo, ist in Oliven- und Weinproduktion tätig, kümmert sich um ihre Ländereien und vermietet als Eventfirma die meisten Palazzi; den am Arnoufer etwa für Hochzeiten im „Kadashian Style“, wie es so schön auf Neuitalienisch heißt. Und eben an das New Generation Festival. Aber auch Tragik umflort die Sippe: Filippo Corsini, der Neffe des gegenwärtigen Prinz Corsini und einziger Titelanwärter, starb 2016 im Alter von 21 Jahren bei einem Fahrradunfall in London. Sein Foto steht Backstage in einem Gang.

Die Rückseite des äußerlich schmucklosen Palazzos hat eine dreibogige Loggia samt Balkon, die sich perfekt als Bühne eignet; auch wenn der Brunnen und die Fassade ins szenische Geschehen integriert werden müssen. Davor wird dann eine dreiflügelige Tribüne errichtet, schickt verkleidet zur Gartenrückseite, auf die hin man über statuengesäumte Kieswege lustwandelt; sogar die Haushunde sind in Stein gehauen. Das alles ist, senkt sich, nach einem erfrischend genau terminierten Gewitterschauer. langsam die laue Toscana-Nacht hernieder, stimmungsvoll ausgeleuchtet. Überall gibt es Bars und Sitzgelegenheiten, wo sich man in der einstündigen Pause an Menüs, Picknickkörben oder Mitgebrachtem delektiert. Aus den Orangerien tönt leise Jazz, später kann hier auch unter der Discokugel getanzt werden: Italienische Festival-Bellezza und –Magie eben sam ausdauernder Konversation.

Nach Donizettis „Liebestrank“ und Mozarts „Don Giovanni“ haben Maximilian Fane und Rodger Granville, die beiden künstlerischen Leiter, für die dritte Ausgabe „Le nozze di Figaro“ terminiert. Die ideale Oper für diesen herrlichen Ort, „Sotto i pini del boschetto“ – „dort bei den Pinien im Gartengebüsch“, so wie es im Dritte-Akt-Duettino zwischen Gräfin und Susanna heißt. Denn zwischen Rampe und Auditorium, Zuschauer und Darsteller gibt es freiluftig kaum mehr Grenzen: Wir alle sind Mitspieler in dieser köstlichen Musikkomödie. Victoria Stevens, sonst Spielleiterin in Mannheim, hat sie so einfach wie einfallsreich, so beweglich wie tollertagverwirbeld inszeniert. Wir sind auf einem Filmset in den Dreißigerjahren, das Graf Almaviva als Produzent in seiner Villa eingerichtet hat. Die Gräfin ist der weibliche Star, Figaro der Kameramann, Basilio der Choreograf und Klappenschläger, Susanna die Garderobiere, Cherubino Assistent und Barbarina macht Maske. Marcellina und Bartolo im Rollstuhl hingegen waren mal die Leinwandsterne der ganz frühen Atelierstunde.

Da wird dann auch auf der berüchtigten Besetzungscouch gern mal danebengeküsst- und fremdgeflirtet, ein wenig MeToo-Gewalt ist zudem dabei. Das funktioniert ganz zwanglos, vital und vergnügt, zwischen Kulissen, Schminktischen, Scheinwerfern und Kleiderständern; oben auf dem Balkon leuchtet rotglitzernd das Firmensignet. Und am Schluss steht dann auch hier das „Comtessa, perdono“ des düpierten Filmmogul; wir hoffen, dass das fragile Gleichgewicht der Herzen weiter hält.  

Fotos: Guy Bell

New Generation, das heißt nicht nur günstig, sondern auch gut. Der Instrumentalnachwuchs des hauseigenen Orchestra Senzaspine unter dem tempohurtigen, aber nie verhetzten Pappano-Assistenten Jonathan Santagada klingt wirklich dornenlos und fein, freiluftgemäß freilich auch wenig füllig. Doch mit ein wenig elektroakustischer Unterstützung balanciert sich das gut aus.

Für den frisch tönende Chor von Hochschulabgängern baut das Festival gerade ein neues, ab Herbst 2020 startendes, auf neun Monate gemeinsamer Arbeit terminiertes Opernstudio namens Mascarade auf, in dessen Lehrplan unter Ralph Stehle zudem Erkenntnisse der Sportpsychologie integriert sind. Und auch die perfekt abgestimmte Sängerbesetzung hat man sich vielfach aus berühmten Opernstudios geholt.

