Wir haben es immer schon geahnt: Wacken und Walhall sind ganz nah, Opern- und Heavy Metal Fans sind eigentlich Brüder wie Schwestern im Geiste. Beide sind nämlich total in ihrer Hingabe und in ihrem Spezialwissen. Und beide haben sie bei Arte eine mediale Plattform: Arte concert. Und weil, anders als das Fernsehen, der Musikbetrieb ja doch so etwas wie einen Saisonanfang kennt, hat man zum Wiederanlaufen der Sing- und Instrumentalmaschinen in Straßburg in der Arte-Zentrale nochmal auf die Online-Seite hingewiesen und die Klassik-Aktivitäten der folgenden Monaten ein wenig umrissen. Denn obwohl man staunenswerte Seh- und Hörsteigerungen im Internet erlebt (vor allem HipHoper und die Heavy-Metal-Gemeinde, die hier gut bedient wird, sind begeisterte Nicht-Linear-Gucker), wissen immer noch viel zu wenige Leute von diesem Angebot, das seit nunmehr zehn Jahren rund um die Uhr und umsonst jeden Geschmack bedient. Damit verwirklicht sich schon so etwas wie ein europäischer Musikkanal, der oft angedacht war. Zumal Arte neben den Hauptcontentzulieferanten ARD, ZDF und französisches Fernsehen auch mit noch acht weiteren staatlichen TV-Anstalten in Europa zusammenarbeitet. Allein 1000 Konzerte werden so jährlich gestreamt, die sind drei bis sechs Monate weiterhin abrufbar, teilweise sogar weltweit. In sechs Sprachen wird das Programm inzwischen untertitelt.
Neun Musikgeschmäcker werden gegenwärtig auf Arte concert
bedient, per Live-Stream oder On-Demand. Der nicht-Pop-Anteil findet sich auf
Performance (Theater und Tanz), Opera, Concert und bald wohl noch auf einem
zusätzlichen Baroque-Fenster zurecht. 18,5 Prozent der 21,6 Millionen Besucher
tummeln sich hier, 7 Prozent davon interessieren sich für Oper, das sind immer
noch 1,5 Millionen Zuschauer im Jahr. Dafür müsste ein Theater viele
Vorstellungen geben. 46 Prozent deutsche
Nutzer hat man, 35 Prozent französische, 14 Prozent aus dem Resteuropa und 5
Prozent weltweit. Vor Ort macht man mit einem rosa angestrichenen
Arte-Concert-Container Marketing, ein erste Versuch mit Arte-Karaoke bei Konzerten
wird nach Frankreich nun auf Deutschland ausgeweitet.
22 Opernhäuser in 14 Länder haben sich inzwischen zur Arte Opera Saison zusammengeschlossen, mit den Untertitelungen werden – zusätzlich zu den Opernübertragungen im Fernsehkanal – 70 Prozent der EU-Bürger in ihrer Muttersprache erreicht. Jeder Geschmack wird hier bedient, Mainstream, Raritätensammler, Alte-Musik-Liebhaber und Novitätenfans. In der vergangenen Saison gab es neun Repertoirewerke, drei zeitgenössische Produktionen, zwei Wiederentdeckungen, eine Barockoper und ein Galakonzert zu erleben. Am Oktober gibt es in den Folgemonaten eine „Turandot“ aus Barcelona, Piazzollas „Maria de Buenos Aires“ aus Straßburg, Stockhausens „Aus Licht“ in einer Best-of-Fassung aus Amsterdam, „La traviata“ aus Madrid, „Falstaff“ aus Hamburg, Beethovens „Leonore“ aus der Wiener Staatsoper, Smetanas „Dalibor“ aus Prag, Leos Janaceks „Tagebuch eines Verschollenen“ vom Armel Opera Festival, „Don Carlo“ mit Anna Netrebko und Christian Thielemann aus Dresden und Glucks „Aleceste“ aus München.
Und dann gibt es – ausführlich – natürlich auch noch Ludwig van Beethoven und seinen 250. Geburtstag zu feiern. Als Multimedia-Projekt, ebenfalls auf Arte concert. Am 15. Dezember, ein Jahr vor dem runden Geburtstag, geht es los. So überträgt man die Beethoven-Folle-Journée aus Nantes, den „Fidelio“ der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko aus Baden-Baden, ein historisch programmiertes Konzert mit den Wiener Symphonikern unter Philippe Jordan. Am 21. Juni gibt es ab 13 Uhr stündlich, meist live und oft draußen je eine Beethoven-Sinfonie aus neun Städten. Es beginnt in Bonn und schweift über das irische Galway, Helsinki, Brüssel, Prag, Lugano, Rom bis nach Straßburg und natürlich Wien als Endpunkt mit den Philharmonikern unter Andris Nelsons. Zudem gibt es vier neue Dokumentationen.
Außerdem will man nach und nach das Beethoven-Werk aller Opuszahlen ausstrahlen, und 30 Stücke sollen dabei als Hauptrepertoire die ganzen zwölf Monate über abrufbar bleiben. Dafür plant man, in ganz Europa Konzerte aufnehmen, mit Festivals, Konservatorien sowie dem Arte Archiv und Zukäufen zu arbeiten. Das alles soll schön pädagogisch aufbereitet werden. Und natürlich hofft man auch den einen oder anderen Pop-Hörer zum Popstar der Klassik zu locken.
Das traurige Ende eine gloriosen Künstlerkarriere: Obwohl es vor zwei Tagen dort noch anders gelautet hatte, ist der seit August von der renommierten Nachrichtenagentur AP mit MeToo-Vorwürfen von über zwanzig Frauen konfrontierte Plácido Domingo einen Abend vor seinen Auftritten als Verdis „Macbeth“ an der New Yorker Metropolitan Opera zurückgetreten. Das Haus, dessen Management bis zuletzt dem dort seit 51 Jahren gastierenden Star und Kassenfüller die Treue zu halten versucht hatte, musste sich dem Druck nicht zuletzt der eigenen Belegschaft beugen. Nachdem man hier vor einem Jahr den langjährigen Musikdirektor James Levine gefeuert hatte, dem die Belästigung junger Männer vorgeworfen wurde, und zudem den altgedienten Regisseur John Copley wegen lasziver Bemerkungen auf Proben entfernt hatte, konnte man nun doch nicht mit zwei Maß messen. Geld, Macht und Ruhm langten nicht, genauso wenig, dass Domingo hier 21 Saison-Eröffnungen absolviert hat – nach ihm liegt Enrico Caruso mit 17. Und damit haben die Met sowie drei weitere Musikinstitutionen in den USA, das Philadelphia Orchestra sowie die Opernhäuser von San Francisco und Dallas, die den 78-jährigen, inzwischen zum Bariton mutierten Spanier ausgeladen hatten, ein Zeichen gesetzt: Dessen einzigartige Laufbahn dürfte jetzt wohl zu einem unerwarteten Stopp kommen.
Bisher hatten freilich die Musikinstitutionen in Europa, wo die MeToo-Debatte weniger scharf gesehen wird, vor allem ohne Anklage und juristische Maßnahmen, stur an ihren Domingo-Verträgen festgehalten. In Salzburg wurden, befeuert durch ein positives Statement der Direktion sowie die frenetische Feier vorwiegend spanischer Fans, dessen Auftritte zu einem Pro-Domingo-Fanal. Wie überhaupt in Spanien keiner die Vorwürfe gegen das nationale Idol glauben mag. Auch weil bis auf zwei Frauen alle Anklägerinnen anonym blieben, weil sie nach wie vor im Musikbetrieb arbeiten und mit Nachteilen rechneten (der „Spiegel“ machte jüngst noch den Fall einer ehemaligen Sony-Mitarbeiterin publik). Nur die Verleihung des Europäischen Kulturpreises an Domingo am 20. Oktober in der Wiener Staatsoper wurde vom Veranstalter für den Tenor auf nächstes Jahr in Bonn „verschoben“. Fraglich, ob es jetzt noch dazu kommt…
In den USA ist man nämlich rigider. In Los Angeles, wo Domingo bis heute als Operndirektor fungiert, hat man eine Untersuchung eingeleitet, bei der für die Sponsoren wichtigen Saisoneröffnung war er nicht anwesend. Und an der Met, wo man das kalifornische Prozedere abwarten wollte, versuchte zwar der schon länger angeschlagene Manager Peter Gelb seinen (wohl auch von den Geldgebern gestützten) Star zu halten. Aber als jetzt nach den Proben verschiedene Angestellte ihr Unwohlsein neben Domingo auf der Bühne bekundeten, konnte wohl auch der neue Musikchef Yannick Nézet-Séguin, der ihn in Philadelphia mitausgeladen hat, Domingo nicht mehr beistehen. Nur sein Ko-Star Anna Netrebko verteidigte ihn auf Instagram. Auch gab es wohl politischen Druck.
„Ich weise die Anschuldigungen gegen mich entschieden zurück
und mache mir Sorgen um ein Klima, in dem Menschen ohne angemessene
Untersuchungen verurteilt werden, aber nach einigem Nachdenken glaube ich, dass
mein Auftritt in der „Macbeth“-Inszenierung von der harten Arbeit meiner
Kollegen auf und hinter der Bühne ablenken würde“, schrieb Domingo an die „New
York Times“.
Domingo verkauft jetzt zwar seinen überstürzten Rücktritt als eigene Entscheidung, die dürfte es aber nicht gewesen sein. Denn der Star, der sich zwar allgemein entschuldigt hat, aber keine weiteren Worte des Bedauerns für sein mögliches Fehlverhalten findet, das bis in die Achtzigerjahre zurückreicht, das aber auch noch vor acht Jahren Frauen verstört haben will, war einfach nicht mehr zu halten. Man sei übereingekommen, „dass er zurücktreten muss“, hieß es in einer Erklärung. Und zwar final. Immerhin freute er sich, dass er – als inoffiziellen Abschied – noch die „Macbeth“-Generalprobe habe singen können und dürfen.
Ein trauriges Tenor-Finale. In Zürich steht als nächstes im Oktober ein „Nabzcco“ an. Wirklich mit ihm? Die Gesellschaft ist weniger tolerant geworden, feuchte Küsse, Griffe an den Busen, Eindringen in Garderoben und Ähnliches war auch damals nicht gentlemanlike. Fast jeder, der früher mit Domingo zu tun gehabt hatte, erinnert sich hinter vorgehaltener Hand an Vorfälle; an manchen Opernhäusern solle es eigene Maßnahmenkataloge gegeben haben, den Star von bestimmten Frauen fernzuhalten.
Selbst die Sängerin Brigitte Fassbaender, wahrlich keine Klatschbase, berichtet in ihren Mitte Oktober erscheinenden und vor den August-Anschuldigungen fertiggestellten Memoiren, wie Plácido Domingo 1977 bei einer Münchner „Werther“-Premiere zudringlich geworden sei. Sie habe das zwar souverän abgewehrt, aber auf der Bühne sah sie sich doch seinen nicht nur rollenkonformen Küssen ausgesetzt.
Plácido Domingos angeprangertes Verhalten, von weiteren 30 Zeugen gegenüber AP bestätigt, mag damals mediterraner Macho-Attitüde geschuldet gewesen sein. Denn einerseits ist der seit 1962 in zweiter Ehe verheirate Superstar, der freilich einen unehelichen Sohn hat, eine der nettesten, bescheidensten Personen im internationalen Klassikkarussell. Zudem hat er so viel für junge Sänger getan und immer wieder gespendet wie kaum ein Kollege. Aber die ständige Verfügbarkeit sich ihm anbietender Frauen langte ihm womöglich nicht. Und prekär wird sein Fall, weil sich viele der Vorfälle an den Opernhäusern von Los Angeles und Washington ereignet haben sollen, an denen er als Direktor wirkte – die Frauen also seine Angestellte waren.
Die Mezzosopranistin Patricia Wulf, eine der beiden anklagenden Frauen, die ihre Identität offenbar hatte, sagte dazu: „Plácido Domingo ist ein unglaublicher Künstler, ein wunderbarer Darsteller. Aber ich habe keinerlei Respekt vor ihm als Mann.“
An der Met hätte Domingo im November auch noch in der unbedeutenden Rolle des Sharpless in Puccinis „Madama Butterfly“ debütieren sollen, das ist nun alles Makulatur. Das hässliche Ende eine schönen, eines außergewöhnlichen Sängerwegs. Es bleibt abzuwarten, ob der offiziell 78-, möglicherweise aber auch schon 82-jährige Plácido Domingo unter diesen Auspizien seine mit Gewalt als Bariton verlängerte Karriere weiter fortsetzt. Zumal auch seine Leistungen als Dirigent umstritten sind. Mal sehen, ob etwa ein ebenfalls wegen angeblichen rüden Auftretens gegenüber Untergebenen massiv in der Kritik stehende Daniel Barenboim, ein langjähriger Freund, ihm weiterhin die Treue hält und halten kann. Am Ende bleiben dann nur die Oligarchen, Araber und Chinesen.
An der Covent Garden Opera, wo im nächsten Frühjahr-Domingo-Auftritte geplant sind, wird er vermutlich nicht singen; dort folgt man gern amerikanischen Vorbildern. Zumal man auch selbst eine jüngsten MeToo-Tenorfall hat. Eben soll der italienische Star Vittorio Grigolo (42) während einer Japan-Tour des Hauses beim Verbeugen eine Chorsängerin „befummelt“ haben. Das habe zu lautstarken Auseinandersetzungen vor Publikum geführt; worauf man den als temperamentvoll bekannten Grigolo erst einmal suspendiert hat. Den letzten Tour-Auftritt sang ein anderer Tenor. So wie auch an der Met bereits ein echter Alternativ-Bariton für Domingo bereitstand. Und dort hat man jetzt gleich ebenfalls Grigolo von „Traviata“-Auftritten im Winter entbunden.
Tenor-Dämmerung? Es scheint so. Künftig müssen die Herren wohl ihren gesamten erotischen Überschwang in ihre hohen Cs stecken. Aber gesungen wird ja immer noch mit den Stimmbändern und nicht mit den Lenden.
Auch wenn es nun mit der Opéra de Paris nichts geworden ist, Peter de Caluwe, der seit 2007 ziemlich fest im Intendantensessel der Brüsseler Monnaie-Oper sitzt, kann sich entspannt zurücklehnen. Er hat Kürzungen und nicht enden wollende Haussanierungen im Ersatzquartier weggesteckt. Mit Alain Altinoglu als Musikchef und Antonello Manacorda als fester Gastdirigent, der bald einen Mozart/da-Ponte-Zyklus in drei Tagen, einem Bühnenbild und sich überlappenden Sängerbesetzungen wuppt, ist man im Graben bestens positioniert. De Caluwe hat immer wieder spannende Premierenteams am Haus, eben hat er Buch geschrieben und außerdem hat er das ehrgeizige Vorhaben, künftig jede Saison mit zwei Uraufführungen zu eröffnen. Beim ersten Mal hat das geklappt, sogar mit zwei atmosphärisch verwandten Werken, aber er selbst gibt schon zu, dass sich das Unterfangen zumindest nicht als Auftakt-Whopper fortsetzen lassen wird. Zu launisch sind die finanziellen Verhältnisse und die Arbeitsfreude der Komponisten. Trotzdem: ein Anfang ist gemacht, mutig, deutlich, und ganz anders als an vielen Häusern, die zur Rückkehr aus der Sommerpause eher auf Nummer sicher gehen. Wie war das nochmal? Hatte die Deutsche Oper nicht auch einst ein zeitgenössisches Ausrufzeichen an den Spielzeitbeginn gestellt? Tempi passati. Heute behilft man sich dort lieber mit unlustigem Castorf-Verdi. In Brüssel aber gibt man den Franzosen die Bühne: Lokalmatador Pascal Dusapin überrascht mit seiner fast schamlos zugänglichen Shakespeare-Paraphrase „Macbeth Underworld“, und der jüngere Benjamin Attahir beweist mit seiner Maeterlinck-Trilogie „Le Silcence des Ombres“ zumindest, dass er eine eigene, durchaus wieder erzählerische Musiksprache hat und suggestiv orchestrieren kann.
Unterwelt und Schatten. Das weist schon den Weg auf eher düstere Settings. Und so kommt es auch. Den Dusapin hat der französische Theaterregisseur Thomas Jolly in Dunkelheit getaucht, die von hartweißen Diskolichtern durchzuckt wird, so wie in seinen beiden vorangegangenen Operninszenierungen auch. Ineinander verschlungenes kahles Geäst fügt sich zum undurchdringlichen Wald von Birnam; später erhellen ihn Neoninstallationen in Rot und Weiß nur schummrig; das Bett der Lady, in dem sie am Ende schuldhaft versinkt, wirkt wie von einem Neondiadem umfasst.
Foto: Matthias Baus
Schick sieht das aus, und mit einer gehörigen Portion Musical-Ironie würzt Jolly (aber auch Dusapin) das an sich todtraurige Geschehen zum schottischen Operntanz der Vampire. Zu Anfang spricht der mit 77 Jahren immer noch muntere Graham Clark als rotbeschopfte Hecate/Queen Elizabeth I. im karierten Rock einen Prolog, der uns in einen Spiegel der (Alb-)Träume einlädt. Später kehrt er als fies-komischer Pförtner wieder. Die Hexenbrigade mit drei Solozauberinnen, sieht aus wie durch die Mangel genommenen Nymphen. Und Mr. wie Mrs. Macbeth, die wunderbaren Charaktervokalkomikertragöden Georg Nigl und Magdalena Kozena, schlurfen als bleiche Mördergespenster durch die Szene, die sich auf der Drehbühne auftut.
Um die eigene Achse wirbeln da Bäume, Bett, eine
Olgemäldewand und ein teuflisch verziertes Renaissance-Portal (installative Bühne:
Bruno de Lavenère). Rote Latexleichen winden sich im brillanten Lichtdunkel von
Antoine Travert. Ein Schaukelpferdchen auf halber Höhe kündet von der Lady
unerfülltem Kinderwunsch. Und als ihren Schatten werden sie den schon zu
Anfangs gemordeten Banco (unauffällig: Kristinn Sigmundsson) nicht mehr los.
Der hat das Messer noch im Rücken, und das Paillettenblut auf Hemd und Haaren.
Beim Bankett erschreckt er alle als sich unter dem Tischtuch erhebendes Nachtgespenst.
Das ist so komisch grotesk, wie tragisch burlesk. Und eben
voller Unterwelt-Schatten. Und so gibt sich auch Pascal Dusapins erstaunlich eklektisch
anmutende Partitur, die Alain Altinoglu genüsslich auskostet und zart
dirigierpinselt. Da wummert gleich zu Beginn die Elektroorgel wie im ollen
Hammer-Gruselfilm, das Licht blitzt und alle genießen die liebevoll
ausgestellten Gothic-Horror-Versatzstücke. Doch die Musik, die im pausenlos
110-minütigen Schnelldurchlauf durch das Originalstück eiert, kann auch
wirklich traurig und ergreifend irr, wenn die beiden Königsschlachter nicht
mehr weiter wissen, das Gewissen zum Wurm wird. Ein Kindchen (Naomi Tapiola)
beerbt sie gleich schon zu Beginn, der Rest ist Rückblende, Bruchstück,
Fragment des allbekannten „Macbeth“-Mosaiks.
So wird Pascal Dusapins neuntes, wieder große Literatur aufgreifendes Musiktheater, das dritte für La Monnaie, heftig bejubelt. Eben ist seine achte Oper, ebenfalls 2015 hier uraufgeführt, „Penthesilea“ in einer packenden CD-Aufnahme (Cyprès) erschienen. Doch da war er noch abstrakter und atonaler, melismatisch hysterischer. In der aktuellen, sicher bühnenerfolgreichen Shakespeare-Adaption, deren Libretto er mit Frédéric Boyer kompiliert hat, komponiert er publikumsnäher, schräger, altersentspannter. Ja, er hat endlich Humor! Ausgerechnet hier. Und schöpft die filmmusikalisch Effekte aus vom Dröhnen bis zum zarten Lautengezirp. Und sein Lieblingsprotagonist Nigl schmeißt sowieso den Schreckensladen. So ist man schnell, drin, bleibt dran und erfreut sich an einer weiteren, facettenreichen „Macbeth“-Variante. Es muss ja nicht immer Verdi, Ernest Bloch oder Salvatore Sciarrino sein.