Der polnische Bassbariton Daniel Miroslaw ist ein markant aufmuckender Figaro. Der Türke Fak Mansuroğlu läuft sich als grandseigneuraler, aber auch geiler Graf in der zweiten Hälfte warm. Seine Betriebstemperatur offenbar eine weiche, noch nicht ganz fertige Stimme. Eine wenig angeschärft in den Kantilenen klingt hingegen die schöne Legatobögen bauende Nela Šarić als divenhaft den Morgenmantel schnürende Gräfin Almaviva. Sara Rocchi ist ein burschikoser Cherubino mit fruchtig-geläufigem Mezzo. Spaß machen auch die Nebenrollen in einem juvenil-mittreißenden Ensemble, das man in dieser ausgeglichenen Qualität in Salzburg etwa schon länger nicht mehr gehört hat.

Veredelt und überstrahlt wird das allerdings von dem hinreißenden Susanna-Debüt, der zu schönsten Sopranhoffnungen berechtigenden Anna El-Kashem. Die Russin im Münchner Opernstudio ließ dort schon in den letzten drei Jahren aufhorchen und begeisterte selbst in kleinsten Partien. Doch auch diese zentrale Repertoirerolle singt die 23-Jährige jetzt mit Charme und Noblesse, Eleganz, gewitzter Verführungskunst und anrührender Klarheit. Unter den Sternen und bei den Pinien. Das Staatstheater Wiesbaden, darf sich glücklich schätzen, diesen juvenil geschliffenen, so sympathischen Vokaledelstein für mindestens zwei Spielzeiten in seinem Ensemble zu haben.

Das Next Generation Festival aber bespielt weiterhin mit jungen Talenten in Konzerten übers Jahr Florenz und den neuen Konzertsaal im Schweizer Hotelressort Andermatt. Und lädt nächsten Sommer wieder ab 26. August zu Rossinis „La Cenerentola“ in den Palazzo Corsini al Prato.

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Verismo und Wahrheit: Robert Carsen zeigt mit Anita Rachvelishvili in Amsterdam „Pac/Cav“ in bühnenphilosophischer Nacktheit

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Verismo-Opern, das sind robuste Reißer, Stimmproviant für Sängerstars, Vokalfutter für Abonnenten. Nichts für den intellektuellen Hunger. Es müssen immer erst neugierige Regisseure kommen, die hinter Pappkulissen wie großen Gefühlen gemeinsam mit sensiblen Darstellern mehr entdecken wollen. Und immer stärker rückt dabei das unvermeidliche, das berühmtestes Zwillingspaar jener Gattung in den Deutungsfokus: Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ und Leoncavallos „Bajazzo“. Wobei nicht zwangsläufig ein geistiger Zusammenhang konstruiert werden muss zwischen der erdig-melodiesatten Archaik einer „sizilianischen Bauernehre“ und dem fadenscheinigen, dabei impressionistisch farbsprühenden Vorstadttheater des zweiten Stücks, wo Commedia dell’arte in blutigen Ernst umschlägt. Doch es macht Sinn: Die unfreiwilligen Opernbrüder als durchgedachtes Doppel, das Musiktheater wie Emotion zu ihrem Recht kommen lassen. Das beginnt mit der Wahl der Reihenfolge und endet noch lange nicht mit der derselben Kulisse, in denen die doch so unterschiedlichen Werke sich spielen lassen. An der Deutschen Oper Berlin war jetzt die unaufdringlich sich wandelnde, in 14 Jahren gut gealterte David-Pountney-Produktion in hochmögender Repertoirebesetzung sehen. In Amsterdam bescherte Robert Carsen der Dutch National Opera einen süffig-klugen Spielzeitauftakt mit tollen Sängern und einem spektakulären Debüt: die georgische Mezzogranate Anita Rachvelishvili gab ihre erste, auflodernd intensive Santuzza als fantastisch singende Anna Magnani der Oper.    

Fotos: Dutch National Opera

Das tat sie aber erst nach der Pause, denn es beginnt mit dem „Pagilacci“. Es mag dem Lebensalter des inzwischen als immer noch jugendlicher Regieveteran durchgehenden Robert Carsen anzurechnen sein, dass er sich in seinen Inszenierungen stetig mehr minimalisiert, dabei gern und oft über Schein und Sein, das Wesen des Theaters, die Gesetzmäßigkeiten der Bühnen nachdenkt. Und so verschränkt er auch knapp und klug die beiden tödlich endenden Eifersuchtsgeschichten von den Vorstadt-Komödianten und den sizilianischen Landleuten. Lokalkolorit ist ihm dabei nur sehnsuchtsvolle Beschwörung angesichts des nüchternen Nichts einer freilich alle Möglichkeiten der Illusion bietenden Bühne.

Als Prolog besingt diese samt der Künstler als Menschen der sämig auftrumpfende Roman Burdenko mit schön durchgebildetem Bariton. Ein stämmiger Mann in schwarzer Alltagskluft, der insgesamt drei Vorhänge samt Bühnenrahmen vorführt, das Spiel im Spiel immer mehr einschachtelt. Radu Boruzesku und Annemarie Woods liefern dafür nur allerknappesten Dekor und zeitlose Kleider, etwa drei Schminktische mit Lämpchen sowie Kleiderstangen als Symbol der Verwandlung. Die Spielertruppe bricht durch die Türen von draußen in den echten Theatersaal, die Bevölkerung erhebt sich als falsche Zuschauer aus den ersten Reihen und entert ihren eigentlichen Lebensort Bühne.

Sein „Vesti la giubba“ zelebriert Brandon Jovanovich alias Canio dann wieder vor geschlossenem Vorhang. Die unter Tränen lachende große Soloszene wird zur vokalen Erkundung des inneren Seins, an der ein gespannt-begeistertes Publikum teilnimmt. Wobei der Amerikaner mehr durch die Intensität seiner Gestaltung als durch seine problematische Höhe und seine fehlende Italianità beeindruckt. Ailyn Pérez ist ihm eine temperamentvoll-schnippische Nedda; ihre souverän gestaltete Vogelarie offenbart freilich auch angestrengte Spitzentöne. Ihre sinnliche Seite darf sie dann in den raffinierten Bodenverrenkungen mit dem halbnackt wie vokal gute Figur machenden Silvio Mattia Olivieris ausführlich ausstellen. Mit blonder Fusselperücke ausstaffiert, läuft Burdenko jetzt als weidwund verliebter Bühnenarbeiter Tonio über die Beleuchterbrücke des beständig die Perspektiven wechselnden Portals; das ist dann in der eigentlichen Theaterszene nur noch gemalt.

Vorher, im Intermezzo, hat der Bajazzo seine eigenen Kleider (die auch nur Kostüm sind) ausgezogen, und die gleichen für die nur gespielte Vorstellung noch einmal angezogen. Und nach einem wild grollenden Showdown mit blitzendem Messer werden wir dann wirklich mit zwei Leichen in die Pause entlassen. Diese stehen dann zum „Cavalleria rusticana“-Anfang wieder auf, jetzt ist die Bühne ganz leer, hinten sehen wir uns selbst als Spiegelbild. Der eiserne Vorhang verschließt das, wie auch beim zweiten Intermezzo die Spielfläche. Die hat sich inzwischen in eine Backstage-Arena verwandelt, die „Bauernehre“ wird nur geprobt, ist auch ein Stück im Stück.

Wieder ziehen sich alle an und aus, wechseln verwirrend die Identitäten. Der Chor spielt Landleute, seine echte Dirigentin Ching-Lien Wu leitet die gestellte Sitzprobe der Ostermesse. Santuzza mit Tasche und Mantel scheint von außen zu kommen. Anita Rachvelishvili läuft sich langsam warm, lullt ein mit ihrer üppigen, zurückgenommenen, dunkel glühenden Stimme, die freilich gewaltig ausholen kann. Ein weiblicher Vulkan, den man nicht reizen sollte, der lodert, aber nie ordinär ausbricht. Seit den Tagen der Simmionato, Rysanek oder Cossotto hat man das nicht mehr so farbenreich schön und weiblich verletzlich, aber auch so verhalten wütend gehört. Eine tief gekränkte Frau tut, was sie tun muss. Zu Recht wird Anita Rachvelishvili nach der Vorstellung mit dem Jahrespreis des Preises der deutschen Schallplattenkritik für ihre erste Solo-CD ausgezeichnet.