Weniger geglückt ist die zweite Opernaufführung, „Le Silence des Ombres“, wofür die Monnaie im schmucken, außen historistischen, innen als modernes Ranghaus entkernten Königlich flämischen Theater gastiert. Der 40-jährige Benjamin Attahir (mit dem man auch in Aix Einiges vorhat) suchte sich für seine erste Oper als Vorlage gleich drei Marionettenstücke des belgischen Literaturheiligen Maurice Maeterlinck aus; der freilich trotz Nobelpreis nur noch in der Oper herumwest. Vor allem natürlich dank Debussys „Pelléas“, aber auch Dukas’ „Arianne et Barbe-Bleue“ geht auf ihn zurück, oder Aribert Reimanns letzte Oper „L’invisible“.
Foto Gianmaria de Luca
An die muss man an diesem überlangen Abend oft denken, nutzt
Reimann doch auch für seine 2017 uraufgeführte Trilogie zwei der drei von
Attahir verwendeten Werklein. Aber er ist nach überzeugenden 110 Minuten durch,
Attahir braucht viel zu dröge 180 Minuten! Da sollte nicht zimperlich gekürzt
werden, auch weil die düster-verblasene, melancholisch-starre Stimmung viel zu ähnlich
bleibt. Die Schere sollte möglichst schon vor der Übersiedelung zu den
Koproduzenten Queen Elisabeth Music Chapel in Waterloo, Les Théâtres de la
ville de Luxembourg, und dem Theatr Wielki in Warschau angesetzt werden!
Attahir, der auch selbst dirigiert, kann orchestrieren. Ihm gelingt ein fast tonal anmutender Orchestersatz für die Kammertruppe der Monnaie, mit Akkordeon aufgehübscht, durchsichtig, in vielen Schattierungen ein gruftiges Geschehen beschreibend. Der nur 20 Minuten kurze Mitteilteil wird weitgehend zu Blechuntermalung gesprochen; im Französischen aber eben auch mit Melodie. Den dritten Teil dominieren die Celli.
„Le mort de Titangiles“ erzählt eine schräge Sterbegeschichte
eines minderjährigen Königs und seiner bösen Mutter, die Schwestern Ygraine
(Raquel Camarinha) und Bellangère (Clémence Poussin) stehen im Mittelpunkt. „Interieur“
ist eine Außenschau von zwei Sendeboten mit schlechter Nachricht, die eine
harmonische Familie überraschen müssen. „Alladine et Palomides“ ist eine ebenfalls
in einer Grotte zwischengelagerte Liebesgeschichte mit Nicht-Bekommen und Sterben
in einem Adelshaus, ähnlich wie „Pelléas et Mélisande“. König Ablamore ist
Renaud Delaigue, der die Sklavin Alladine (Julia Szproch) begehrt. Die wiederum
hat sich in Palomides (Pierre Derhet), den Verlobten seiner Tochter Astolaine
(Raquel Chamarinha) verguckt. Und so lässt Benjamin Attahir die sehr guten
Nachwuchssänger sehr debussyig parlieren, etwas gleichförmig, aber textklar,
nervös worttänzelnd, leicht erregbar.
Der in der Barockmusik und als Cavalli-Biograf versierte Regisseur Olivier Lexa hat für das leicht wandelbare Einheitsbühnenbild einer gotisch anmutende Halle mit Säulen und Treppenhaus aus rohen Betonplatten Studierende der Szenografie an der Nationalen Designschule in La Cambre ausgesucht, in der das kaum vorhandene Geschehen wohlgesetzt zum Tableaux arrangiert ist. Als durchgängiger Gimmick in diesem oft wie geistliche Spiele anmutenden Triptychon mi seiner hären Mittelalteroptik (auch in den Kostümen) taucht ein oft beschriebenes, als Schatten projiziertes und in seiner Version des Genter Eyck-Altars in einem Krankenzimmer-Video reproduzierten Lamm Gottes auf; auch Lichtgehänge schweben weihnachtsmarktgleich auf und ab. Schwestern und Ärzte unterstreichen die Krankenpflege-Atmosphäre, aber sind zu wenig kontrastiv, um den dann doch blutleeren Abend zu infusionieren.
„Alles super, ich bin sehr, sehr begeistert!“ und dann gibt es via Skype ein Prost mit dem Rotweinglas vom Swimmingpool samt Sonnenuntergang in Palm Beach, Florida. Paavo Järvi hat gesprochen, und der sagt für gewöhnlich nicht viel. Was er aber sagt, das sitzt, so wie jetzt. „Die Zürcher Tonhalle-Orchester hat ein ungeheures Potenzial, da ist so viel Flexibilität, Können und Wollen, ich bin total überrascht. Wenn wir mögen, dann können wir wirklich fliegen. Und ich mag!“ Das war vor einigen Monaten. Jetzt wurde es Realität mit dem Chef. Und gar nicht so unpassend, im Ausweichquartier der Tonhalle Maag, im neuen shabby schicken, so gar nicht nach Zürichsee, Bahnhofstraße und Baur au Lac aussehenden Quartier an der Hardbrücke – und doch nur eine S-Bahn-Station vom Hauptbahnhof entfernt. Da passt der Este sehr gut hin, zwischen Sphinx und Poker Face wird der Kahlkopf gern charakterisiert, dabei kann er doch so herzlich lachen. Und jetzt ist schon klar: Nach der desaströsen Zeit mit dem Fehlschlag Lionel Bringuier wird das gut werden, sehr gut. Und wenn dann erst der (natürlich verspätete) Umzug in die renovierte Tonhalle erfolgt, dann wird es noch besser.
Die mögen sich. Man hörte es bei dem wohlüberlegten Antrittsabend. Der mixte Estnisches mit Finnischem, Neues mit Rarem. Pausenlos. Ganz auf die Musik und das Programm konzentriert. Schwerblütig und ungewohnt. Dabei spätromantisch auf einer Linie mit dem anvisierten Tschaikowsky-Zyklus, den Paavo Järvi in den kommenden Monaten mit seinem neuen Orchester quasi als Honeymoon einspielen will. „Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte…“, so wispert und brummelt es gleich zu Anfang mit einer alten Arvo-Pärt-Komposition, die das anwesende estnische Nationalheiligtum eigens neu orchestriert hatte. Barock und Insektenflug mischen zu üblichen Pärt-Mischung aus Meditation und Ironie, mit Klavierklong und Percussionsbäng – und nach nur sechs Minuten hat es sich auch schon wieder ausgesummt. Der Schöpfer wird freundlich beklatscht
Substanzreicher ist da die selten zu hörende, fast 80 Minuten lange, nationalromantisch dräuende Chorkantate „Kullervo“. Ein Frühwerk (1892) von Jean Sibelius über den größten Rabauken aus dem für Finnlands Identität so wichtige „Kalevala“-Epos. Natürlich wurde das bombastische Ding auch in Zürich noch nie gespielt. Und das Tonhalle-Orchester, dessen DNA glücklicherweise immer noch vom schlanken Beethoven-Ideal David Zinmans geprägt ist, geht hier, bewusst mit dem anderen Extrem gefordert, in die Vollen. Zäh und breit wälzt sich der Tonstrom, nimmt freilich Fahrt auf als es mit dem Schlitten zur wilden Jagd geht.
Die zentrale, Wälsungen-ähnliche Vergewaltigungs- und Inzestszene zwischen Bruder und Schwester (pikanterweise hier mit vokalen Flammenstößen perfekt von ebensolchen gesungen – Johanna und Ville Rusanen) ist ganz große nordische Oper. „Es gibt hier eine Situation“, hatte Intendantin Ilona Schmiel, das vorher bei der Begrüßung noch damenhaft umschrieben, während Martin Vollenwyder, der Präsident der Tonhalle-Gesellschaft sich als sehr witziger, schlagfertig-verschmitzter Swiss-Animator erwies. Schön schmiegen sich später die Melodien, krachend geht’s in den Kampf, ein wuchtiges farbensattes Moritatenpanorama spannt sich so bis zum verdämmernden Tod Kullervos.
Dem noch ein ebenso auftrumpfendes Chorlied aus Sibelius’ „Lemminkäinen“-Zyklus als Zugabe folgt. Einmal mehr kann sich da die virile Durchschlagkraft des Estnischen Nationalen Männerchors RAM sowie der Herren der Zürcher Sing-Akademie voluminös beweisen. Danach gibt es Bier aus Körben – natürlich estnisches, mit einem weißen Hai auf dem Etikett. Gebissen wurde freilich an diesem verheißungsvollen Abend niemand. Und am nächsten Morgen, Papa Neeme und Mama Liilia sind auch da, es war wohl spät geworden, blinzelt Paavo Järvi schon wieder vergnügt ins Frühstücksraum-Sonnenlicht. Gleich geht es zum Fototermin mit dem ganzen Orchester für die nächste Saison: Nach dem Auftakt ist vor dem Auftakt.
Und der neue Chef birst vor Enthusiasmus und Ideen. Neben seinem NHK Symphony Orchestra in Japan und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ist das jetzt für den 55-Jährigen der perfekte Match: Hier sind Moneten, Aufbruch und Wollen. Seine Intendantin, deren Loblied er anstimmt, liefert das ebenso perfekte Backup. Gemeinsam hat man die ersten zwölf Monaten klug geplant: „Unsere erste Saison ist meinen nordischen Wurzeln gewidmet. Als neuen Inhaber des Creative Chairs konnte der Estnische Komponist Erkki-Sven Tüür gewonnen werden, ein alter Freund und Weggefährte. Auch in der Reihe Im Fokus setze ich auf nordisches Können: Martin Fröst, Pekka Kuusisto und Ksenija Sidorova besuchen uns.”
Lange war gerade der eher ruhige Paavo Järvi ein
stiller Star der Branche, ein fleißiger Arbeiter im musikalischen Weinberg des
Herren. Geschätzt im Klassikbetrieb als zuverlässig, zupackend und effizient.
Sein Orchesterimperium umfasste zu Beginn der Zehnerjahre die Bremer, das
Estnische Nationalorchester (das er berät), das Sinfonieorchester des
Hessischen Rundfunks, das Cincinnati Symphony Orchestra, den immerhin
fünftältesten Klangkörper der USA, und das Orchestre de Paris. Inzwischen sind
die USA, die Frankfurter und die Franzosen Vergangenheit, obwohl er überall
immer noch ein gern gesehener Gast ist. Dafür werden sich die Zürcher ihren
Paavo weiterhin mit Tokio teilen müssen. Und das flexible norddeutsche
Kammerorchester war und ist ihm eine Herzensangelegenheit.
Denn gerade die brachte er ebenfalls zum Fliegen – wie sie
ihn. Mühelos an die Spitze ähnlicher freier Formationen geschoben hat sich die
Deutsche Kammerphilharmonie unter Paavo Järvi mit ihrem sinfonischen
Beethoven-Zyklus, der kurz nach dem bahnbrechenden Neuner-Bündel der Zürcher
unter David Zinman entstanden ist. Die waren die ersten, die nach den Noten der
neuen Beethoven-Ausgabe von Norman de Mar musizierten. Und die Deutschen taten
es ihnen nach: Furios, frisch und unverbraucht, wie auf einem Atmen, taugt der
Komponist ihnen als Lehrmeister und Spielzeug, als Identifikationsobjekt und
Mahner oder einfach als Quelle sich nie verbrauchender orchestraler Freude. Und
daran will Paavo Järvi jetzt auch am Zürichsee wiederanknüpfen.
Järvis rasant individuelle Rhetorik, das instrumentale
Können des Orchesters, das gemeinsame Wollen, das von traumsicherer
Übereinstimmung mit dem Chefdirigenten kündet – man kann solches durchaus als
gute Vorboten für die Zürcher Partnerschaft deuten. „Ich spüre bei meinen
Schweizer Musikern Enthusiasmus, Wollen, die Energie des Aufbruchs“, schwärmt
Järvi. „Da höre ich noch viel Zinman, das Orchester hat diese Identität
behalten. Hier ist Geld und Energie und es gibt ein gutes Management. Das alles
habe ich gespürt, als ich dort vor drei Jahren erstmals dirigiert habe, dann
nochmal. Und dann waren wir im Grunde schon verpartnert“, erinnert er sich
genießerisch. „Oftmals stimmen zwei von vier Voraussetzungen, hier aber
war alles fein.“
Und weiter lobt er, man mag es nicht nur als Kuschel-Rhetorik
abtun: „Das Orchester steht für
Aufbruch. Ich freue mich auf die renovierte Tonhalle, aber auch das
Tonhalle-Maag-Ersatzquartier hat sich hervorragend bewährt, neue Hörer gebracht
und die Musiker zusammengeschweißt. Das möchte ich fortführen. Wir müssen vor
allem in Sache soziale Medien noch besser werden, und wir müssen audiovisuell
präsent sein. So wie die Berliner Philharmoniker mit ihrer Digital Concert
Hall. Sponsoren dafür müssten sich vor Ort doch finden lassen. Das Internet ist
ein wunderbares Kommunikationsinstrument. Darin sind die Esten sehr fit. Unsere
Konzerte dürfen keine einseitige Angelegenheit bleiben. Musik ist
Austausch.“
Deshalb auch hat Paavo Järvi schon bisher fleißig CDs eingespielt. Mit seinen Silberschieben bei Telarc, Virgin, Erato und Sony ist er auf dem Tonträger-Markt präsent wie neben Simon Rattle kaum einer seiner Generation. Eben, auch das ist natürlich Programm, erschien bei Alpha die erste CD des Tonhalle-Orchesters unter Paavo Järvi – mit Musik von Olivier Messiaen, live mitgeschnitten. „Ich wollte überraschen, die Musiker auch ein wenig herausfordern. Das haben sie glänzend bestanden. Messiaen klingt sinnlich und wach, genau richtig für uns. Als nächstes bereiten wir aber den Tschaikowsky-Zyklus vor, denn das Orchester soll seine spätromanischen Qualitäten ausspielen können. Und auch über Bruckner denke ich nach. Dazu werden Mahler, Berlioz und Moderne verstärkt auf dem Speiseplan stehen. Auch soll regelmäßige Beschäftigung mit Haydn – den mache ich auch mit den Bremern – Mozart und wieder mal Beethoven das Zusammenspiel, das gemeinsame Hören optimieren.“
Man hätte für den Plattenmarkt natürlich mit Jean Sibelius
anfangen können, mit Estnischem, mit Spätromantik, alles Musik, die dieser
neuen Partnerschaft im Blut liegt. Aber man hat sich doch für ein
ungewöhnliches Programm mit nur einem zeitgenössischen Komponisten entschieden.
Im letzten Jahr wurde ein Anteil repräsentativer Orchestermusik des so
katholisch gläubigen wie die Vögel liebenden und erforschenden französischen
Olivier Messaien eingespielt. Und schon die sprechenden Titel weisen auf diesen
Hintergrund: L’ascension – die
Himmelfahrt; Le tombeau resplendissant –
das prächtige Grab; Les offrandes oubliées – die vergessenen Opfergaben; und
das späte Un sourire – ein Lächeln. Das ist rauschhaft irisierende
Klangtänzelei, nervös und narkotisch.
Kein Zweifel, dieser manchmal ein wenig unterkühlt wirkende, technokratisch agierende, gar nicht viel Kunstsums machende Dirigent, er hat goldene Hände. Und er nutzt sie auch. Was sagt Paavo Järvi sonst noch so über seine Zürcher? „Sie können viel, gehen die Dinge aber entspannt an.” So wie augenblicklich ihr künftiger Chef. Der nächste Woche übrigens schon wieder bei den Berliner Philharmonikern am Pult steht. Dirigieradel verpflichtet eben.
Es war an der Zeit: An allen großen deutschen Opernhäusern hat man Otto Nicolais wunderhübsche Spieloper „Die lustigen Weiber von Windsor“ seit Dekaden nicht mehr gesehen. Aus purer Ignoranz, oder man weiß halt mit dem Genre nicht mehr umzugehen. Selbst am Uraufführungsort von 1849, an der Berliner Staatsoper, war man seit 30 Jahren premierenfrei. Verdis „Falstaff“ gab’s seither mehrere Male. Nun aber orchesterkochte der Generalmusikdirektor höchstselbst. Und Daniel Barenboims Ouvertürensuppe war durchaus gelungen, sonst aber ereignet sich so manche Wagner-Schwerfälligkeit, und im Finale klappert der Chor deutlich hinterher. An der Wortverständlichkeit mangelt es ebenso. Man merkte selbst bei den hochmögenden Sängern: die sind so viel „Witz, heitre Laune, die tollsten Schwänke, List und Übermut“ gar nicht mehr gewöhnt, wissen nicht wirklich, wie das zu präsentieren ist. Aber sie geben sich echte Mühe.
Fotos: Monika Rittershaus
So wie Mandy Fredrich als berlinernde Spielmacherin Frau Fluth, auch im echten Sopranistinnenleben schwanger, die hier Gürckchen futtern darf und nach dem Morgenübelkeitseimer rennt. Am Ende gibts dann eine Sturzgeburt. Ihr heller Sopran könnte aber noch etwas mehr glitzern oder keckern wie das die Staatskapellen-Holzbläser tun. Deren Nachbarin Frau Reich, die erstmal den Franzmann-Schwiegersohn in Spe, Doktor Cajus (schön blöd: David Oštrek), zum Frühstück vernascht, fränkelt in der pastos orgelnden Gestalt der hornhautrubbelnden Michaela Schuster. Herr Fluth, mit Golfschlägern und viel Wut bewaffnet, gibt Michael Volle wotanschnaubend als schwäbelnd explodierendes HB-Männchen. Gatte Reich wird von Wilhelm Schwinghammer am Wurstgrill bayerisch verhackstückt.
Dann sind da noch die Youngsters, angepunkte Grufties, die süße Anna (Prohaska) tschilpt auf dem Dach neben der Wäschespinne, wo sie aus „Romeo and Juliet“ als Shakespeare-Restsüße deklamiert; hinter der Satellitenschüssel schmachtet mit ebenfalls süßem Tenorton Dauerkavalier Pavol Breslik sie an. Linard Vrielink radelt auf dem Faltvelo krähend den Junker Spährlich. Und als bühnenfüllender, dabei ein wenig dröger Falstaff schiebt René Pape höchstselbst die unterm knappen T-Shirt rausflutschende, arg naturalistische Fatsuit-Wampe in den Hinterhof-Pool, gibt sich dabei stimmlich bisweilen sehr vornehm. Dafür macht er dann mal weinerlich den Grönemeyer.
Dabei ist doch alles ein wenig schäbig hier. Wir sind an einer West-Berliner Peripherie, Achtzigerjahre. Mit Hundeknochen-Portabeltelefon, Vorstadtweibern, die Prosecco und Härteres trinken. Die Büsche sind beschnitten, die Bungalows in Reihe angegammelt. Bei seiner ersten Berliner Operninszenierung wollte Komödienspezialist David Bösch samt Ausstattungsteam (Bühne: Patrick Bannwart, Kostüme: Falko Herold) in Jugenderinnerungen schwelgen. Also sind die detailpusselig, aber auch arg trashy ausgebreitet. Vor allem der dicke Ritter ist – riecht der? – zu pennerhaft geraten. Warum soll sich den selbst die Reineckendorfer Hausschlampe von so einem erotisch aufräumen lassen? Trotzdem veranstaltet auf der Terrasse Herr Fluth regelmäßig sein Spandau Chainsaw Masscre.