Auch hier holt uns Robert Carsen ganz einfach und natürlich ins sich dramatisch zuspitzende Spiel. Die Mama Lucia der einmal nicht als derbe Edel-Nebenrolle glänzenden, diesmal eleganten Elena Zilio ist die Impresaria, der selbstgerechte Alfio des schnell auffahrenden, dröhnigen Gevorg Hakobyan, die pralle, billige Lola (Rihab Chaieb) mit dem Geburtstagskuchen für den Mann, dem sie längst untreu ist, sie alle sind Protagonisten – in welchem Stück? Dem ihren oder dem gespielten? Brian Jagde ist jedenfalls ein unbekümmerten Turridu mit Rucksack, der sich um nichts schert, verantwortungslos mit allem flirtet und schönste Tenortöne hochtrompetet.

Die meiste Vorstellungen der Serie dirigierte der für den kranken Mark Elder eingesprungene designierte Amsterdamer Musikchef Lorenzo Viotti. Heute ist Aldert Vermeulen sein farbarmer, langsam anlaufender, nicht immer reaktionsschneller Klangverwalter am Pult des Nederlands Philharmonisch Orchest. Zwischen einer Menschenmasse schält sich nun das blutige Finale aus der Anonymität. Wieder ist die Bühne leer, den toten Turridu sehen wir nicht. Der rote Vorhang schließt sich und fällt herab, dahinter ist  – Leere. La commedia è finita!       

Fotos: Deutsche Oper / Bernd Uhlig

In Berlin hingegen spielt man das gemischte Doppel in der üblichen Reihenfolge und bricht es doch auf, durchwirkt es mit Beziehungen. „Cavalleria rusticana“ hat sich samt Mama Lucias Imbissbude unter einer Autobahnbrücke geschäftlich eingerichtet: eine von vielen Bauruinen in der versteppten Landschaft, durch die die Bauern zum Ostergottesdienst ihre Heiligen schleppen. David Pountney lässt hier den Realismus glühen. So vehement, dass man misstrauisch wird. Als nach der Pause immer noch die Mamma an der Leiche ihres von der Brücke geworfenen Sohnes kniet, wird klar: Das ist ein Spiel mit der Realität. Pirandello-Ambivalenz offenbart sich, wenn die Kulissen davongezogen werden und die umgedrehte Autobahn als nackter Portalrahmen für die vorfahrenden „Bajazzo“-Komödianten dient.

Jetzt sucht der zweite Tenor seinen Autor. Und findet eine untreue Ehefrau, die ihm Paroli bietet. Statt ihres egozentrischen Gatten bezüngelt sie einen verdrucksten Sandalenträger. Das Duett mit dem hinreißend verschüchterten Silvio scheint der einzig wahrhaftige Moment an diesem Abend der gebrochenen Illusion. Die Chöre fabrizieren präzise La-Óla-Figuren während sie Zeugen werden, wie sich die Bühnenfiguren ganz echt abstechen, um dann ins falsche Applauslicht zu schreiten. Pountney spielt lässig mit den Theaterebenen und lässt Raum für saftige Italianitá.

Die in dieser weit überdurchschnittlichen, von Paolo Arrivabeni mit lautsatt rumpelndem  Temperament aufgeschäumten 38. Repertoireaufführung schön ausmusziert wird. Roberto Alagna ist ein idomatisch vorzüglicher, sich klug konzentrierender Turridu wie ein kontrolliert außer sich geratender Canio mit Schluchzern und sehr viel Charisma. Der Ermordete wird zum Mörder, das Opfer ein Täter. Seine echte Ehefrau ist eine zu Herzen gehende Aleksandra Kurzak als Nedda, musikalisch, verspielt, freundlich im Spiel mit den Vogelstangen schwingenden Kindern, Canio effektvoll trotzend. Vorher waren Eva-Maria Westbroeck mit proletarischem Charme eine vibratosatt weibliche Santuzza, Ronnita Miller als Mama Lucia die Mezzoruhe selbst. Mit großer Eleganz und der Abgeklärtheit des erfahrenen Sängers hält sich Carlos Álvarez mit seinem markant-biegsamen Bariton als Tonio zu großer Klangform auf. Rodrigo Esteves ist ein geschmackvoller Alfio, auch der Lyriker Samuel Dale Johnson als Silvio kann mit den berühmten Profis mithalten.