So freut man sich an der gelungenen, vitalen, charmanten Musik, die man lange nicht mehr gehört hat. Und bedauert bei aller durchaus gelungenen Komödienlustigkeit, dass man für die offenbar mangels Übung kaum noch den rechten Ton finden. Immerhin, der Schluss vor einem schmutziggrauen Monstermond mit Betttuchfeen, einem Männerelfenpaar und Kitkat-Lederfaunen, der hatte was. Und besser als die ähnlich angelegte, aber viel langweiligere „Falstaff“-Produktion der Staatsoper sind diese „Lustigen Weiber“ allemal. Dürfen wir wohlmöglich nun wieder auf Lortzing und Flotow hoffen? Oder heißt es nach wie vor: „Martha, Martha, du entschwandest“?
Groß, größer, Tobias Kratzer! Unser Mann für die Monster. Zumindest in der Oper. Und spätestens nach dem allgemein begeistert aufgenommenen Bayreuther „Tannhäuser“. Aber er und seine Truppe, die können auch kleine Opernbrötchen backen, haben sie zuletzt in Halle und sogar an der Deutschen Oper Berlin bewiesen. Aber jetzt trieb es sie schon wieder zum nächsten Gebirge, metaphorisch wie opernwirklich. An der Opéra de Lyon (und nächste Spielzeit auch im koproduzierenden Karlsruhe) war – Hollerädulliö – Gioachino Rossinis neuerdings wieder viel gespielter Pariser älpischer Schwanengesang „Guillaume Tell“ dran. Allein 17 Produktionen sind in den letzten drei Jahren weltweit verzeichnet, aber keine war so radikal wie dieser, zudem rhythmisch beklatschte Abend. Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier erlauben uns zwar zu Anfangs einen fast ungetrübten, leicht Wolken verhangenen Bergblick als hochästhetisch gerahmte Schwarzweißfotographie. Aber dieses Zitat wird von einem anderen Zitat schnell ausgelöscht. Denn wenn hier auf einem neutral weißen Spielpodest ein einsames Cello (in der berühmten, vom Lyoneser Musikchef Daniele Rustioni zu schönem Atmen animierten Ouvertürenauftaktstelle sind es freilich fünfe) ein manierliches Tanzpaar vor dem Bildpanorama begleitet, dann wird das – schnell naht das Gewitter musikalisch – von einer Schlägertruppe in Weiß, samt Lendenschutz, Baseballkeule und Melone zertrümmert. Ja, genauso wie von Alex und seiner Hooligangang in Stanley Kubricks „Clockwork Orange“-Verfilmung, während auch dort die „Tell“-Ouvertüre brutal schmettert. Als bürgerliches Zitat, das hier rückverwandelt und zu seinen Ursprüngen geführt wird.
Foto: Stofleth
In Lyon läuft jetzt bald schwarze Schmiere über die bühnenhohe
Fototapete, dann nämlich, wenn, der rote Vorhang hat sich zwischenzeitlich über
der Schlussfanfare des Vorspiels geschlossen, das folgende Tableau
wohlgesetzter (Schweizer?) Bürgerlichkeit auf der Bühne durch (Habsburger?)
Hörnerrufe gestört wird. Die nahende Jagdgesellschaft hetzt nämlich bald diese schwarzgekleidete
Dorfordnung auseinander, die rund um den Tellschen Sonntagssuppentisch sitzend
ihre guten Lieder mit Notenkladden absingen. Und eint sie doch im Kampf.
Denn Kratzer mag keinen Eidgenossen-Klischees vorführen und auch keine Mittelalter-Revolte abliefern. Nur einmal, beim Altdorfer Apfelschuss, da werden alle noch zusätzlich gedemütigt, indem sie sich in rustikalen Faschingskostümen vorführen und quälen lassen müssen – was auch Rossinis dummerweise oft gestrichene Ballettmusik in Demis Volpis tänzerisch präziser Zurichtung noch eindrücklich verschärft. Kratzer interessiert das große, kaum eingestrichene, als kontinuierliches, nur von einer Pause unterbrochenes Opernabstraktum. Ein Volk, dem Schöngeistiges wichtig ist (sogar der hier von einem blondsüßen Steppke samt der flackernden Stimme von Jennifer Courcier verdoppelte Tell-Sohn Jemmy spielt auf der Geige vor), das statt Bogenschießwettbewerb die friedliche Instrumentekonkurrenz pflegt, wie reagiert das auf Gewalt von außen?
Das führt, nach dem wunderfeinen Trio zwischen Tell (bewährte Baritongemütlichkeit: Nicola Alaimo), Arnold (metallglänzend, aber nicht mit allen Tenorspitzen: John Osborn) und Fürst (prächtiger Sekundant: Patrick Bolleire) die souveräne Regie zum Rütlischwur vor dem fast schon gänzlich farbüberlaufenen Bergfoto zwischen umgestürzten Stühlen vor: Die Mannen aus Unterwalden kommen als Streichertrupp, die Brigade aus Schwyz stapft als Holzbläser auf die Szene und der Kanton Uri schickt seine Blechkapelle. Sie alle formieren sich zum Orchester, das freilich nicht mehr spielt, sondern Instrumente zu Waffen mutieren lässt – als einig Volk von Musizierbründern. Ein Violinboden samt Hals mutiert zur Streitaxt, der Cellodeckel ist das Schild; eine Zarge samt Klarinette wird zur Tell-Armbrust, geschossen wird mit dem Geigenbogen. Das ist so rührend naiv wie operneffektiv – weil hochsymbolisch.
Tobias Kratzer mit seinen hochmögenden Solisten – Jane Archibald koloratiert routiniert die die hier zur Gessler-Schwester nahgerückte Habsburgerprinzessin Mathilde; Jean Teitgen ist der bassböse Usurpator; Enkelejda Shkoza brustet die Hedwige als Urmutter Helvetia) – führt hier eine ganz konzentrierte Versuchsanordnung zu ihrem folgerichtigen Schluss, zu dem ihn, durchaus deutlich, die bewährte Peter-Konwitschny-Dramaturgin Bettina Barz geführt hat: Böse Menschen haben keine Lieder, aber die guten müssen sich ihrer trotzdem erwehren. Und selbst der Liebessang kann so nur ein Duett vor dem Notenständer sein, die silberschimmernde Konzertrobe mutiert zum Fetisch der Erinnerung. Wenn dabei die wie stets tränentreibenden – und hier von Daniele Rustioni und dem nie schwächelnden Orchester samt Chor besonders klar ausgebreiten – harmonischen Finalrückungen triangelglitzernd wie naturumarmend ihr „Liberté“ umspielen, dann haben sich eben doch auch die Guten blutig und schmutzig gemacht.
Zwischen den bösen Toten kann das Mittagessen eben nicht mehr einfach unschuldsvoll am neuerlich hereingetragenen Tell-Tisch fortgesetzt werden. Die Suppe hat jetzt einen bitteren Beigeschmack. Und der schwer traumatisierte Jemmy setzt sich schon mal einen Schlägerhut auf. Was wächst da also heran? Rossini hat sich nach diesem Opernbrocken erschöpft zur Ruhe und – ja, eben – zum Essen gesetzt. Tobias Kratzer aber, der hier ein allzu gerne als gefälliges Gesangsstück missachtetes Meisterwerk, zu einem musikalisch seinen analytischen Tugenden ausspielenden, ungemein klugen Kammerspiel in strengem Schwarzweiß reduziert hat, schließt brillant mit einem berechtigten Fragezeichen. Und die Operá de Lyon hat wieder mal eine tolle Premiere mehr gewuppt.
Der Film noch vor den ersten, geschäftig aufrauschenden, gleich in die juvenil Frischen gehenden Puccini-Akkorden, macht alles klar. Diese Manon Lescaut ist kein unbedarftes, aber hübsches Mädchen, das auf dem Weg in die Klosterschule eher zufällig auf die schiefe Bahn gerät. Diesmal kommt sie illegal nach Frankreich, aus Osteuropa oder Vorderasien, die Schrift im Brief der Mutter, der über den Bildern aus der fiesen Kleiderfabrik und dem Durchsteigen eines zerschnittenen Drahtzaunes liegt, sieht jedenfalls sehr exotisch aus. In der Frankfurter Opernechtzeit landet sie dann in einem Transporter voller Illegaler unter dem Betondach eines unwirtlichen Busbahnhofs. Hinten deuten die Betonstützen, das nicht vollständig sichtbare Wort „LOVE“ an. Links wartet seltsamerweise der Portier eines Luxushotels auf das Gepäck der Ankommenden, rechts wuselt in einem billigen Imbiss das Unterschichtgewimmel der Gestrandeten. Manche haben noch, Hoffnung, andere haben sie fallen gelassen. Und dazwischen streckt Manon, eine billige Tussi in falschen Jeans und mit Goldtasche, ihre müden, aber abenteuerhungrigen Glieder während ihr rotziger Bruder (fleischiger Bariton mit echten Tattoos: Iurii Samoilov) schon mal die Lage checkt. Ein Mann besingt sie (tenorschön: Michael Porter); ein schmieriger Lude (genredeckend: Donato Di Stefano als Geronte de Ravoir) taxiert sie; ein offenbar unbedarfter Jüngling namens Des Grieux verliebt sich gar in sie.
Fotos: Barbara Aumüller
Willkommen im Opernleben von heute. Hier spreizt kein zarter Rokokosperling mehr sein flügges Gefieder, lässt sich von l’amour, Juwelen und dem süßen Leben besäuseln. In dieser Zurichtung des nüchternen Regisseurs Àlex Ollé und des zupackenden Dirigenten Lorenzo Viotti geht es gleich und deutlich zur Sache. Liebe ist käuflich, so wie auch Gefühle. Nur der schmachtende Des Grieux des schön auf Tontouren kommenden Joshua Guerrero braucht etwas länger, um das zu kapieren.
Kein Wunder, das Objekt seiner dann doch nicht so schüchternen Begierde, dann Verfallenheit ist ja auch Asmik Grigorian. Die litauische Sopranistin, berühmt geworden letzten Sommer als Salzburger Salome, entwickelt sich auch hier wieder aus einer mal tussigen, dann girlie-haften Unbedarftheit zum gleißend alle Strahlen in sich brechenden Mittelpunkt dieses großartigen Opernabends. Und man kann so schwer sagen, wie sie das macht. Die dunkle, dann aber auch hell auffahrende Stimme ist nur ein Teil dieses Künstlerinnen-Gesamtkunstwerks. Dazu kommen Ausstrahlung, präzises Timing, eher kleine Gestik und eine vollkommene, katzenhaft intuitive Interaktion mit allen anderen auf der Szene.
Und so mag man diese eigentlich verletzliche, aber nicht
sonderlich sympathische, nie über die nächsten zehn Minuten hinausdenke Frau irgendwann
doch, schaut gebannt ihrem Schicksal auf der Absteigekurve zu. Vom „süßesten
Leiden“ – „dolcissimo soffrir“ – künden die beiden so rasch im Duett vereinten
Liebenden, ihren Moment höchsten Glücks zu bewahren suchend, bevor es hurtig
abwärtsgeht auf dem Rad des Opernheldinnenschicksals. Symbolhaft senkt sich zum
zweiten Akt vorhanglos die Betondecke herab und offenbar einen schillernden,
aber eben auch eiskalt neonfarbenen Stripschuppen,
in dem Manon jetzt ihr Geld verdient. Frauen als Ware, Mädchen als Objekte und
Liebe als Geschäft: Schamlosigkeit vorwiegend pekuniär gesteuerter
Emotionsillusion.
Eigentlich müsste sie in diesem Tabledance-Ambiente (der ebenfalls minimalistische, aber effektive Bühnenbildner Alfons Flores hat hier schon 2004 mit Calixto Bieito Massenets „Manon“ ähnlich zeitgeistig ausgestattet) „Adieu, mon petit table“ singen statt nicht vorhandene morbide Spitzen zu beklagen – wo sie doch nur einen knäpplichen Glitzerbikini als Dienstkleidung besitzt und darin ziemlich professionell die Hüften kreiseln lässt. Die Männer nehmen sie aus, aber sie nimmt es auch von den Männern. Sogar der madrigalisierende Kastraten-Musico und der die Gavotte schlagende Tanzmeister werden in dieser feinen Ancien-Règime-Musikstilkopie bruchlos stimmig ins Heute gebeamt.
Dann sind alle bunten Farben weg. Der dritte Akt düstert sich ein. Die Polizei hat Manon brutal weggeführt. Lorenzo Viotti, der einen süßen, nie verweilenden, aber auch sehr aktiv und plastisch einen vorpreschenden, vitalen, durchaus knallig harten Puccini aus dem willigen Frankfurter Museumsorchester herauskitzelt- wie peitscht, intensiviert die trostfreie Stimmung. Unter der Betonplatte vegetieren, wie etwa in Calais, die Abzuschiebenden, von Schäferhunden bewacht, wie Tiere in hasenstallartigen Käfigen. Der Laternenanzünder Puccinis ist zur Transe mutiert. Schonungslos ist das, die Asylanten von heute sind die nach Amerika Deportierten von gestern.
Im vierten Akt, Videowellen schwappen dazwischen, kreiseln nur noch die nackten, betonfleckigen „LOVE“-Buchstaben als fast schon zynische letzte Zuflucht, wo das verlorene Paar in den Bögen und Vorsprüngen sich kauert, auf der sonst leeren Drehbühne. Hier ereignet sich jetzt das Puccini-haft große Opernende: Verzweiflung, Verlassenheit, Verabschiedung. Manon und Des Grieux, Asmik Grigorian und Joshua Guerrero, laufen zu höchster, desperat-emotionssatten Form auf. Sie stirbt, er schwelgt, den Wert der wahren Gefühle entdecken sie erst beim letzten Todesschluchzer. Das ewige Opern-Paradox, sehr italienisch, sehr heutig-packend und trotzdem stückkonform, dabei sehr begeisternd in Frankfurt.
Am Schluss, nach charmanten, flamboyanten zwei Stunden leuchtet hinten das, ein wenig an eine venezianische Palastfassade erinnernde dicke B golden auf und alle huldigen ihm mit Freude: „Evoé, Madame Bru!“ Und die sinkt bescheiden noch mehr in ihrem Balkonsessel während das volle Auditorium im Pariser Théâtre du Champs-Élysées sich zur Standing Ovation erhebt. Schließlich hat diese so zurückhaltend-elegante Dame das alles durch ihre großzügige Stiftung Palazzetto Bru Zane – Centre de Musique Romantique Française möglich gemacht. Dass es für uns wieder ganz alltäglich ist, unbekannte Musik von Victorin Joncières und sogar von Charles Gounod, von Lecocq oder Audran auf der anderen, der bunter dekorierten Operettenseite zu hören, die am Rand des Bühnenrahmens schon durch die Plakate bezeichnet wurde. Und so muss man sich längst mich mehr fragen: Was haben eine Aufführung von Charles-Simon Catels Oper „Les Bayadères“ in Sofia mit Noverre-Balletten in der Königlichen Oper Versailles, ein Kammerkonzert des Trio Arcardi mit Musik von Gouvry in Shanghai, ein Fauré-Abend der Gebrüder Capuçon in Wien und eine konzertante Berliner Gegenüberstellung von Wagners „Fliegendem Holländer“ in des Komponisten eigener Version und der von Pierre-Louis Dietsch miteinander zu tun? Denn längst wissen nicht nur die Eingeweihten: Sie alle wurden inspiriert, betreut und bisweilen auch finanziell unterstützt von einer Stiftung, die seit 2009 in einem kleinen, feinen Palazzetto von 1695 in Venedig residiert, in dem schon Mozart aufgetreten sein soll.
Dessen Name ist Programm. Das sich inzwischen in der
europäischen Musikwelt verästelt hat, auch im deutschsprachigen Raum Fuß
gefasst und längst auch seine Kontakte nach Asien und Übersee knüpft. Während
der große Palazzo nebenan längst in ein Gymnasium umgewandelt wurde und nun im
Garten eine Sporthalle steht, hat im ehemaligen Ballhaus der Familie Zane die
Ärztin und studierte Chemikerin Nicole Bru, als Erbin und ehemalige
Mitgeschäftsführerin des Pharmazieunternehmen Labaratoires UPSA eine der zehn
reichsten Frauen Frankreichs, diskret, aber effektiv ein Zentrum eingerichtet,
dass die Förderung der französischen Musik des 19. Jahrhunderts beflügeln soll.
Denn jenseits der großen Opernkomponisten, im Schatten von
Auber und Massenet, Bizet und Saint-Saens, Offenbach und Ravel gibt es noch
jede Menge Komponistennamen und verloren gegangene Werke der Romantik zu
entdecken. Während die zurückhaltende, sich nie in Konzertrampenlicht stellende
Madame Bru auch Wissenschaft und Soziales fördert, wollte sie,
Kunstliebhaberin, aber mitnichten Expertin, Geld geben, wo noch keines fließt.
Und das ist genau bei der wissenschaftlichen Erschließung der Epoche zwischen
dem Beginn der Revolution und dem Ende des ersten Weltkriegs der Fall.
Ganz sachlich stellt die Romantikerin Nicole Bru, die am meisten der Barockmusik zugeneigt ist, fest: „Ich liebe Musik seit meiner Kindheit, und eine Erinnerung ist mir bis heute besonders verhaftet: Als ich in der Schule zum ersten Mal Borodins ,Steppenskizze aus Zentralasiens’ hörte, ein wirklich starkes Erlebnis. Seither war ein Leben ohne Musik für mich nicht vorstellbar, genau wie für meinen Mann: Schallplatten, Konzerte, Oper… und daher auch meine Begegnung mit Hervé Niquet als er sein Concert Spirituel im Jahre 1987 gründete, ein Barockensemble, dass wir nachhaltig unterstützten, bis die Fondation Bru diese Rolle übernahm.“
Nachdem sie nach dem Tod ihres Mannes und weitere
florierender Firmenjahre das Unternehmen schließlich verkauft hatte, erwarb sie
2006 den äußerlich unauffälligen Palazzetto, der im Schatten der Frari-Kirche
nur noch ein kümmerliches, kaum mehr von Spaß und Unterhaltung vergangener
Jahrhunderte kündenden Gebäudedasein führte. Dafür waren acht Millionen Euro
fällig, für weitere vier ließ sie ihn renovieren. Längst also strahlen wieder
seine von Antonio Gaspari entworfenen Fassaden – ockerfarben verwaschen sich in
Ensemble zum kleinen Canale hin einfügend, wo man direkt vom Boot ins
nüchtern-moderne Entree kommt (auf diesem Weg erreichen auch die Flügel den
Saal) und kalksteinwarm zum lauschigen Garten mit seinem efeuüberwucherten
Brunnen.
Und mit knapp dreieinhalb Millionen Euro finanziert Madame Bru seither jährlich das Centre in Venedig. Als künstlerische Chef und Herr der Konzerte und Kolloquien, Kurse und Kammerabende fungiert der agile, freudvoll von echter Leidenschaft getriebene Alexandre Dratwicki, dessen Zwillingbruder Benoit sinnigerweise für das Centre de la Musique Baroque in Versailles die Besetzungen zusammenstellt. So arbeitet man verwandtschaftlich Hand in Hand.
Die Stiftung unternimmt selbst Recherchen, veranstaltet im
eigenen, von Sebastiano Ricci entzückend ausgemalten, mit witzigen
Engelstuckaturen versehene Musiksalon und in anderen historischen, zum Teil
freskierten Räumen des Palazzetto sowie Venedigs Konzerte und ediert Partituren
für andere. Jährlich entwickelt man selbst in Venedig zwei Themenfestivals. Die
Stiftung Palazzetto Bru Zane (PZB) beteiligt sich weltweit an Aufführungen,
sucht Koproduzenten für Platteneinspielungen, und gibt eine Buchreihe für
Wissenschaftler wie Laien heraus.
Außerdem fördert sie junge Musiker, die sich auf Spiel- und Singweisen
des 19. Jahrhunderts spezialisieren wollen. Beim eigenen Label sind bisher 22
(!) Operneinspielungen herausgekommen, immer sehr hübsch aufgemacht, dazu sechs
CD-Bände mit Prix-de-Rome-Werken und vier Porträt-Bücher.
Was bisher seine konzentrischen Kreise von Venedig aus zog –
wo die größeren Konzerte in der herrlichen sonst nicht zugänglichen Scuola
Grande Giovanni Evangelista, die gleich nebenan liegt, abgehalten werden –
entwickelt sich mit Riesenschritten zur musikhistorischen, dabei äußerst
sympathisch wie clever vorgehenden Weltmacht der französischen
Romantik-Lobbyistik.
Madame Bru selbst ist des Lobes voll über das bisher
Erreichte, will sich aber damit nicht schmücken, sondern betont die Nutzen für
die Musikliebhaber allüberall: „Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, was der
PBZ alles hervorbringt: Wir sind schließlich zu Beginn lediglich von einer Idee
ausgegangen, die heute dank der Begeisterung der Brüder Dratwicki und der
Energie des Teams in Venedig weit mehr als nur Idee ist. Ein Strauß von
Talenten, Kompetenzen und persönlichem Einsatz hat diesem Projekt in Venedig
erlaubt, zu wachsen und einen europaweiten Ruf aufzubauen. Es hat sich weit
stärker entwickelt, als ich zu hoffen gewagt hätte, und seine Blühen und
Gedeihen freut mich außerordentlich. Zu Beginn war es undenkbar, dieser Entwicklung
einen Rahmen von sagen wir mal: fünf Jahren zu geben, da ihr Verlauf von
verschiedenen unvorhersehbaren Faktoren abhing: der Akzeptanz seitens des
Publikums oder seitens der Musikschaffenden, sei es in Venedig oder in Italien,
Frankreich und in ganz Europa, aber auch vom Zusammenwachsen des Teams, die
Zeit die jeder braucht, um das Projekt wirklich zu kennen. Doch das alles ist
offenbar auf höchst fruchtbaren Boden gestoßen.“
Bru Zane global – im Namen der weitgehend ignorieren, oft
sehr genussvollen und experimentierfreudigen französischen Musik des 19.
Jahrhunderts. Eine letzte historische Lücke schließt sich so. In dieser Epoche
mag es dort nicht so viele herausragende Originalgenies gegeben, die Geschichte
ist durchaus gerecht, aber doch viele, kaum je gehörten Namen und kreative
Geister, denen entscheiden Gelenkfunktion zukommt. Sie werden nun ins Licht
gerückt, sanft aber nachhaltig. Nie gibt man das ganze Budget für eine
Produktion oder Aufführungen. Man will anstoßen, anregen, heiß machen, aber
auch andere, Konzertveranstalter, Intendanten, Plattenformen, Rundfunkhäuser
und Interpreten, müssen ihrer Beitrag leisten.
Aus einem Geheimtipp wurde so eine Bewegung. Die besonders von Dirigenten wie Hervé Niquet, Christophe Rousset und Marc Minkowski gern aufgenommen wird. Und die im Musikbetrieb offenbar auf höchst furchtbaren Boden stößt. Und auch bei der enthusiastischen Presse. Kürzlich wurde Nicole Bru deshalb bei den erstmals in Berlin verliehenen Oper! Awards den Preis für das beste Mäzenatentum erhalten. Da sie aber just an dem Tag wegen des Jubiläums in Venedig weilte, wurde der Award jetzt zum Gala-Konzert nachgereicht.
So hat man also jetzt die erste Palazzetto Bru Zane-Dekade privatim in Venedig und öffentlich Paris gefeiert: Dass auf das lange 19. Jahrhundert, vom klassizistischen Ende der Revolution bis zum Ersten Weltkrieg und dem Tod von Massenet wie Saint-Saëns nun wieder Licht falle. Das war eigentlich nicht so schwer, an die Partituren ist dank zentraler Archivierung gut ranzukommen, aber jemand muss den Mut und die Muße habe. Im Palazzetto forscht man jedenfalls nicht fürs stille Kämmerlein, man will die Dinge auch aufgeführt sehen. Deshalb gab es eine lange, jetzt beendete Kollaboration mit der Opéra comique, und man hat nach fünf Jahren auch entdeckt, dass ins besondere das so vielfältige französischen Operettentheater auch der besonderen Förderung bedarf. Deshalb auch die zwei, sich immer mehr freundlich mischenden Programmschienen des Abends, manifestiert vom szenischen Organisator Romain Gilbert durch die düstere-tragische Sofagruppe links, während die lustigen Leute im bunten Arrangement rechts Platz nahmen.
Einige der treuesten Sängermitwirkenden dieses Unternehmens waren da, prosteten sich zu und verspeisten am Ende Geburtstagstorte; dazu der allzu gern seinen Klamauk-Senf dazugebende Hervé Niquet am Pult des Orchester de Chambre de Paris samt dem Coeur du Concert Spirituel. Mit Offenbachs „Madame Favart“-Ouverture hob es spritzig an, um dann gleich dem hohen Pathos von Jean-Baptiste Lemoynes „Phèdre“ zu huldigen, in den sich Judith van Wanroij mit Verve und Plisseeschleier warf. Da hat sie schon bei einem der Pariser Palazzetto-Festivals getan, auch wird die Oper an der Schwelle zur Romantik bald auf CD veröffentlich. So hielt sich Rück- und Vorschau programmatisch die Waage. Manches wurde auch nur mal ausprobiert.
Und dazwischen gigelte und parlierte, plapperte und juchzte immer wieder das von der leichten Muse geküsste Singspielpersonal, wie der urkomische Rodolphe Briand sich durch seine Operettencouplet von Félix Chaudoir, durch Delikates von Frédéric Barbier, Edmond Audran (ganz besonders grell mit Olivier Py, dem gern in Damenkleidern auftretenden Regisseur und Chef des Avignon Festivals, mit rosa Strumpfhosen und Schute). Von den seriösen Damen und Herren durchmaß Véronique Gens, so etwas wie die Plazzetto-Primadonna, mit dem wunderweichfeinen Cyrille Dubois ein Duo aus Joncières „Lancelot“ (sehr lecker); mit dem immer zu sehr drückenden Edgaras Monvidas ein schmachtendes Duett aus Godards „Dante“ (gehaltvoll, auch bald auf CD).
Niquet trampelte spanische Tänze, Chantal Santon Jeffery jodelte ein Landlied aus Halévys „Charles VI“, Tassis Christoyannis gab sich Saint-Saëns’ „Extase“ hin. Dazu war Harfenbegleitung von Nöten, und der wunderbare Emmanuel Ceysson, eben aus dem Met-Graben zum LA Philharmonic befördert, zupfte sich eins; und mit dem Concertstück von Gabriel Pierné gleich noch ein virtuoses Solo-Zweites. Man wuchtete das Finale aus Méhuls „Adrien“ und ein ebensolches aus den „Mystères d’Isis“; was nichts anderes ist als Mozarts umgetextete „Zauberflöte“. Ingrid Perruche rockte den Saal mit der Herzoginnen-Arie aus Hervé witzdrastischen „Chevaliers de la Table ronde“, einem ebensolchen Tournee-Erfolg der Palazzetto-Equipe. Und am Ende hatten, bevor man sich zum Gruppenbild fügte, alle mit dem Offenbach-Finale aus „La Vie Parisienne“ eine gute, schunkelnde Zeit.
Das einzige was also weiterhin ein Wunschtraum für das 25. Jubiläum bleiben muss: die Dratwicki-Zwillinge im Duett „Blanche-Marie et Marie-Blanche“ aus Messagers „Les P’tits Michu“, ebenfalls tourbewährt. Kostüme gäbe es also schon…Doch jetzt war erst mal Zeit für Champagner!
Man ist ergriffen. Und plattgemacht. Gleichzeitig. Von der Gewalt und Größe dieses Stückes. Das Triviales und Geniales vereint, billigen Pomp und exquisite Intimität, das am heftige Hebel der Effekte dreht, sich aber auch total auf die einzelne Emotion zurückzunehmen vermag. Große Oper – Grand Opéra. Bejubelte Volkskunst des 19. Jahrhunderts in der Opernhauptstadt Paris. Und dabei, der pioniermutige Jacques Fromental Halévy und sein Librettist Eugène Scribe konnte das 1835 nicht ahnen, nur vermuten: „La Juive“ ist ein bis heute leider sehr aktuelles, visionäres Stück totalen Musiktheaters – reißerisch und melancholisch, anrührend und abstoßend, mit klischeehaften und gemischten Charakteren. Eine Provokation, eine wütende Anklage, immer noch. Dabei sauschwer zu realisieren. Und genau dieses Wahnsinnswerk sucht sich Laura Berman als Antrittspremiere ihrer Hannoveraner Opernintendanz aus! Die so sympathisch kommunikationsoffene Amerikanerin, die aus der Bregenzer Festspiel-Avantgardeecke über die Basler Operndirektion den genau richtigen Weg nach Niedersachsen gegangen ist, hat alles auf eine spektakuläre Karte gesetzt. Sogar noch viel mehr, denn das sowieso aufwendige Stück erwies sich in der sinnfälligen Interpretation von Lydia Steier als Kostümorgie, die rückwärts durch die Zeiten switcht. Als Chronik der Intoleranz und Ausgrenzung. Für die Masse an Stoffen und Perücken musste ein zusätzlicher Sponsor gefunden werden. Auch das gelang. Dann hat die Wirklichkeit diese Premiere schon nach ein paar Vorstellungen wieder eingeholt. Aber die künstlerische Aussage hält dem grausam antisemitischen Alltag auch wieder in Deutschland souverän stand. Nicht zuletzt, weil sie getragen wird von einer wirklich hinreißenden Ensembleleistung im Graben wie auf der Bühne. Was für ein Zeichen der offenbar wieder sehr vitalen Staatsoper Hannover!
Fotos: Sandra Then
Der Jude ist böse. Auch die Christen sind grauenvoll.
Religion ist zunächst eine Sache der Väter. Dem ungleichen Liebespaar ist sie
eigentlich egal. Was sich als tödlicher Fehler erweist. Halévys „La Juive“ war schon bei der
Urauführung ein politischer wie musikalischer Hit der Stunde. Selbst Wagner
mochte sie – und klaute daraus, Meyerbeer und Verdi natürlich auch. Das junge
Genre Grand opéra fand hier einen packenden Stoff. Historie, Konstanzer Konzil,
Kaiser Sigismund, Schisma, Hussitenkriege. Pomp, Singzirkus und Tanz. Der
Blockbuster des 19. Jahrhunderts. Aber eben nicht nur.
Erstmals standen hier Juden nicht als biblische Chimären auf
der Bühne. Sondern als handelnde Personen mit all ihren Licht- und
Schattenseiten. Éléazar, der Goldschmid, der des späteren Kardinals Brognis
Tochter einst aus einem Feuer rettete (was dieser nicht weiß), ist der
eigentlichen Christin Rachel ein liebender Vater. Aber die Religion geht ihm
über menschliche Nähe. Er ist aus Verletztheit genauso verblendet und fanatisch
wie die Christenmeute und auch geldgierig – um es ihnen heimzuzahlen. Halévy
und Scribe, gelang so einer der bahnbrechenden Opernstoffe: dramatisch,
sentimental, aktuell, kämpferisch, ehrlich. Keiner kommt hier gut weg, alle
sind sie, wie stark auch immer im unversöhnlichen Glauben, doch nur schwache
Menschen.
Das zeigt in Hannover jetzt auch Lydia Steier vor der Einheits(klage)mauer aus betongrauen Rechtecken von Momme Hinrichs (zudem für die wenigen, gut platzierten Videos zuständig), aus dem Tribünen klappen, das Haus Éléazars fährt, Türen und Fensterchen sich öffnen. Die Rückseite zeigt Gestänge. Und schon zu Anfang, wenn sich beim Himmel-und-Hölle-Spiels zwei Jungs kabbeln, der mit der Kippa verprügelt wird, ist klar: es geht um Antisemitismus. Und schon beginnt die Zeitenwanderung, aktweise. Die Exposition spielt in den Amerikanischen Fifties, Prinz Léopold (Tenorstrahle- und stahlmann in höchst undankbarer Rolle: Matthew Newlin) gibt beim Triumphzug als Sieger den hüftschlenkernden Elvsi mit Gitarre in der offenen Luxusblechkarosse. Das Volk jubelt unbedarft, feiert den All-American-Hero? All? Recht prügeln sie jetzt Éléazar, der es gewagt hat, am Freudentag zu arbeiten.
Der zweite Akt führt, fast monochromfarben, ins Deutschland de beginnenden Dreißiger. Die Juden feiern ihre Feste nur noch heimlich, draußen schmiert SA „Judensau“ an die Wand. Trotzdem nähert sich hier der Prinz seiner geliebten Rachel zum Pessachfest als orthodoxer Jude. Sein Fellstreimel ist so komisch groß, dass er später seiner juwelenverliebten Frau Eudoxie (mit ähnlich schmuckschillernder Koloratur: Mercedes Arcuri) als Hocker dient, auf dem sie ihr zartrosa High Society-Outfit ausbreitet. So schmuggelt Lydia Steier immer wieder Komik und Groteske ins toternst erschreckende Geschehen, verstärkt so noch die Kontrastdramaturgie der Grand Opéra.
Das gipfelt in einer Fellini-würdigen Barock-Party (Alfred Mayerhofer greift in die Kleidervollen) im dritten Akt. Wo vor einem grandios überladenen Fantasy-Büffet die Reifröcke rascheln, Dekolletees sich plustern, Brokatgarnituren aufmarschieren und eiskremfarbene Perückentürme herumspazieren. Über ihnen hängen, makaber, makaber, in als Lüster staffierten Käfigen ausgezehrte Leichen. Das freilich ist nur der grelle Hintergrund, vor dem die der Wahrheit über Léopold dämmernde Rachel vor ihrem Vater, jetzt Jud Süß, die für beide fatale Leidenschaft der andersgläubigen Liebenden enthüllt und die Verdammung der Masse über sie hineinbricht. Rachel wird vergewaltigt und Barno Ismatullaeva steigert sich einmal mehr dramatisch packend in flammende Tonkaskaden ihres schönen, großen, in allen Lagen durchgebildeten Soprans.
Im vierten Akt, immer wieder taucht als mahnend überzeitlicher Zeuge der jüdische Junge auf, geht die Zeitreise in das Renaissance-Spanien der Inquisition, Kardinal Brogni (bassatt: Shavleg Armasi), beäugt von ebenfalls rotgewandeten Klerikern, versucht die in zwei getrennten Käfigen gehalten Rachel und Éléazar auszuhorchen; sie entlastet auf Bitten von Eudoxie Léopold, der so mit dem Leben davonkommt. Jetzt hat der gebrochene Vater seine große Szene: Zoran Todorovich, 1999 in der für Rezeption des Werkes so bedeutenden Wiener Produktion noch Léopold, singt mit würdig gereifter, metallisch durchschlagender Stimme das berühmte, von zwei Englischhörnern eingeleitete „Rachel, quand du Seigneur“ als eindrücklicher Vokalschauspieler mit emotionaler Tiefenbohrung. Und feiert auch noch in Hannover, wo er nahebei wohnt, sein Debüt vor 25 Jahren.
Das Finale des kurzen fünften Aktes ist schließlich im spätmittelalterlichen Konzil-Konstanz 1414 angekommen, dem eigentlichen Ausgansort der Handlung. Wieder fast farblos, geht es nach einem furchbaren Festzug, der alle Judenstereotypen bedient, zum grausamen Ende, das Rachel drastisch im Siedekessel findet, der eher aussieht wie ein Quizshow-Wasserbecken. Für Éléazar hebt unterdessen ein Micky-Mouse-Henker das Beil. Tusch und Schluss. Noch einmal reizt der sich in die Klangwelt zwischen Klassizismus, Meyerbeer, Romantik und frühem Wagner pudelwohl fühlende Constantin Trinks die Orchesterextreme zwischen sanft und schneidend voll aus. Klug wurde gekürzt (gleich schon die komplette, entbehrliche Ouvertüre). Eine sportive wie sensible Leistung, der Chöre und Klangkörper vielgefordert, aber willig folgen.
Dieser Dinosaurier ist also auch in Hannover so massig wie
beweglich, zeigte als kräftiges monstre sacré seine Krallen. Dreieinhalb sehr
politische Opernstunden an durchaus gustiöser Spektakelsauce werden zum
Musiktheaterkrimi. Das Publikum begeistert sich an der ungekannt cleveren
Kolportage mit ihrem strengen Humanismus. Und so setzt sich der schüchterne,
aber nachhaltige Siegeszug der „Juive“ eindrücklich fort. Nur im
Dreiopernhäuser-Berlin, da wartet man immer noch auf ein Wiedersehen.
Diese Musik packt – und sie begeistert. Eigentlich. Es gibt nicht viele in den letzten fünfzig Jahren geschriebene Opernpartituren, von denen man das sagen kann. Hans Werner Henzes Antike-Opus „Die Bassariden“, 1966 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, neuerlich und erstmals im originalen Libretto-Englisch von W. H. Auden und Chester Kallmann an der Komischen Oper Berlin zu erleben, gehört eindeutig dazu. Freilich pulst hier bei aller barbarischen, abgefedert dodekaphonischen Härte auch das südliche Licht, unter dessen sinnlicher Sonne sich Henze wärmte. Und bei jedem Hören scheinen diese „Bassarids“ mehr als sein Opern-Opus summum, wo er meisterlich den Geist der Sinfonie aus einer antiken Tragödie gebar und in eine gekonnt ausbalancierte, einaktige Großform in vier eigenständigen Sätzen goss. Die jetzt Vladimir Jurowski, virtuos wie kraftmeierisch in die Instrumentalvollen greifend, so wie die Musiker vor ihm im Graben, auf den hölzernen Bühnenstufen, neben dem Parkett und in den Rängen gestaffelt sind, mit einer Lust am Lauten und Temperamentberstenden dirigiert, als läge da vor ihm in diesen über zwei Stunden Hochdruckmusik gleich viermal hintereinander Strawinskys „Sacre du Printemps“ auf dem Pult. Aber mehr noch: Dieses scheinbar so weltfern überzeitliche Werk, das sich auf Euripides’ „Bakchen“-Tragödie beruft, wirkt vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Weltlage aufregend modern und eminent politisch. Ausgerechnet bei Herbert von Karajans Klassik-de-Luxe-Festival wurde damals ein Diskurs über Anpassung und Freiheit, rigide Traditionsstrenge und Aufbruch, Askese und losgelassene Sinnlichkeit, über das Regime des Einzelnen und das Diktat der Masse vorweggenommen, der uns nach wie vor beschäftigen sollte. Das aber jetzt in Barrie Koskys personenregieintensiver, aber sonst sich aufs Nacherzählen des Plots beschränkender, eigentlich semikonzertanten Inszenierung nicht wirklich an Schärfe und Stringenz gewinnt.
Fotos: Monika Rittershaus
Klar, auch ein Gott wie Dionysos, der Pentheus, den
atheistischen König von Theben, ausschalten und von dessen eigener Mutter Agaue
zerreißen lässt, ist hier nur Stellvertreter. Das wurde oft verdeckt durch ein
von den Urhebern beschworenes, an Nietzsches Neuentdeckung der losgelassenen
Griechenlust gemahnendes, aber fernes Fin-de-Siècle. Denn auch für einen
Regisseur ist die Mischung aus Raserei und Diskurs, Bildungsballast und
heutiger Vergegenwärtigung nicht einfach zu visualisieren.