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Tod als Inszenierung: Dmitri Tcherniakov zeigt in Zürich Janáčeks „Die Sache Makropulos“ – mit Schlusspfiff

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Ein inszeniertes Sterben. Um nichts anderes geht es in Leoš Janáčeks dreiaktiger, aber nur 100 Minuten langer vorletzter Oper „Die Sache Makropulos“ von 1926. Nach seinen realistisch anmutenden Frauenschicksalen versucht er es hier mit einer surrealen Tragödie über eine 337 alte Dame, die jetzt den Tod sucht. Eine Sängerin, eine Drama Queen. Auch wenn sie eigentlich weiterleben wollte, die Formel, eben die Sache Makropulos wieder haben will. Am Ende merkt sie, dass sie als Alien durch eine Welt geistert, in der sie längst zum entfremdetes Fossil wurde. Das eben ist kein Dasein – und so beendet sie es. So wie dies auch die Darstellerin in eben jenem Stück tut, das hier als Reality Show nachgestellt wird. Sie kündet es schon zu Anfang an, während der wunderbare Jakub Hrusa bei seinem Zürcher Operndebüt die Fanfaren des Jüngsten Gerichts im Vorspiel stoßhaft schallen lässt und das Philharmonia Zürich zu schönster Farbigkeit und Glut anhält. Denn Dmitri Tcherniakov inszeniert natürlich nicht nur diese Oper, die beschwert ist durch einen unentwirrbaren, unerzählbaren, eigentlich auch nicht wichtigen, schon 100 Jahre währenden Erbschaftsstreit zwischen den Kombattanten Gregor und Prus. Entscheidend ist nur, dass sich jetzt Emilia Marty, die Frau mit den vielen E.M.-Namen, in die Geschichte einschaltet und als Katalysator diese und die eigene zu Ende bringt. Und deshalb sehen wir, noch bevor sich die Courtine hebt, in Tschechisch darauf projiziert einen Befund: Krebs, terminales Stadium. Überall Metastasen. Noch zwei Monate Lebenserwartung. Und was macht die Figur, zu der der über diese erschreckenden Zeilen fahrende, manikürte Finger gehört? Sie schreibt eine To-Do-Liste. „Papiere ordnen“, steht da drauf. „Wild leben“ folgt. Das streicht sie wieder durch. „Schauspieler engagieren“, kommt stattdessen. Und: „Kleid kaufen“. Das wird ersetzt durch „Besser 3 Kleider“.

Und dann hebt sich der Hänger. Wir sehen einen gutbürgerlichen Gründerzeitsalon in verblichenem Burgunderrot. Das könnte auch eines der kleineren Foyers des Opernhauses sein. Hinter dem Fenster bauscht sich Grün, ganz offensichtlich nur ein Video. Morgenstimmung, eine Frau ist nur von hinten in einem Sessel zu sehen. Tcherniakov spult all die juristischen Winkelzüge, das sich enger zusammenziehende Netz menschlicher Beziehungen mit der bei ihm gewohnten Brillanz in der Personenführung auf engstem Raum ab. Zu erleben ist ein konventionelles Wohnzimmerdrama, dicht und intensiv, aber auch fast zu comme il faut.

Nach und nach trudeln in den ersten zwei Akten – es gibt keine Verwandlung vom Anwaltsbüro in die Theatergarderobe – alle ein: der wuselige Kanzleivorsteher Vitek (beflissen: Kevin Conners), seine sängerinnenambitionierte Tochter Krista (kaugummikauend im Overall: Deniz Uzun) mit ihrem Boyfriend Janek (Hänfling mit Rastamütze: Spencer Lang). Der ist der Sohn von Jaroslav Prus (durchdringend, mit Weißhaar und Anzug in Stéphane-Lissner-Blau: Scott Hendricks), der gegen den jungen Albert Gregor (alerter Tenor-Youngster: Sam Furness) prozessiert. Als dessen Anwalt tritt der polternde Dr. Kolenaty (Tómas Tómasson) an. Dazu kommen noch der als der Tod im Rollstuhl einherfahrende Operettengreis Hauk-Schendorf (grotesk: Guy de Mey), der sich als Ex-Liebhaber Emilias outet sowie Theatermaschinist (Ruben Drole), Putzfrau (Irene Friedli) und Kammerzofe (Katja Ledoux).

Und irgendwann erhebt sich auch Emilia Marty aus dem Sessel und steigt flamboyant ins Geschehen ein. Evelyn Herlitzius hat die Rolle erstmals in Berlin gesungen, und jetzt, wo sie von den hochdramatischen Sopranrollen Abschied nimmt, ist dieses extrovertiert heilige Sängerinnenmonster, inspiriert von Janáčeks unerfüllter Liebe zu Kamila Stösslová, natürlich ihre Altersversorgung. Die enge Szene sprengt sie fast, auch ihr Vibrato hat sie gut im Griff, die metallische Stimme wird nie schrill. Und die schillernde Figur erfüllt sie spielend in all ihren abgründigen Facetten, gierig, egoman, alles an sich ziehend und verschlingend. Aber auch ein trauriges Kind, das immer wieder großäugig ins Leere starrt.

Die drei Kleider von Elena Zeytseva waren gut investiert. Erst trägt sie zu Mireille-Matthieu-Perücke (in Russland – „und draußen wartet Natascha“, „der Zar und das Mädchen“ – sehr populär) zu einem flammendorangen Pannesamt-Kostüm, ein roter und ein schwarzer Morgenmantel folgen. Schließlich ein vampirflügelhaft schwarzes Glitzerkleid und neue Haare – jetzt sieht sie aus wie die alte Promifregatte Gabriele Henkel – grandios! Nie kommt sie von der Bühne, es ist wirklich All about Emilia, und Bette-Davis-Eyes hat die Herlitzius zudem zu bieten.

Wunderbar dicht, kleinteilig, ohne je den melodischen Faden zu verlieren, als toller Motivaufdröseler und das feinmaschige Klanggespinst zusammenhaltender Motivator trägt im Graben Jakub Hrusa das Seine dazu bei, dass dieser Abend von einer exzeptionellen Spannung getragen wird, dass man atemlos zuhört und gebannt schaut, obwohl da eigentlich nur das „Makropulos“-Übliche passiert. Das aber klingt so bunt, fruchtig und plastisch erzählt, wirkt als perfekte Begleitmusik und bewahrt doch seine so eigenwillige instrumentale Selbstständigkeit.

Bis zum erwartbaren Tcherniakov-Coup, den sich der russische Dekonstruktivist diesmal bis ganz zum Schluss aufgehoben hat. Weil er freilich schon anfangs angekündigt wurde, lag man die ganze Zeit auf der Lauer: Was ist hier Spiel, was Wirklichkeit? Denn noch hält die Illusion, auch wenn im zweiten Akt links und rechts des Salons plötzlich Schlitze in den Wänden aufgehen und die nicht auf der Bühne beschäftigten Darsteller scheinbar privat auf ihre Auftritte wartend zeigend. Allerdings ebenfalls in Fluren, die Teile des Bühnenbilds sind.

Dann aber, Emilia hat die neuerliche Benutzung der Formel verweigert, sie will ihren Tod, da fahren die Kulissen weg, und wir sehen dahinter ein Fernsehstudio mit vollbesetzten Zuschauerreihen, das hier einem Live-Event beigewohnt hat, freilich ohne etwas zu sehen. Das war nur dem echten Auditorium vorbehalten. Jetzt aber, die Kameras rücken nah, die grellen Scheinwerfer zeigen alles unbarmherzig, darf Emilia mit große Geste ihre Todesszene zelebrieren. Verwirrung, der Notarzt rennt herbei, es ist nur noch der echte Exitus der Darstellerin zu konstatieren. Sie hat diese Aufführung  in aller Pathetik auch als ihr Lebensfinale gewählt. Wer aber ist sie? Wir wissen es nicht. Denn jetzt erhebt sich die echte Evelyn Herlitzius, um mit allen den tosenden Applaus entgegen zu nehmen.

Ja, es sind solche Zürcher Premieren, in diesem schönen, intimen Opernhaus, die diesem eben den ersten Oper! Award für das beste Haus 2019 eingebracht haben.

Der Beitrag Tod als Inszenierung: Dmitri Tcherniakov zeigt in Zürich Janáčeks „Die Sache Makropulos“ – mit Schlusspfiff erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

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