In Berlin aber bleibt der vielbeschäftigte Barrie Kosky (fünf Inszenierungen sind es diese Saison, neben dem Intendantensein und dem Verpflanzen eigener Produktionen) konzentriert auf das Wesentliche. Halb Oratorium, halb Nachempfindung des antiken Theaters lässt er seinen hervorragenden Chor, verstärkt durch das Vokalkonsort Berlin, bei eingeschaltetem Saallicht ziemlich oft auf den Stufen samt Mittelgang in Katrin Lea Tags sterilem Fichtenholzgehäuse sitzen, ein paar eurythmische Bewegungen machen. Die Gesichter sind weiß geschminkt, auch die Protagonisten tragen Alltagsklamotten. Nur die Anzüge der zehn Tänzer, die in Otto Pichlers bewährt aufreizender Choreografie an ein paar Stellen die Klang- und Gefühlsraserei auch auf dem halbüberbauten Orchestergraben verstärken, sind gemustert.
Eine Versuchs- und Diskursanordnung. Das Ungeheuerliche dieser Geschichte bleibt außen, teil sich nur durch die Intensität der Musik mit, und durch die im Finale ihr blutverschmiertes Elektra-Beil als schon Salzburg-2018-bewährt monströse Mutterscheuche schwingende Tanja Ariane Baumgartner. Die sieht vorher aus wie eine ergraute Marge Simson, singt aber vorzüglich und klar, bis sie aus einer Plastiktüte die krösigen Reste ihres Sohnes als Pentheus-Klein schüttelt.
Auch die anderen Sänger fügen sich zu einem abwechslungsreichen Typenkabinett. Günter Papendell ist einmal mehr darstellerisch eine Wucht. Mit seinem raumfüllenden, strikt auf den Notenpunkt gelenkten Bariton gibt der Moralapostel und Gesetzesmacher Pentheus, der von Anfang an und selbst als Frau verkleidet (Kosky erspart sich jedes Transengedöns) auf verlorenem Posten steht – besonders gegenüber dem verführerischen Sean Panikka (auch schon in Salzburg dabei) als seinem tenoralen Gegenspieler Dionysos mit dem Platzvorteil der Jugend. Liebe wie Hass scheint beide anzuziehen, im Kuss wie in der Abwehr. Klar, dass Kosky in diese Kerbe haut, sonst freilich gib er sich arg objektiv und neutral.
Als trashige Tattergreise agieren Ivan Turšić im Karomantel
als blinder Seher Tereisias und als Guildo-Horn-Kopie Jens Larsen (Großvater Kadmos).
Zusammen mit ihrer Schwester Autonoe (Vera-Lotte Böcker) und dem vokal gute
Figur machenden Hauptmann/Adonis von Tom Erik Lie reißt die Baumgarten auch die
eigentlich überflüssige, nach Weill mit Mandoline klingende Farce des
Kalliope-Intermezzos an sich.
Das beinhaltet musikalisch wirkungsvolle Minuten, hält aber doch auf und schweift ab. Der Theaterpraktiker Henze hatte es aus gutem Grund einst aus der gültigen Spielfassung entfernt. Genauso wie den später hinzugefügten, erklärenden Prolog. So könnte das das pausenlosen zwei Stunden durchrauschen Stück wohl noch mehr aufrüttelnde Wirkung zeigen. Musikalisch aber war das eine dionysisches Henze-Raserei der Extraklasse.
Er möchte gern bei seinem Rollendebüt als Händels Giulio Cesare dasselbe Alter haben wie der echte Imperator, hat Bejun Metha immer gesagt. Nun hat der Countertenorstar es erreicht – fast. Cesar war 52 Jahre alt, als Cleopatra samt Nase ihm die Sinne verdrehte. Mehta ist 51, fährt mit dem Jeep vor und lässt jetzt mit stolzgeschwellter Erobererbrust und harmonisch gerundeter Stimme seine erste Arie „Presti ormai l’egizia terra“ souverän im Logenrund der Mailänder Scala erschallen. Er tut dies in moderner Kampfuniform, hinter ihm lässt Gideon Daveys aufgeklappte Wüstenfototapete keinen Zweifel daran, dass man es hier mit einer Kulisse zu tun hat. Auch Robert Carsens Regie bleibt im Folgenden schnörkellos direkt und ohne Pop-Zitate. Sie erzählt geradlinig, aber mit einem wachen Augen für Ironie und Entertainment eine in vielen herrlichen Barockarien sich entfaltenden Geschichte von Krieg, Politik, Geschäft und Liebe. Denn ersten Lacher gibt es schnell, wenn ausgerechnet in Anwesenheit von dessen Frau Cornelia und Sohn Sextus der Kopf von Cesars Rivalen Pompeius in einem blutigen Pappkarton gebracht wird – der Überbringer ist nämlich ein samt Limousine vorfahrender Araber: also so einer wie der beabsichtige Saudi-Sponsorenprinz, der Noch-Intendant Alexander Pereira im Austausch von Aufsichtsposten gegen Bakschisch letztlich seinen Kopf gekostet hat. Und ein weiterer Schädel samt Singapparat und daran hängender Dame ging hier verloren: Denn eigentlich sollte diese erst sechste Händel-Premiere an der Scala der Auftakt für ein dreiteiliges Barockprojekt für Cecilia Bartoli werden, mit dem sie ihr italienisches Comeback feiern wollte. Doch wegen der Querelen um die Vertragsverlängerung ihres Förderers Pereira stieg der Mezzostar aus und wurde vertragsbrüchig. Statt einer uralten Carsen-„Semele“ als Vehikel für ihre nicht mehr knusperfrischen Vokalmöglichkeiten gibt es nun im Herbst 2020 dessen Wiener „Agrippina“-Inszenierung. Aber ob dann 2021 noch die geplante Loy-„Ariodante“ aus Salzburg folgt, das weiß nur Pereira-Nachfolger Dominique Meyer.
Fotos: Brescia Amisano
Egal, der hier ungewohnte Händel aus dessen bester Opernzeit
1724 gefiel auf ganzer Linie, hielt das barockungeübte, mit Szenenbeifall nicht
geizende Publikum geschickt bei der Aufmerksamkeitsstange. Ist es doch erst die
zweite „Cesare“-Inszenierung nach der nur viermal gegebenen Erstaufführung 1956
von Margherita Wallmann; mit Gianandrea Gavazzeni am Pult und Nicola Rossi Lemini
(als basssingender Cäsar), Virginia Zeani (Cleopatra), Franco Corelli (Sextus!)
und Giulietta Simmionato (Cornelia), beinfrei und in schrägen Teppichfransenroben.
Heute freilich erzählt Robert Carsen fast nachrichtlich kühl
in klaren, einfachen, schnell wechselnden Bildern ein Machtspiel und Liebesdrama,
Arienrevue und Politsatire. Er braucht keinen exzentrischen Ägypterprunk und
keine campschrille Dekadenz. Die Handlung von Händel und Nicola Francesco Heym
fesselt auch so. In schnellem Wechsel gibt es fotorealistische Sandhügel mit
Stacheldraht und Feldlager samt Gym oder fast karge Ägypter-Gemächer im modernen Pharaonenstil mit
Laptop und Hausbar auf pseudoantikem Mobiliar sowie Beton-Hieroglyphenreliefs,
wo die Götterfiguren Maschinenpistolen tragen. Man kämpft zeitgenössisch, aber
kleidet sich wieder arabisch orthodox.
Sehr witzig, wie Carsen beim offiziellen Treffen Cäsars mit
dem intriganten Verlierer Ptolemäus dieses als Clash of Culture inszeniert, der
sich im diplomatischen Kleideraustausch aus Fendi-Türen und Berberteppichen
manifestiert. Apropos Teppich: Cleopatra rollt librettogerecht als Sklavin
Lidia verkleidet aus einem solchen; am Ende wird ihr von Sextus erschossener
Bruder in einem weiteren Webwerk entsorgt. Carsen gibt sich einfach, agiert
aber beziehungsvoll.
So wie er auch die Bartoli vergessen machende Danielle de Niese subtil immer glamouröser aufleuchten lässt. Erscheint die anfangs ebenfalls als Mann in Kämpfernatur, hüllt sie sich dann in einfache Tracht. Die fantasmagorische Parnassusszene inszeniert sie für Cesar im Samtsessel als Heimkinotraum, wo sie selbst die Stummfilm-Cleopatra neben Claudette Colbert, Vivian Leigh und Liz Taylor gibt und des Kaisers Licht als im Loïe-Fuller-Stil tücherschwenkende Art-Deko-Motte umflattert. Später räkelt sie sich cocktailschlürfend im Lotterbett. Schließlich badet sie sexy im Goldzuber in der notorischen Stutenmilch; um final als Geschäftsfrau im rosa Businesskostüm emanzipiert aus der Tracht zu schlüpfen und den lukrativen Pipeline-Deal mit den Römern abzuschließen.
Das Rohr wird aufgedreht. War die Liebe zuvor wohlmöglich
nur eine Vorlage zum Zwecke, ausgefochten mit den wahren Waffen einer Frau?
Zumindest hat Danielle de Nisse, auch wenn die Stimme an sich kaum Besonderes
hören lässt, die Höhe nie wirklich blüht, die Verzierungen oft nur angedeutet
sind, ein gutes Paket vokaler wie visueller Arsenale zu bieten. 14 Jahre nach
ihrem Cleopatra-Sensationserfolg als Bollywood-hüftwackelnde Dancing Danny in
Glyndebourne erweist sie sich also immer noch als glänzende Garantin dieser,
ihrer Schicksalspartie.
Auch Georg Friedrich Händels zwischen feinen Scherzen und echtem Gefühl schillernde Arienabfolge würde einen historischen Wirtschaftsdeal zwischen Vernunft und Gefühl naheliegen. Giovanni Antonini am Pult des längst auch Alte-Musik-erfahrenen Scala-Orchesters dirigiert entsprechend mit sensiblem Sentiment und langgezogenen Tempi. Die Musikser füllen den großen Raum, in der Continuo-Gruppe finden sich können wie Soloharfenistin Margret Köll. Er kann aber auch anziehen, die Puppen schnurren und tanzen lassen. Auf geschickt verknappte drei Stunden und 45 Minuten kommt der Dreiakter mit einer Pause; in Bartolis und Antoninis Salzburger Produktion dauerte es ungestrichene fünf Stunden.
So wird es nie langweilig, selbst wenn sich Cornelia und Sextus in ihren getragenen Verzweiflungs- und üppigen Traurigkeitssoli samt himmlischem Duett als Finale-Erster-Akt ergießen. Sara Mingardo tut das mit nach wie vor dunkelwarm und legatoschwingend sich entfaltender, dabei schlanker Mezzostimme. Der Arme ringende Philippe Jaroussky kommt inzwischen in den hektischen Koloraturarien an leicht meckrige Countertenorgrenzen, aber hat immer noch die Spannkraft und den lyrischen Reichtum für die reich ausziselierten kontemplativen Soli.
Wie schon Jaroussky 2012 neben der Salzburger Cleopatra der Bartoli, ist im Countertenor-Quartett auch wieder Christophe Dumaux als Ptolemäus mit von der Mailänder Partie. Sein Intrigant ist noch wuchtiger, strahlkräftiger, mächtiger geworden, ein echter Cesar-Gegner auf Augen- wie Stimmhöhe, keine schwächelnde Inzest-Kreatur. Herrlich geraten so die Vokalduelle zwischen ihm und Bejun Mehta. Der klingt voll und konzentriert, setzt wirkungsvoll sein Spitzen und weiß sehr geschickt mit den noch immer üppigen Ressourcen umzugehen. Als Figur lässt er sich nicht wirklich in die Gefühlskarten schauen, als Künstler überzeugt er einmal mehr durch seine Präsenz, Intelligenz und Musikalität. Im selten hörbaren Abendschein einer extrem langen Karriere eine fulminante Leistung. Und er wird als letzter traurig gewesen sein, dass ihm die Bartoli mit ihrem gezielt gesetzten Charme und bühnenfüllendem Charisma jetzt nicht gefährlich wurde.
Es könnte also durchaus sein, dass die Mailänder auf den
nächsten „Giulio Cesare in Egito“ nicht nochmal 63 Jahre lang warten müssen…
Roland Petit hatte zeitlebens nur ein petites Talent für Choreografie. Das merkt man natürlich vor allem postum, 2011 ist der französische Choreograf, Tänzer und Ballettdirektor gestorben. Doch war er einst einzigartig in seiner Mischung aus akademischer Klassik, Jazz, Moderne, Casino de Paris-Kick, französischem Froufrou und immer modischer Sexiness, die sogar Hollywood auf diesen exorbitanten Kleinmeister aufmerksam werden ließ. Es wäre also schön gewesen, hätte das unter dem jüngst bis 2026 verlängerten Russen Igor Zelensky längst zum Monument des Gestrigen erstarrte Bayerische Staatsballett einen der gehaltvolleren Abendfüller Petits seinem dürftigen, geschrumpften und überalterten Repertoire einverleibt. Am liebsten natürlich das grandiose Proust-Opus „Les Intermittences du Coeur“. Aber während ein Neuzugang wie Christian Spucks Zürcher „Anna Karenina“ nach zwei Spielzeiten bereits wieder entsorgt wird, hat man stattdessen die operettige Flachware „Coppélia“ von 1975 importiert, die noch staubiger aussieht als sie alt ist. Dabei wurde seit ungefähr 20 Jahren Leo Delibes’ hübsch spritzige, auch kurkonzertknallige Partitur in München nicht mehr gespielt. Immerhin, Anton Grishanin hilft dem jetzt am Pult eines launig disponierten Staatsorchesters mit schepprigem Schmackes und einem feinen Gespür für Farben blendend ab. Und immerhin war am Nationaltheater 1981 mit der ins Paris der Toulouse-Lautrec- und Can-Can-Zeit verlegten Fassung von Youri Vamos und Edmund Gleede eine der besten, dramaturgisch überzeugendsten Fortschreibungen des biedermeierlich blassen Librettos von der mechanischen Puppe, die die Menschen täuscht und in die ihr Macher verliebt ist, zu sehen gewesen. Tempi passati.
Fotos: Winfried Hösl
Damals war das gesamte noch-nicht-Staatsballett mit wundervollen Rollen bedacht worden, allen voran der wunderbar alte Pantominen-Zaubermeister Michel de Lutry und das Pirouettenwunder Joyce Cuoco. Jetzt, bei Petit, gibt es sechs schematisch grimassierende Freundinnen, ein standardisiert stereotypes Hauptliebespaar und den Doktor Coppélius, hier zum immer noch eleganten Zauberkünstler/Rentner-Fred-Astaire gereift. In seiner knappen, auf zweimal 45 Minuten gekürzten Fassung hatte sich Petit den auf den drahtigen Leib choreografiert. In München tanzt ihn für zwei Vorstellungen sein Ex-Tänzer, -Assistent und Einstudierer Luigi Bonino mit stoisch weißgeschminkter Miene des Ex-Bonvivants. Und natürlich wirken auch hier die einzig berühmten zehn Minuten dieser vergessenswerten Fassung: jener melancholische Walzer mit der an seine Lackschuhe getackerten Puppe. Seinsverlorenheit eines Meisters und seines Medium, das einfach nicht lebendig werden will, das er vorher schon vergeblich zu füttern versucht hat.
Da wird die routiniert von der Stange ratternde Choreografie
mal vielschichtig, lebendig und originell, da schimmert eine zweite Dimension
hinter den sonst banal gezeichneten Figuren durch; aber das verschwindet gleich
wieder. Alles Reale über Pygmalion und seine Galatea, über vereinsamte alte
Männer mit RealDolls, kinderlose Frauen mit Puppenbabys, #MeToo und anderes
Gesellschaftsdiskurswürdiges, dass sich in der immerhin von E.T.A. Hoffmann herrührenden
„Coppélia“-Fabel finden lassen und mit der finessenreichen, melodieverliebten Delibes-Musik
womöglich einen reizvollen Kontrast bilden würde, das muss man an diesem lauen,
langweiligen Abend im Programmheft suchen.
Was für eine Verschwendung! Da wird also vor den grau öden,
billig aussehenden Hauswand- und Stubenkulissen Ezio Frigerios von der Truppe
mit Esprit und schön synchron getanzt, da fliegen die Volants bei den rotwangig
kussmündigen Damen, gibt es auf Franca Squarciapinos rosabunten Kostümen sogar
ein paar Folklorestickereien, die auf die einstige Stückortung in Galizien
verweisen. Ansonsten sind die Operettensoldaten fesch und die Federn am Tschako
wackeln keck. Aber das alles ist so wahnsinnig mechanisch, ohne jede Puppenweltkritik,
und dabei eskapistisch belanglos! Denn im klassischen Milieu war Petit eben
kein Großer.
Immerhin, der kurze und trotzdem öde Abend bietet zwei neuen Münchner Solisten die Gelegenheit, technische Kunststücke vorzuführen. Virna Toppi ist eine bockige und trotzdem elegante Swanilda, die sich stoisch durch Fouettés kreiselt, schön hohe Beine und lange Linien macht und auch als maßvoll groteske Puppe zumindest den Coppélius verwirrt. Und Denis Vieira, zuletzt zwei Jahre Gastsolist beim Staatsballett Berlin, gibt als Franz den Springflummi mit schönen Manegen, durchgerissenen Grand Jettés und generösen Pirouetten. Aber auch für beide gilt: hinter dem Dauerlächeln, da ist gar nichts. Wie denn auch? Bei der dürftigen Vorlage. In München macht das Ballett, von einem überalterten Publikum als Eskapismus begeistert beklatscht, weiterhin im 21. Jahrhundert die Repertoirerolle rückwärts. Einen maßvoll modernen Abend mit Stücken von Alexei Ratmanski, der angesagten Sharin Eyal und sogar einer Kreation von David Dawson verspricht die eben angebrochene Saison noch.
Am 23. Oktober Liveübertragung um 15 Uhr von „Coppélia“-Proben im Rahmen des World Ballet Day auf der Facebook-Seite des Bayerischen Staatsballetts
Viele Wege führen nach Rom. Aber nicht ganz so viele sinnmachende zu dort angesiedelten „Tosca“. Schrecklich realistisches Quälodram! Jede Puccini-Note steht für Action. Nicht ist dem Regiezufall überlassen, alles vorgegeben. 17. Juni 1800, mit Datum, Uhrzeit, historischen Ereignissen. Der heutige, selbstbewusste Inszenator muss sich da auf das Prokustesbett des Realismus festschnallen lassen – plus Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Nicht schön. Und dabei hieß es doch immer: Mit „Tosca kam die Zärtlichkeit“. So wie einst für diese heute als Oma-Duft für die Frau ab fünfzig belächelte Duftkreation aus dem Hause 4711 geworben wurde (auch Montserrat Caballé hielt den Flakon einmal auf Anzeigen hoch), mit einem Hauch von großer Opernwelt, der doch nur provinziell roch, mit vorgeblicher Allüre und Passion, so betont altmodisch macht das heute kaum einer mehr. Natürlich auch nicht Vasily Barkhatov, einer der hierzulande geypten russischen Jungregisseure, Jahrgang 1983. Der hatte Laura Berman als Operndirektorin in Basel einige Erfolge beschert. Klar, dass der jetzt auch bei ihrem Hannoveraner Intendantinnen-Start mit dabei ist. Und weil die Amerikanerin mutig mit Raritäten loslegt – nach der hervorragend gelungenen „La Juive“ folgt bald als erste Operette das gerade wieder entdeckte Paul-Abraham-Bijoux „Märchen im Grand-Hotel“ – muss es dazwischen was Populäres sein. Deshalb halt „Tosca“. Aber bitte nicht populistisch!
Fotos: Karl und Monika Forster
Barkhatov hat viel Gehirnschmalz eingebracht, das
praktisch-knappe „Tosca“-Libretto umzumodeln. Und zwei Akte, wenn auch mit
Verbiegungen, funktioniert das. Seine Lesart, nennen wir sie heutig modisch
Narrativ: In einem nicht festgelegten Schurkenstaat, wo man aber immer noch
italienisch heißt, ist Scarpia ein machtvoller Prälat, der mit der Polizei
paktiert und alles darf. Sein Problem, oder seine zwei: Er wurde als Kind von
einem Priester missbraucht und lässt das hier vom Messner mit einem blonden
Kapellenknaben zumindest andeuten. Und dann liebt er Tosca als seinen Fetisch.
Die aber ihn nicht. Also benutzt er wiederum sie, Cavaradossi und Angelotti
(wovon Tosca aber nichts weiß), um sich von ihr bei einer versuchten
Vergewaltigung abstechen zu lassen. Er selbst ist zwar brutal, erkennt aber
seine Schuld, kann die freilich selbst nicht rächen. Tosca wird also zum Mörderinnenwerkzeug.
Das ist natürlich noch mehr Kitsch und Kolportage, als sie schon Giacosa & Ilica aufgeboten haben. Sei es drum, handwerklich bekommt Barkhatov mit seinen willigen Mitspielern das durchaus in den Griff. Auch weil ihm Zinovy Margolin eine praktikabel vielseitige Einheitsbühne gebaut hat. Die zeigt zunächst, es gibt ein stummes Vorspiel mit Videosprechblasen zum besseren Verständnis, Scarpias heutig eingerichtetes, zweigeteiltes Arbeitszimmer, wo auf dem Flachbildschirm Wahlprognosen laufen – statt des Kriegs gegen die Franzosen. Gerade gewinnt Partei Napoleon. Das aber ist sekundär, denn vorne bedroht Scarpia mit Spolettas Hilfe Angelotti und seine (Statisten-)Schwester, als Gegenleistung für ihr Leben bei dem Komplott mitzutun.
Bald aber fährt der flache Raum hoch, und offenbart dahinter
eine Art Kreuzgang in nüchternem Grau – Ersatz für San’Andrea della Valle –, in
dem der zum Herrgottsschnitzer mutierte Maler Cavaradossi an einer großen Krippe werkelt, während hinten
auf einer Tribüne die Vorbereitungen zu einem Weihnachtssingen (dem späteren Te
Deum) laufen. „Merry Christmas“, steht da, was eher in eine zeitgeistig
aufgepimpte „Bohème“ passen würde. Zum ersten Finale kommt das Zimmer wieder
halb runter, und wir sehen Scarpia von dort oben singend in Nebengelass
wollüstig in Tosca-Fanartikeln wühlen.
Der zweite Akt läuft weitgehend so ab wie immer. Tosca gibt
ihr Konzert unten im Krippenarrangement, Angelotti und Cavaradossi werden oben nochmals
auf ihre Rollen eingeschworen, schreien muss der Schnitzer im Nebenzimmer. Kurz
bevor Scarpia sich Tosca krallt, zieht er ihr seine Soutane an – er nimmt also
eigentlich seinen ehemaligen Peiniger von hinten. Dann aber wird es krude. In
seinem ehemaligen Schulranzen hat der Böse vorher Tosca eine DVD gepackt, die wirft
sie jetzt in den Player und sieht zum Vorspiel vom römischen Morgen mit Herdenglocken
bimmelndem Hirtenjungen die Beichte Scarpias, und der kleine Sänger muss dessen
frühkindlichen Missbrauch nochmals rekapitulieren. Auf eine Engelsburg geht es
nie, Tosca, immer noch in Scarpias Rock, halluziniert sich alles nur in Vor- und
Rückblenden. Zwischendurch ist Scarpia wieder lebendig, singt den Schließer,
während die Theaterdiva mit ihrem Lover quasi die Rolle durchgeht.
Da wird umständlich viel Licht an- wie ausgemacht, und man versteht
gar nix mehr. Am Ende jedenfalls liegt da statt des toten Cavaradossi der tote
Scarpia und die umnachtete Tosca („O Scarpia, avanti a Dio!“), die das
Arbeitszimmer nie verlassen hat, umarmt ihn vor den herannahenden Spirren. Die
anderen haben überlebt, Cavaradossi, der seine Existenz über die Liebe gestellt
hat, hat sie verraten und präsentiert nun seine Krippe.
Naja. Das kommt nur deshalb einigermaßen ins Ziel, weil alle Beteiligten sehr überzeugend mittun. Vor allem der hier vielfach geforderte Scarpia von Seth Carico. Auch diesmal hat sich Laura Berman aus dem Ensemble der Deutschen Oper Berlin bedient. Doch hätte man von dem zu blonden Bestie aufgehellten Bassbariton im Muskelshirt mehr Volumen und dunklere Farben erwartet. Er ist ein erste Annäherung, andere Rollen legen ihm besser. Ohne Fehl und Tenortadel: der schlanke, schmucke, sich schön in die Höhe schraubende Cavaradossi von Rodrigo Porras Garulo. Liene Kinca singt die Tosca ebenfalls putzsauber, ihr fehlt aber vor allem vokal Beteiligtsein, innere Erregung, echte Leidenschaft. Und das gerade in dieser schrägen Inszenierung.
Die auch nicht dadurch gewinnt, dass Kevin John Edusei zwar ohrschmeichelnde Töne dirigiert, vieles feinausziseliert, aber den billigen Kintopp und die Moritatengrellheit der Partitur unterschlägt, weil mit einem Art dirigentischen Bleifuß behaftet oft viel zu langsam bleibt. Und so geht nicht nur die Dramatik flöten, weil man gar nicht mehr weiß, wie Vasiliy Barkhatov aus seinem Gedankenkonstrukt herauskommen will. Da hätte man gern mehr Attacke, Vollfettes, kreischige Farben erlebt. Einen Saftschinken eben statt Pâté.
Sonst zieht sich für die Tosca die Scarpia-Schraube tödlich zu, diesmal verrennt sich der Regisseur. Ist zwar leidlich spannend, war aber eben nur am Ende wenig sinnfälliges Theater. Und womöglich den Versuch wert. Nur um zu sehen, das Puccini das schon ziemlich gut gemeistert hat. Und wir warten mal, was Vasily Barkhatov im nächsten Mai einfallen wird, wenn er mit und für seine Frau Asmik Grigorian am Theater an der Wien „Norma“ inszeniert.
Eigentlich sollte das die dringend fällige Amerika-Tournee für das Gewandhausorchester Leipzig werden. Denn seit Februar 2018 ist Andris Nelsons nicht nur faktisch, sondern auch praktisch der 21. Gewandhauskapellmeister. Das muss natürlich auch in der Welt hergezeigt werden. Europa, Asien – abgehakt, aber die New Yorker Carnegie Hall war nicht frei. Und die muss als Herzstück jedes Renommier-US-Trips schon sein. Also machte Gewandhausdirektor Andreas Schulz aus der Tourneenot eine Joint-Venture-Tugend. Schließlich hat man ja, man teilt sich den Chefdirigenten, seit ebendessen Vertragslaufzeit eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit mit dem Boston Symphony Orchestra eingetütet. Alumni werden ausgetauscht, die aus Leipzig haben sogar immer Tanglewood-Glück, denn auf dem Sommerfestival-Gelände des BSO in den Berkshires wird seit jeher Nachwuchsförderung großgeschrieben. Zwei Musiker der jeweiligen Orchester spielen pro Jahr drei Monate beim anderen Klangkörper mit, eben läuft der dritte Austausch mit einer Ersten Violine und einer Zweiten Flöte. Man vergibt transatlantische Kompositionsaufträge, sieben bisher, drei davon wurden bereits uraufgeführt, und teilt sich die Kosten. Man veranstaltet Symposien über die jeweils andere und auch gemeinsame Orchestergeschichte – die altehrwürdige, für ihre warme Akustik berühmte Boston Symphony Hall wurde zumindest von außen und räumlich dem Zweiten, im letzten Weltkrieg untergegangenen Leipziger Gewandhaus nachempfunden. Und nicht nur der erste Bostoner Chefdirigent Georg Henschel hatte Leipziger Wurzeln. Zudem gibt es regelmäßig eine Leipzig Week in Boston und eine Boston-Woche Leipzig. Und während die Amerikaner schon zweimal komplett in Sachsen gastierten, sind jetzt die Sachsen dran: Nach ein paar europäischen Tourstationen (Wien, Lugano, Stuttgart) geht es via Zürich und Frankfurt direkt nach Massachusetts.
Nicht ganz: die Maschine aus Frankfurt legt erst noch eine unfreiwillige Zwischenlandung in Kefalivk, dem internationalen Flughafen von Island ein. Denn eine im siebten Monat Schwangere hat plötzlich Wehen, und da das Kind in Steißlage festsitzt, kann auch der zum ungewöhnlichen Gynäkologen-Ersatzeinsatz kommende Leipziger Orchesterarzt nicht helfen. Nach einer Rolle rückwärts (Richtung Shannon oder Dublin) wird es dann doch die kürzere 90-Grand-Abiege zu den heißen Quellen und Vulkanen. Das Wetter auf dem kahlen Felsenstück, das die meisten nun als ersten und einzigen Island-Eindruck aus den Flugzeugfenstern zu sehen bekommen, ist einigermaßen heiter. Die Dame ist bald von Bord, sie bekommt nun einem kleinen Isländer statt einen Amerikaner, und nach zwei Stunden Aufenthalt geht es dann doch unverzüglich nach Boston.
Dort ist es jetzt schon Abend, und bis 103 Orchestermitglieder sowie 23 weitere Mitreisende ausgeladen, in Buse verpackt und im Hotel abgeladen sind, langt es gerade noch für eine schnelle Suppe in praktischerweise direkt gegenüber vom Hotel liegenden Prudential Center. Dann locken auch schon die um sechs Stunden nach hinten verlegten Bettfedern.
Der freie Orchestertag ist wie gemalt. Indian Summer vom Feinsten. Und Boston wartet mit kolonialen Resten, wunderbar stilvollen Wohnvierteln wie Beacon Hill oder Charlestown im vollen Halloween-Schmuck und einer herrlichen Spätnachmittagsherbstsonnen-Szenerie entlang der von vielen Spaziergängern (in New England gibt es die!) belebten Promenade am Charles River.
Dort kreuzen die Segelboote, die Menschen sitzen an Piers und schauen auf die Denk- und Krankenhaustürme von Harvard, und dann ist vielleicht noch ein wenig Kampfshopping in der hippen Newbury Street mit ihren 19.-Jahrhundert-Sandsteinhäusern angesagt.
Fotos: Stev Wackerhagen (2)
Gut, dass gleich auch die obligatorische Fußballbegegnung der beiden Orchestermannschaften, nennen wir sie Leipziger Klangbremse gegen Boston Sound Socks, angesetzt ist: die natürlich 6:1 für die Pleiße-People ausgeht.
Und abends, einige nimmermüde Leipziger Musiker sind mit dabei, gibt es auch noch ein Konzert des Boston Symphony Orchestra, mit einem alles anderen als konventionellen Programm. Die Finnin Susanna Mälkki, in Nordamerika äußerst angesehen, hat Französisches um die US-Erstaufführung von Dieter Ammanns The Piano Concerto arrangiert. Und so säuselt sich samtseidig erst Faurés Pavane durch den immer wieder schönen Saal als Mischung aus Gipsothek und Goldstuckausstellung.
Warm und weich ist der Klang, die kistenartige Orchesternische, in der (eigentlich ohne jeden Backstage-Bereich) auch noch die Orgel klebt, reflektiert direkt, aber ausgewogen. Nach der Pause gibt es zwei kurze, strahlend gestoßene „Alleluja“-Fanfaren von Messiaen aus dessen „L’ascension“ sowie ein fein flutendes, harmonisch sich wellendes Debussy-„La Mer“ in all seiner dreiteilig gischtenden Klangwogenwucht.
Das halbstündige, von einem wachen, prima altersgemischten und vorbildlich diversen Publikum mit Standing Ovations auch für einen gerührten Komponisten bedachte Klavierkonzert mit „The“ und dem Klammertitel „Gran Toccata“ erweist sich als ein echter Tastentreiber. Nicht umsonst hieß schon Ammanns Debütstück „Notorisch motorisch“. Da wird angeschlagen, was es das Zeug hält, fast sinfonisch verschwindet in dem einsätzigen, über 30-minütigem Opus das Soloinstrument in einem sich aufbäumenden, rasselnden, klappernden, ständig im Fluss sich befindenden Orchestersatz. Das ist oft perkussiv maschinenhaft (die beiden Schlagzeuger spielen nur im weißen Hemd), aber von einer hellen, durchaus heiter angejazzten Grundbefindlichkeit.
Das erfordert viel Höraufmerksamkeit, es ist spürbar schwer zu spielen, lohnt aber total den Aufwand. Andreas Haefliger agiert mit lässiger Souveränität, fein abgestimmten Farben und als generös wacher Virtuose. Dank eines Kompositionsauftrags, an dem viele Institutionen beteiligt sind, wird das absolut hörenswerte Stück nach der Uraufführung bei den London Proms unter Sakari Oramu, Taipeh und Boston schon bald in Helsinki, bei den Münchner Philharmonikern, in Wien und Luzern zu hören sein.
Nächster Tag: das Sonnenglück ist Regenrauschen und vor allem Sturmsausen gewichen; das Wetter hat total umgeschlagen. Egal, heute wird gearbeitet. Das erste von zwei Tourneeprogrammen steht für den Nachmittag an. Zur Anspielprobe in der nur ein paar Minuten vom Hotel und hinter der Christian Science-Tempelkirche entfernten Symphony Hall zeigt sich dann auch wieder ein entspannt und gelassen wirkender Andris Nelsons, mit dem Künstlerischen Direktor der Bostoner, der die sächsischen Gäste begrüßt. Manager Mark Volpe ist hingegen schon auf einem Fundraiser Event.
Kurz und professionell, Nelsons kennt ja den Sound, die Leipziger waren zuletzt 2014 mit Riccardo Chailly hier, werden ein paar neuralgische Schubert-Stellen angespielt, dann dürfen sich neuerlich die beiden regelmäßigen Leipziger Gastkünstler Leonidas Kavakos und Gautier Capuçon verständigen, die nach zwei Brahms-Doppelkonzerten in Leipzig nun in den USA wieder aufeinandertreffen. Vor Konzertbeginn wird es hinter den Kulissen noch enger, immerhin können Geiger und Cellist sich noch schnell über Bande klar werden, dass beide ohne Schlips auftreten.
Und so wird es dann im Saal auch eine buddy-bro-kumpelige, dabei höchst feinsinnig musikantische, auf volles Risiko gehende Brahmssterndreiviertelstunde. Mit viel Saft und Schmackes, Glut und Grandezza. Der Grieche, der Franzose, der Lette, die Sachsen mit einem Norddeutschen in New England – ein famoser Klang-Clash der Kulturen. Zugegeben wird eine Bearbeitung von Ravels Geigensonaten-Finale. Und dann stapelt es sich vor der Garderobe, Haefliger, Mälkki, Kyril Zlotnikov, der Cellist des Jerusalem Quartet, das Abends vorher in Boston eine Tour abgeschlossen hat, sie alle sind auf dem Weg zum Flughafen, wollten aber wenigstens die erste Hälfte hören.
Bis zum Schluss bleibt freilich der stets lächelnde Pate aller Cellisten, Yo-Yo Ma. Es gibt Umarmungen, Freudenschreie, Erinnerungsfotos. Und dann folgt Schuberts Große C-Dur-Sinfonie, uraufgeführt mit heftigen Kürzungen 1839 in Leipzig. Anders als Herbert Blomstedt, der sie auf seiner Jubiläumstour im Herbst 2018 dabei hatte, spielt sie Nelsons ohne die Wiederholungen, trotzdem breit dahinströmend, fett klangprächtig. Doch stets bleibt der volle Sound durchhörbar. In der Finalstretta setzt er dynamisch noch eins drauf, das spielfreudige Orchester gerät aber nie an Grenzen. Hallo Amerika, angekommen. Möge die Leipzig Week in Boston so weitergehen!
Können Musiker über dem Boden schweben? Eigentlich nicht, aber so etwas erleben auch hartgesottenen Profis selben. Zwei weltberühmte Orchester vereinen sich als transatlantische Instrumentalfreundschaft unter ihrem ebenso bekannten, gemeinsamen Chefdirigenten. Eine solche Verschmelzung ist nicht nur ungewöhnlich, sondern auch teuer, denn beide Klangkörper müssen vor Ort gehalten werden. In diesem Fall aber wird die Hälfte des Leipziger Gewandhausorchester nach vollzogenem Gesamtgastspiel heute wieder aus Boston abreisen, und die anderen 50 Prozent spielen ein sehr besonderes, ja historisches Konzert gemeinsam mit dem Boston Symphony Orchestra. „Wunderbar together“, so heißt nicht nur ein deutsch-amerikanisches Kulturjahr, von dem zumindest in Europa kaum einer was gehört hat und das jetzt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Magic Music Merger auf allerhöchstem Niveau beenden sowie gleich noch 30 Jahre Mauerfall begehen wird. Obwohl es für den DDR-Devisenbringer Gewandhausorchester auch vorher schon Westtourneen gab. „Wunderbar together“, das könnte auch über dieser Woche geschrieben stehen, die doch nicht wenige Musiker schwerlos werden und sie den Boden unter den Füßen verlieren lässt. Als bei der ersten gemeinsamen Probe in der Symphony Hall die ersten, spätromantisch schwülstig sich verschlingenden Harmonien von Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ durch den ehrwürdige Saal schwingen, zieht sich ein sonnig beseelten Lächeln über die ebenso verklärten Gesichter aller Beteiligten.
So hochmögend, fremde, bald schon vertraute Kollegen hat man eigentlich nie kollektiv nebeneinander sitzen. Auch Orchester agieren gern als Solitäre. Gerade der pure, sanft pulsierende Streicherklang strahlt vor der goldenen Umrahmung der Orchesternische wie ein Heiligenschein ab. Und mittendrin badet, nur ganz wenig nachjustieren müssend, die Musiker auf den Sitzkanten sind die Disziplin selbst – Andris Nelsons. Ebenfalls mit seinem schönsten, lettischen Honigkuchenpferdchenlächeln. Schließlich ist dieser jetzt endlich konkret wahr werdende Traum zum guten Teil seine Idee.
Denn so wird mit der dritten „Leipzig Week in Boston“ endlich in vollster, ja wirklich – das ist später im orgelumrauschend scheußlichen, aber viel Klangkrach hermachenden Festlichen Präludium von Richard Strauss zu hören – ebenmäßiger Tonschönheit des kompletten, jetzt geteilt neu zusammengesetzten Orchesters eine partiell gemeinsame Geschichte plastisch und konkret zelebriert, die wieder lebendig gemacht werden soll. Vier von sieben gemeinsam bestellten Uraufführungen wurden bereits realisiert, die diversen Austauschprogramme der beiden Elitetruppen blühen.
Schließlich stammen neben dem Gründungsdirigent Georg Henschel weitere fünf Bostoner Music Directors aus dem Gewandhausumfeld ab, zuletzt Charles Munch. Der wirkte von 1949-62 in Massachusetts und war vorher von 1926-33 Erster Gewandhauskonzertmeister. Parallel dazu will sich Leipzig touristisch weltweit neben Wien als Musikmetropole des 19. Jahrhunderts präsentieren, mit hochbedeutender Vergangenheit und heutig gelebter Tradition. Gewandhausdramaturg Tobias Niederschlag stößt deshalb aus New York dazu, wo ebendiese Kampagne präsentiert wurde. Dazu gab es eine vom Leipziger Ballett umtanzte Installation an der populären Oculus Underground Station von Santiago Calatrava im World Trade Center.
Und auch die anderen Sponsoren des aufwändigen
Klangreiseprojekts sind aktiv: Der DHL, der auch alle Instrumententransporte
organisiert, veranstaltet im dem Orchesterhotel gegenüberliegenden Prudential
Center, einer edlen Mall, einen Orchester-Flashmop mit ein paar Leipziger
Musikern und Studenten des New England Conservatory. Zwischen Pashminaschal-
und Nüsschenständen erklingt zweimal eine geschickt reduzierte „Ode an die
Freude“, sogar mit Gesang. Der DHL hat feine Werbebilder und die Einkaufenden
haben ihren mit vielen Handys festgehaltenen Musikspaß. Besser gefallen hat uns
aber der „Short Story Dispenser“ im Center, der– time is money – kostenlos mit
auf einem Papierstreifen ausgespuckten eine, drei oder fünf Minuten langen
Kurzgeschichten erfreut.
Derweilen wird ein paar hundert Meter weiter, dazwischen
liegt die neoromanische Kathedrale des Zentrums der Christian Science Church,
in der Music Hall (die wiederum ihr neoklassische Backsteinpendant in der
Bostoner Gartenbau-Gesellschaft auf der anderen Straßenseite hat) fleißig und
hochaufmerksam weitergeprobt. Längst sind auch im Vorfeld so bewegenden Details
geklärt: auf welcher Tonhöhe spielen wir (441 Hertz Boston, 443 Leipzig)? Auf
Bostoner, wegen der Orgel. Mit Podesten für die hinteren Instrumentegruppen
(die Leipziger haben ihre für die eignen Auftritte mitgebracht) oder auf dem flachen
historischen Podium? Flach, aber umso klangvoluminöser.
Nach Tagesprobenvollzug geht es zum historischen Gruppenfoto vor die Hallenfront. Rechts davon muss sich dann noch mals das GHO sepparat aufbauen – so wie damals mit Kurt Masur.
Dann lädt das BSO alle zum deutschen Dinner. Die Gastgeber offerieren Rosenkohl (heißt hier Brussel Sproud) und „Geschmortes Knochenloses Rindfleisch Kurze Rippen mit reichen Braising Säften“, also Goulasch, so die unkompliziertere Übersetzung.
Die Sachsen revanchieren sich mit „Simpley Saxony“-Karten (auch „So geht Sächsisch“ droht eine andere Kampagne), vor allem aber mit extra bedruckten Hodies, die von der Orchesterehe auf Zeit künden: „sounds like a unique story #BSOGHO“ prangt darauf. Und Andris Nelsons muss gleich den ersten (und einzigen in XXXL) probetragen. Mission acomplished!
Umso beschwingter spielt sich dann andernabends das zweite, herrlich eingeroovte GHO-Tourneeprogramm, natürlich wieder mit spezifisch Leipziger Werkschmankerln: der vom Opernchef Gustav Mahler dort komponierte und wieder eliminierte Blumine-Andante Satz aus der 1. Sinfonie mit dem honigsüßen Trompetensolo, das der gelernte Bläser Andris Nelsons gern während der Pause in seiner dann abgeschlossenen Garderobe intoniert; nur seine seit April dritte Frau darf zuhören. Gautier Capuçon, vom Orchesterphysiotherapeuten wunderbar rekreiert, spielt mit angriffslustigem Vibrato und großer Sangesfreude das Schumann-Konzert und mit der ganzen Cellogruppe eine schön singende Dvorak-Zugabe. Unter den Pausengratulanten beim hektischen Solisten, der gleich sein Zürcher Flugzeug erreichen muss, ist auch Hilary Hahn, die seit zwei Monaten sabaticalt.
Nach der Pause folgt, brütend und extrovertiert, zärtlich und expressiv, die „Holländer“-Ouvertüre des gebürtigen Leipzigers Richard Wagner, die Andris Nelsons als packendes Mini-Drama inszeniert. Und ähnlich klug gestaltet hört man dann ein anderes Signaturstück, die vom fünften Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn 1942 uraufgeführte Schottische Sinfonie. Beim rhythmusbewegten Finale maestoso klopft die Dame des bisher festumschlungen dasitzenden Nachbarpaars ihrem Mann mit Begeisterungswucht auf die Knie, und der wischt sich am Ende die Tränen aus dem Augen: „We are so happy to share Andris together“, sagt er doch tatsächlich glückhormonüberströmt zum deutschen Besucher.
Es ist vollbracht. Mit dem Boston Symphony Orchestra und dem Leipziger Gewandhausorchester, dem (neben Cleveland) am europäischsten tönenden US-Orchester und der ältesten bürgerlichen Orchestervereinigung der Welt, haben sich zwei der prestigereichsten Klangkörper der Globalklassik zum ersten Mal vereint, sind friedlich und freiwillig auf das Harmonischste tönend verschmolzen unter einem gemeinsamen Chefdirigenten: Andris Nelsons, den man sich brüderlich teilt. Was ihm und – das war so nicht unbedingt zu erwarten, auch bei beiden, sonst gern alphatiermäßig und solipsistisch den eigenen Institutionsweg gehend, zum Vorteil gereicht. Man sucht und findet Synergien, sogar eine gemeinsame, in den Sechzigerjahren auch politisch abgerissene Geschichte. „So geht sächsisch“, das wurde an diesem zwischen herrlichen Indian Summer Tagen leider regenumstäubten Abend, ganz zwanglos Klangwirklichkeit. Lange vorbereitet, nicht billig, von viel Protokoll begleitet, aber letztlich ein glorios tönendes Konzert, das lange nachhallen wird. Nicht nur in den Ohren derjenigen, die Hörzeugen wurden, auch in den Herzen der Musiker. Die schlagen hier seit drei Jahren eine transatlantische Klangbrücke. Während der auf seinem zweiten Amerika-Besuch weilende deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über solch freundliche politischen Verbindungen bei Besuch des denkwürdigen Konzertes nur noch in der Vergangenheitsform sprechen mag und wieder einmal die einende Macht der Musik als Utopie einer auch bilateral besseren Welt beschwören muss.
Handeln wir erst einmal das Offizielle an. So vieles, Datum- und Sonstwiesymbolisches gab und gibt es rund um dieses sehr besonderes Orchester-Tête-à-Tête zu bedenken. Da ist das immer stärker drohende Beethoven-Jahr des 250. Geburtstags, das der DHL sich auf die Sponsorenflagge gemalt hat. Und da man zugleich Transportpartner des Gewandhausorchesters ist, hat man nicht nur eine Wanderausstellung ins schräg an der Huntington Avenue der Symphony Hall gegenüberliegende New England Conservatory verfrachtet, sondern auch noch gleich ein Beethoven-Panel angesetzt, bei dem BSO-Manager Mark Volpe und Gewandhausdirektor Andreas Schulz einander Lorbeerkränze winden; zudem Malte Boecker, der Bonner Beethovenhaus-Chef und zugleich Kopf der unter Schmerzen geborenen BTHVN2020-Jubiläumsgesellschaft sowie eine Abgesandte vom kooperierenden Streamingdienst Idagio diskutieren.
„So geht Sächsisch“ vermeldet auch in Massachusetts die heimatliche Touristik-Imagekampagne. Was gar nicht nötig gewesen wäre. Denn Sachen (und Sachsen-Anhalt) sind auch in Boston gerade an den Kulturleuchttürmen erstaunlich präsent. Von die 16 Gipsstatuen, die innen die Symphony Hall auch aus akustischen Gründen säumen, sind zwei Originalen aus den Dresdner Sammlungen nachempfunden, als berühmtester von sechs Chefdirigenten vor Nelsons wirkte auch Arthur Nikisch als Gewandhauskapellmeister in Boston. Im Museum of Fine Arts stapelt sich das Porzellan made in Meissen, im Isabella Stewart Gardener Museum gibt es diverse mittelalterliche Schnitzaltäre. Und in deren venezianischem Innenhof nimmt – als Kunstinstallation einer Japanerin – alle paar Minuten eine Sängerin einen Besucher an die Hand und intoniert für ihn, und alle anderen Anwesenden, ein Schumann-Lied. In den Kunstmuseum von Harvard schließlich finden sich viele berühmte sächsische Emigranten, Feininger, die Dresdner Brücke-Maler, Gropius samt Bauhaus-Crew, der am nahen Institute of Design unterrichtete.
Frank-Walter Steinmeier feiert zudem in Boston den Abschluss des Deutsch-Amerikanischem Kulturjahres, das wohl dringend nötig war, auch wenn da zu Hause kaum registriert wurde. Drei Goetheinstitute wurden renoviert, er eröffnete das in Boston neu. Rund 20 Millionen Euro haben Auswärtiges Amt und Goethes in diesem Jahr für „Wunderbar together“ ausgegeben, das Geld floss in 2000 Veranstaltungen in den ganzen USA, rund 1,3 Millionen Menschen wurden erreicht. Und die 30. Wiederkehr des Berliner Mauerfalls war auch noch zu begehen, auch dank amerikanischen Zuspruchs. Bei dieser Erwähnung erbebte die Symphony Hall infolge beifälligen Zuspruchs. Und hinterher gab es Okoberfestbier & Pretzels für alle.
Steinmeier freilich blieb in der vergleichsweise bescheidenen – da hinten ist es historisch und platzbeschränkt – Herrenumkleide des Orchesters, in der sich jetzt auch die Damen versammeln, um noch etwas anderes zu feiern: Halloween. Das Lob über die glücklich vollbrachte Hochkultur mischt sich mit Teufelsclownfratzen, blinkenden Pumkins, Scheren im Kopf, Walkürenhelmen und Hexenhüten. Der Schweiß perlt auf den Security-Stirnen. Aber alles bleibt friedlich. Auch Andris Nelsons, Bier und Brezen zusprechend, mischt sich, sichtlich befriedigt, unter die Party-People.
Recht hat er, denn es war ein wirklich schönes Konzert. Dem, der Austausch der beiden Orchester vollzieht sich ja vor allem im Kleinen, schon die Schwärmerei der Musiker vorausgegangen ist, die schon bei den anderen Orchestern gespielt haben. Konzertmeisterin Elita Kang erzählt begeistert vom Leipziger Weihnachtsoratorium neben dem Bach-Grab und den Opernerfahrungen. Ihr Bratschenkollege Danny Kim schwärmt vom Bier und der Gewandhauskantine, die ihm die Zunge gelöst habe. Manfred Ludwig, zweite Flöte, kriegt sich gar nicht mehr ein über die aktuell beste Zeit seines Musikerlebens in Boston, die fokussierten Proben, die Wohnung nur drei Minuten von Symphony Hall. Und Veronika Starke, erste Geige, freut sich schon auf die Boston Pops-Erfahrung zur Weihnachtszeit. Alle würden es sofort wiederholen und verlängern, erzählen von den sie beneidenden Kollegen anderer amerikanischer Orchester und den langen Wartelisten auf beiden Ozeanseiten.
Tags zuvor war Andris Nelsons in seinem plüschigen Dirigentenzimmer zwischen Kopfkissen und Paddington Bear-Polstern bereits ganz eitle Freude. Man spürte, wie sehr ihm an dieser Allianz gelegt ist, wie sehr davon profitieren und seine Musiker teilhaben möchte: „Das ist so viel mehr als nur musizieren, an Interpretationen feilen, oft gehörte Werke neu aufsetzen. Die Menschen, die hier ungewöhnliche, gemeinsame Erfahrungen machen, ich eingeschlossen, wir musizieren hinterher anders, frischer. Wir erfinden uns nicht neu, aber wir hinterfragen unsere Routine, schauen aus einem anderen Blickwinkel auf Stücke wie Arbeitsweisen.“
Und wirklich, die beiden Orchester haben, anders als
erwartbar, aus dem geteilten Dirigenten einen Vorteil gemacht; auch weil dieser
die Entwicklung vorangetrieben hat, „ich habe dies sehr schnell als Chance
begriffen. Da sind zwei Arme, einer in Sachsen, einer in Massachusetts, die
dirigieren einerseits ein Festival mit Tanglewood, anderseits auch, hoffentlich
bald, szenische Oper. Und der Kopf, der begibt sich zm Entspannen nach Riga.“
„Wunderbar together“, so laufen bereits ganz harmonisch die
Proben für das historischen Konzert ab. Man hat an nichts gespart, um ein
Programm zu finden, dass keine ausgepichte Brahms- oder Beethoven-Exegese nötig
macht, das gleichermaßen Klangpracht und Konzentration vermittelt. Und den
Hauch des Extravaganten nicht vergessen lässt. Dabei passen sich die Leipziger
problemlos den Bostoner Gegebenheiten an. Man spielt aus deren Notenkladden in
amerikanischer Aufstellung und ohne Podeste. Müssen doch dem vorverlegten
Podium sowieso drei Zuschauerreihen geopfert werden, damit am Ende – inklusive
der Fernbläser in den Türen – 130 Musiker Platz finden. Eine Gewandhausorchesterhälfte
ist trotzdem schon wieder zu Hause. Doch auch für sie war diese fünf Konzerte
in sechs Tagen Aufenthalt, wenngleich nur zur Hälfte genossen, unvergesslich.
Die andere aber hat, zusammen mit den Bostoner Mitmusikern, als Merger de luxe ihren Spaß. Für die 15 lauten Eröffnungsminuten des alle und alles wachrüttelnden Festlichen Präludiums von Richard Strauss wurde eigens Notre-Dame-Organist Olivier Latry eingeflogen. Denn der hat gerade nicht nur etwas mehr Zeit als sonst, sondern auch enge Beziehungen zu Leipzig wie Boston. Außerdem ist der Leipziger Kollegen in ein Festival zum Reformationstag eingespannt. Vorsorglich wurden backstage Ohrpfropfen bereitgehalten. Doch man macht sehr manierlich Lärm, das bleibt man sich kultiviert schuldig.
Ein Fest ist auch die halbe Stunde selten gehörter Haydn, der in dessen B-Dur-Sinfonia concertante für Geige, Cello, Oboe und Fagott nicht nur ein wiederum um die Hälfte reduziertes Orchester erfordert, sondern auch gleich vier Prinzipale der beide Kapellen aufbietet: Aus Leipzig die Streicher Frank-Michael Erben und Christian Giger, aus Boston John Ferrillo und Richard Svoboda. Auch wenn Nelsons das ein wenig altväterlich vollsatt musizieren lässt. Man erlebt hochmögend eloquente Konversation der silbrig versatilen, virtuos sinnfälligen Art.
Ein ähnlich feingeistiges, wach zuhörendes Miteinander ist beim auf siebzig Streicher aufgestockten ursprünglichen Sextett „Verklärte Nacht“ zu konstatieren. Der schreibende Kollege vom „Boston Globe“ merkt zudem an, wie sehr hier die sonst oberkörpersteifen Bostoner Streicher mit ihren Leipziger Kollegen mitschwingen. Auch wenn es schwer fällt, und die Klangsemantik gerade der Streicher bei beiden Orchestern höchst unterschiedlich ist, man musiziert so unisono wie möglich; die Orchesterfassung dieser urwienerischen Fin-de-Siècle-gefühlvollen, jugendstilrankig sich verschlingenden Schönberg-Pièce hatte einst übrigens Arthur Nikisch in Auftrag gegeben. Und in Boston klingt das vollsatt, aber mattgolden von Schuld, Reue, Leidenschaft.
Schließlich, jetzt wird es wieder laut: ähnlich Jahrhundertwende-Hypertrophes als sportiven Klangkulturbeweis des Orchester-Get-Togehters – Alexander Skrjabins Le Poème de l’Extase. Das steigert sich in der Tat langsam. Aber unvermeidlich zum Fortrfortissmino. Die vielgerühmte Akustik der Symphony Hall besteht den Extremtest, nie wird es gellend oder knallig. Zwei Orchester, eine Lust an der Entladung. Uff, geschafft! Die Glückgefühle schaffen sich Bahn.
In Boston plant man schon längst weiter. Die entsprechenden Komitees und Verantwortlichen haben getagt und sich besprochen. Klar ist im Grunde auch schon die Vertragsverlängerung Andris Nelsons’ bei beiden Orchestern, auch seine Agenten sind angereist. Da schauen die Opernhäuser, die sich Hoffnung auf ihn machten, vermutlich durch die Perspektivröhre.
Und konkrete Projekte gibt es auch schon. Im Mai 2022 werden beide Orchester mit Andris Nelsons parallel Europa bereisen. Leipzig, Wien, Paris, London und die Hamburger Elbphilharmonie stehen auf der Agenda, sämtliche Strauss-Orchesterwerke stehen auf dem Programm. Getreulich aufgeteilt wird man sie bis dahin auch, nach Bruckner aus Leipzig, Schostakowitsch aus Boston und Beethoven aus Wien, mit Nelsons eingespielt haben. Und das Festliche Präludium wurde als gemeinsames Zuckerl jetzt schon in Boston festgehalten. Nun muss nur noch Zeit und Geld gefunden werden, dass das BSO für eine Residency und das nächste, höchst zeichenhafte Zusammenspiel auch mal an die Pleiße kommt. Ja, so geht sächsisch!
In Boston aber wird am nächsten Tag zum neuerlichen, aber verkürzten Orchesterzusammenspiel die große Sponsorengala gefeiert. Mit deutschem Schokoladenkuchen. Als Dessert. Und die Tischdekoration? 100 Jahre Bauhaus natürlich.
Der Weltuntergang fand nicht statt. Obwohl er sich bereits vor der Dresdner Semperoper breitmachte. Im Hauptportal lagen blutige Leichen, ein Transparent verkündete das Ende der Welt. Ein „Fridays for Future“-Happening am Sonntag im Kulturtempel? Nein, soweit und so konsequent zeitgenössisch geht es dann doch nicht zu in Calixto Bieitos Inszenierung des „Großen Makabren“. Der, der Prophet der Apokalypse namens Nekrotzar, macht als Titelheld von György Ligeti erstmals in Sachsen seine Aufwartung – 41 Jahre nach der schwedischen Uraufführung der Anti-Anti-Oper. Vier Jahrzehnte, das ist eine lange Zeit für eine einstiges Protest-Musiktheater, das angesichts der damaligen Atomangst den Bürger mit einer schrillen Satire schrecken wollte. Doch heute muss der Chor im damit schon mal gefüllten zweiten Rang selbst die scheinbar empörten Buhrufer mimen, die sich über 12 Autohupen als Ouvertüre echauffieren. Die Avantgarde ist alt geworden – und kulinarisch. Dodekaphonie als Delikatesse. Unter dem souveränen Omer Meir Wellber klingt die Staatskapelle superedel und schön, selbst wenn sie sich schrill durch die Musikgeschichte zitiert, das Cello schräg zirpt oder Sirenen gellen.
Fotos: Ludwig Olah
Und das wüste, verdorbene, seinem Ende entgegeneilende Breugelland, wo man dem Sex und der Völlerei in allen Spielarten frönt, das ist in diesem „Le Grand Macabre“ kein barockes Wimmelbild und kein trashiger Gewaltcomic, sondern eine sehr aufgeräumt nüchternes Kunst-Arrangement. Zunächst einmal scheint es schon museal, zwei Arbeiter mit Handschuhen halten per Video Gustave Courbets schamloses Gemälde vom „Ursprung der Welt“ hoch – dem weiblichen Schoß. Rebecca Ringst hat dahinter eine Art stählernen Pfad entworfen, der sich in mehreren Windungen und auf vielen Stützen aus der rechten Portalecke herabschlängelt. Der kann sich auch mal drehen, darüber leuchten die Sternlein. Und ein weißer Fesselballon hängt herab. Auf den werden Spiegeleier und Hintern, die Welt und eine Discokugel projiziert. Alles ganz manierlich.
So wie auch die gar nicht frivolen Spiele, die man an der Rampe vollzieht. Markus Marquardts gemütvoller Nekrotzar scheint ein Couchgenießer im Schlaflook. Sein versoffener Kamerad Piet vom Fass wird von Gerhard Siegel als harmloser Süffelbruder mit Tröte gesungen. Amando und Amanda, das sind ganz allerliebst Katerina von Bennigsen und Annelie Sophie Müller als verliebtes Mädchenpaar im Zwillingslook. Was sie da mit ihren Kinderspieleimerchen anstellen, ist aber freilich kaum jugendfrei. Noch weniger die raffinieren Rollen-Ehespiele zwischen Iris Vermillion als sadistischer Mescalina und Frode Olsen als masochistischem Astradamors. Wunderbar würdevoll abgeklärt wählen die zwischen „Spieß oder Kuss“.
Bieito zieht hier dem Dresdner Wutbürger im braunen Mäntelchen kinky die Hosen unter. Und der countertenorvergluckste Machthaber Christopher Ainslie als Prinz Go-Go beschmiert sich am liebsten mit brauner Frühstücksschokocreme aus dem Magnumglas. Das wär’s dann aber schon mit heutigen Begleitumständen. Während die Chefin der Geheimpolizei, Hila Baggio stichelt virtuos Koloratur, eine Büroschickse mit Burnout scheint, die plötzlich blutige Hände hat.
Auch in der Ligeti-Oper findet der Weltuntergang nicht statt, man macht heiter weiter. Selten aber geschah das so nett und vergnügt, so seriös, dabei singdarstellerisch exzellent wie jetzt an der Semperoper. Aber viel zu abgeklärt märchenhaft für einen großen Makabren.
Seit dem so konfus gedachten wie hässlich anzusehenden, dabei höchst unlustig inszenierte Bayreuther „Tannhäuser“ weißt die Opernerfolgskurve von Sebastian Baumgarten entschieden nach unten. Nur in der Schweiz hofiert man ihn noch. Zum Spielzeitauftakt gleich doppelt. Nach Nonos alt gewordenem Antikapitalismusspektakel, das der Regisseur eben in Basel einigermaßen aufgemischt hat, folgte am Opernhaus Zürich gleich danach das wegen seiner vergleichsweise kraftvollen Handlungsstruktur regelmäßig auf der Bühne auftauchende Händel-Oratorium „Belshazzar“. Für Baumgarten natürlich Anlass, beim biblischen Krieg zwischen den Babyloniern und den Persern, bei dem die vom König Belshazzar entführten und gefangengehaltenen Juden am Ende die lachenden Dritten sind, mal wieder kräftig mit geopolitischen Versatzstücken zu hantieren. Die sind ein wenig grob gezimmert, immerhin hält er sich weitgehend an die von Charles Jennens vorgegebene, ohne viel Überschreibungen auskommende Libretto-Handlung. Auch wenn am Ende die Israeliten auf dem Weg zurück nach Jerusalem auf der menetekelnden Videowand von einer klimakrisenbedingten Naturkatastrophe in die nächste schlittern.
Fotos: Herwig Prammer
Babylon ist bei Baumgarten eher Babylwood, so bunt und trashig geht das auf Barbara Steiners Bühne zu. Die Perser kommen mit Persianer-Papacha und in Leder als Uniformfetischisten: An ihrer Spitze der kommende Countertenorstar Jakub Jozef Orlinski. Er singt seinen Cyrus mit Schneid und bisweilen angriffslustig blitzender Schärfe, ein operettenhafter Soldat, der zum Höhepunkt auf einem vier Meter langen, mit Kopf und Schwanz wackelndem Puma als Bilderbuchmacho posieren darf. Doch er hat auch schmachtend flirrende, introvertierte Töne übrig, bis er mit den Juden hinternwackelnd ins Finale marschiert.
Was also gibt’s sonst Neues, Pussy? Wenig im Baumgarten-Fundus.
Die Juden haben neongrüne Siebenarmleuchter nebst Idolen ihrer jüngere Geistesgeschichte
auf den T-Shirts und jammern meistens, was er Chor aber sehr gut vollführt. Die
Perser könnten in ihrem bunten Folklorekleidern und mit ihren hippieesken
Psychedelic-Götzen auch gleich in der nächsten „Hair“-Inszenierung Verwendung
finden. Hinten begrenzt eine schwarzglänzende Mauer als Palast wie
Verteidigungswall die Bühne. Doch keine gotteszornige Flammenschrift erscheint
an der Wand, nur ein zeitgemäßes Tattoo auf Belshazzars linkem Arm.
Den hier eher beherrschten Tyrannen singt Mauro Peter mit monochromem Tenor. Dafür gibt es ein Rollo, kreischig wie eine Kinoreklame, eine hässlich orientalische Stadt und Gefechte, Palmen und Rembrandts turbanbehüteten Belshazzar zeigend. Dahinter offenbart sich betonbrutal und stacheldrahtbekrönt so was wie der israelische Schutzzaun zu den Palästinensergebieten. Passt ja fast irgendwie immer.
Das Unbehagen als echten Weltgeschehen im historischen Theaterspiel, irgendwie mag dieser Kurzschluss mal wieder nicht funktionieren. Auch wenn einmal mehr ein Kamerateam mit Fellmikro herumwuselt und Scheinwerfer rumgeschoben werden im sowieso ziemlich durcheinanderpurzelnden Geschehen. Oder ist alles mal wieder nur Theater? Zumindest Prophet Daniel (die sehr brave, zurückhaltende Tuva Semmingsen) befragt immer wieder so eine Art in grün gebundenes Drehbuch, aus dem sich der göttliche Ratschlag aber auch nicht erschließt.
An einem Stadtmodell wird mit viel Nebel und Beleuchtungseffekten
herumgedoktert. Und wir von den Persern zwecks Stadteinnahme der Euphrat
umgeleitet, dann wabern ebenfalls die Schwaden; dazwischen aber singen possierlich
schlammige Wassergespielen. Manches in die falsche Richtung verschossenes Geckhafte
ist eben schon unfreiwillig regietheaterkomisch.
Dem setzt Laurence Cummings an der Spitze der hausbewährten Alte-Musiktruppe La Scintilla einen kraftvoll zupackenden, gar derben, dann aber auch wieder zwitscherfeinen, aber immer robusten Händel-Klang entgegen, forsch bewegt er sich voran. Vokal irrlichtern dazwischen noch die zartfühlende, koloraturenhelle Layla Claire als Belshazzar-Mama Nitocris im schrillen Cleopatra-Look, die – selbst Jüdin geworden – vergeblich zwischen den Völker und Religionen vermitteln will sowie der nette, bassgemütliche Gobrias von Evan Hughes. Ein konfuse Unternehmen. Aber musikalisch hört man gern zu.
Es ist knusperkalt in Chicago. Soll es auch sein, schließlich hat die Metropole einen Ruf nicht nur als schönste Großstadt Amerikas zu verteidigen. Sondern auch als windy city. Das tut sie nun genau an meinem Anreisetag zum Chicago Symphony Orchestra mit Eisregen und Schnee. 600 Flüge werden gestrichen, einer Maschine, die über die Landebahn hinausschlittert. Nach 7 Stunden unfreiwilligen Wartens geht es mit der letzten Maschine von Newark nach Illinois. Dort ist es früher Winter mit minus elf Grad, aber jetzt nur noch Eis und keinem Wind mehr. Wisconsin Käsebällchen und Asia-Huhn-Salat bis nachts um zwei Uhr offeriert zum Glück noch die Kultkneipe Miller’s gleich neben dem Palmer House, ebenfalls eine Hotellegende im Loop, der von der Hochbahn umfahrenen Innenstadt. Die riesige Beherbergungskiste ist 13 Tage nach der Eröffnung dem Great Chicago Fire von 1876 zum Opfer gefallen. Das heute dritte Gebäude aus der Art-Deco-Zeit, das nach einer Mäzenin benannt wurde, die viele der tollen Impressionisten im nahen Art Institute stiftete, bietet mit seiner einer freskierten Renaissance-Halle ähnelnden Lobby eine der meistfrequentierten Business Bars. Und die Symphony Hall ist gleich unter der so pittoresken Bahntrasse durch um die Ecke.
Schön, mal wieder da zu sein; 2004 war das letztes Mal. Seither ist Daniel Barenboim 2006 beim Chicago Symphony Orchestra abgegangen, nach einer Interimszeit unter Bernard Haitink und Pierre Boulez als dem Orchester schon lang verbundenen festen Größen, trat 2010 als zehnte Musikdirektor Riccardo Muti an. Der hatte hier schon ganz früher viel dirigiert, bevor er sich auf das Philadelphia Orchestra konzentrierte. Dann umwarb ihn parallel das New York Philharmonic, aber er entschied sich nach einem kurzen, heftigen Flirt als Neufrischverliebter für die Damen und Herren am Lake Michigan.
Was nicht verwundert. Noch immer – und gegenwärtig ganz
besonders – ist das CSO in seiner nunmehr 129. Spielzeit eines der besten und
berühmtesten Orchester der USA, ach was: der Welt. Und in der Stadt ist man
sowieso unangefochten. Und das liegt, ganz klar, auch an Riccardo Muti, der
seither viele neue Musiker engagiert hat, der hier aufblüht, an seinem
einzigen, konzentrierten Job bei einem Profiklangkörper.
Ja, die Passage zur Symphony Hall ist für Seitenreinkommer sehr praktisch, wenn es kalt ist, trotz jetzt strahlenden Sonnenscheins und knallblauen Himmels am nächsten Morgen. Zumal das soeben frisch neueröffnete Restaurant „Opus“ danebenliegt. Die Besucher, die hier Karten kaufen gehen oder nur abkürzen, nehmen es gelassen, dafür sind sie in einem halben Jahr wieder froh über die milden Sommer, wenn vom See eine feine Brise über den Millenium Park bis in die Michigan Avenue weht. Dort steht seit 1904 das Symphony Center, nicht nur Herz, sondern auch Seele der Klassikkultur der Metropole von Illinois. 1997 hat man es akustisch aufgemöbelt und erweitert. Und heute ist es ein Schmuckstück im Loop, einer der schönsten Agglomerationen Amerikas.
Mit 2,7 Millionen Einwohnern ist Chicago nicht klein, aber
auch nicht groß. Genau richtig. Doch im Vergleich mit deutschen Großstädten ist
das Klassikangebot bescheiden. Fast bescheiden nimmt sich auch – im US-Vergleich
– Symphony Hall aus – mit 2.225 Plätzen, die theaterähnlich über einen Balkon
und Rang verteilt sind, während die muschelartige Bühne der in der Carnegie
Hall ähnelt. Cremefarbe herrscht vor, auch im Foyer, dem Grainger Ballroom, der
gewinnbringend für Hochzeiten vermietet wird. Gleich gegenüber erhebt sich das
Art Institute of Chicago mit seiner hinreißenden Sammlung.
Man ist hier nahe dran und weich in Klang gebettet. Selbst
wenn die Bläsergruppe loslegt. Was etwas heißen will. Denn sie ist sogar so
legendär, dass der Kulturreporter der „New York Times“ gerade an einer
Geschichte über sie recherchiert. Wenn ihm nicht der Kältesturz einen Strich
durch die Schreibrechnung macht. Muti hat tolle Arbeit geleistet und dem CSO einen
kultivierten, zarten, sogar verletzlichen Klang geben. Der aber auch die
berühmten Bläser loslegen lässt, wenn sie sollen.
Das eine ist dann abends zu hören in einen feinsinnig
ausbalancierten deutschen Programm mit Wagners „Holländer“-Ouvertüre, dem
Brahms-Doppelkonzert, das den zweiten Soloinstrumentalisten an Geige und Cello
zur Ehre gerät sowie einer schönen Rheinischen von Schumann; das andere hat
seine Stunden etwa am Ende der „Pini di Roma“ Respighis oder in der
farbenprächtigen „Romeo und Julia“-Ballettmusik, die in den Proben zu erleben
sind. Das Shakespeare-Ballett ist dann auch dabei, wenn man am 9. Januar in der
Kölner Philharmonie mit einem kompletten Prokofiew-Programm auftritt. Die
nächste Europa-Tournee wird das CSO dann zudem zu einer Residency nach Wien (11.-14.),
nach Luxemburg (16.), Paris, Neapel, Florenz, Mailand und Lugano führen.
Der erste CSO-Musikdirektor Theodore Thomas wirkte von 1891
bis 1905; danach kam von 1905-42 eine lange Phase unter Friedrich August Stock,
1905. Kürzere Perioden unter Désiré Defauw (1943–47), Artur Rodziński (1947–48)
und Rafael Kubelík (1950–53) folgten. Erst der präzisionsbesessene, gefürchtete
Fritz Reiner etablierte den Weltruf des CSO zwischen 1953 und 1963. Seine
Aufnahmen sind Legende, eben bekam er im Foyer eine Büste.
Nach Jean Martinon (1963–69) übernahm Georg Solti, der bis
1991 an die Glanzzeiten Reiners anknüpfen konnte, wenn auch mit einem anderen,
schneidigeren Stil. 1991 wurde Daniel Barenboim als Nachfolger gewählt. Er
bekleidete sein Amt bis zum Ende der Saison 2005/06, dirigierte viel deutsches
Repertoire.
Das CSO hat aber für Chicago noch weitreichendere Bedeutung.
Die Musiker bestreiten im Sommer das in einem Vorort gelegene, unabhängig
operierende Ravinia Festival. Und unter dem Schirm der CSO-Organisation
existiert seit 100 Jahren auch das Chicago Civic Orchestra, das als Alumni- und
Nachwuchstruppe für die große Schwester fungiert und seit genauso langer Zeit
auch die erste Serie überhaupt mit speziellen Kinderkonzerten veranstaltet. Und
das CSO ist in der Region auch der wichtigste Veranstalter, der in der eigenen
Halle Klassikkonzerte mit den berühmten Namen aus aller Welt abhält.
Eine bedeutende Organisation also. Die letztes Saison mal
wieder einen der Schlagzeilen machenden Arbeitskämpfe mit Aussperrungen und
leerem Saal ausfocht. Ihre insgesamt gesunden Finanzen hat das zum Glück kaum
beeinträchtigt. Jetzt ist mit Musikern und Gewerkschaften wieder alles
ausgehandelt. Intendant Jeff Alexander gibt sich sehr gelassen. Man stehe, sehr
gesund da, freilich arbeitet man daran, durch eine Extra-Spendenkampagne das,
wie überall bei den US-Kulturinstitutionen, durch die jüngsten Börsenschwankungen
geschrumpfte Kapital wieder aufzustocken.
Auch Riccardo Muti schaut gelassen und abgeklärt in die Zukunft. Viele neue Musiker hat er engagiert, gerade läuft ein Zyklus aller Beethoven-Sinfonien zum 250. Geburtstag. Mit Missy Mazzoli als Gastkomponistin arbeitet gegenwärtig auch eine der angesagtesten Klassikkünstlerinnen Amerikas. Und man hat im Winter eine angenehme Residency in Florida.
In den Proben ist er aufgeräumt, entspannt, immer zu
Scherzen und Imitationen aufgelegt, Nicht einmal eine Digitaluhr sieht man,
sonst das wichtigstes Gewerkschaftsinstrument auf allen amerikanischen
Orchesterpodien. Proben werden auf die Sekunde genau beendet, egal wieviel
Musikminuten noch zu spielen wären. Riccardo Muti ist aber schon vorher
zufrieden und fertig. Und das, nachdem die Celli in „Romeo und Julia“ immer
neue Farben aufgezogen haben, die hohen Geigen in Julias Giftszene fies
klirrten. Auch mit dem ersten Satz von George Bizets eigentlich nie gespielter „Roma“-Sinfonie
ist er zufrieden: „Ich konnte den Tiber riechen.“ Es gefällt auch den drei
österreichischen Ehrengästen im sonst leeren Auditorium. Sehr.
Nachmittags ist kurzes Sightseeing. In der Kälte geht es
kurz über die Magnificent Mile, den Einkaufsabschnitt der Michigan Avenue.
Viele neue Glashochhäuser erheben sich am Chicago River, auch ein weitere,
hässlicher, fett beschrifteter Trump Tower. Auch hier bläht sich die
Immobilienblase, sogar die „Chicago Tribune“ hat ihren neogotischen Turm
verkauft, der jetzt für Luxusappartements entkernt wird. Das Art Institute, wo
eine große Andy-Warhol-Retrospektive läuft, hat in der Zwischenzeit einen
Contempory Wing von Renzo Piano bekommen, der die Kunst schön mit der eleganten
Skyline korrespondieren lässt.
Neu ist für mich auch der lange erst nach der Jahrtausendwende
fertiggestellte Millenium Park mit seinen von reichen Spendern bezahlten
Bauwerken und Skulpturen. Im verschneiten Zentrum, der nach den Hyatt-Hotelerben
Pritzker (die praktischerweise auch den Architekturpreis stiften) benannte
Pavillon von Frank Gehry: Doch die im Sommer vielbespielte Open Air Bühne gähnt
jetzt silbrig und winterweiß.
Im abendlichen Konzert, es ist das dritte der Serie, ist es fast ausverkauft, das Publikum etwas jünger, viele treue Abonnenten stehen in der Pause zusammen. Das Orchester hat einen dichten Wochenplan. Neben den regulären Konzerten stehen Wiederauffrischungsproben von früheren, in der Saison absolvierten Programmen, für die beiden Auftritte in der New Yorker Carnegie Hall – immer noch der Prestigeplatz für alle amerikanischen Orchester (und nicht nur für diese) schlechthin. Am nächsten Morgen ist sogar kurz Joyce DiDonato von New York eingeflogen. Sie singt in dem reizvoll mit Rom-Themen spielenden ersten Konzert Berlioz’ Rom-Kantate „La mort de Cleopâtre“. Man verständigt sich mit halber Stimme, versichert sich seiner Übereinstimmung.
Umso mehr Energie ist da für Ottorino Respighis unverwüstliche „Pini di Roma“, wo man wieder mal hört, wieviel John Williams von ihm geklaut hat. Das CSO gefällt sich in den raffinierten Effekten, den sämigen Melodien, und bleibt doch immer geschmackvoll. Selbst die Blechgewitter (mit 13 Extra-Bläsern von beiden Seitenbalkonen) werden nie knallig, der Klang schwingt nie aus dem Fokus. Und vorher, bei der Morgenstimmung auf dem Gianicolo, gab es nicht nur eine edel lasierte Soloklarinette, sondern gleich ein ganzes elektronisches Nachtigallenkonzert.
Beim Espresso in seiner Kellersuite, man kann sie Little
Italy nennen, mit italienischer Assistentin, italienischem Fahrer, Caffè und
Cantucci und vielen Erinnerungen an der Wand, zeigt Muti seine Rahmungen her.
Das erste Chicago-Programm von seinem verehrten Lehrer Antonino Votto samt der
(positiven!) Rezension der damals gefürchteten Claudia Cassady, die sogar die Callas
in die Kritikerinnen-Pfanne haute, hängt da. Und Bilder von ihm mit der Queen,
dem Tenno Akihito, mit Boulez sowie einer Widmung „The Greatest“) von Muhammad
Ali. Und eine kuriose Partiturseite aus dem Archiv des New York Philharmonic:
Beethovens 7. Sinfonie mit Änderungen von Gustav Mahler, die ein erboster
Toscanini zurückgenommen hat. Samt einem anonymen Kommentator, der sich über
beide lustig macht….
Trotzdem, Riccardo Muti hat gerade angekündigt, das er nach
zweimaliger Verlängerung zum Ende der Saison 2021/22 als Musikchef abtreten
wird: „Ich will nicht im Sarg aus dem Konzertsaal getragen werden. Ich bin dann
80 Jahre alt, möchte nur noch Spaß und keine Verantwortungen mehr haben, mich
noch mehr auf Nachwuchsförderung konzentrieren. Denn ich muss mein Wissen
weitergeben. Aber mit diesem Orchester meine Chefpositionen zu beenden, das ist
fein. Ich werde gern zurückkommen, so wie auch zu meine geliebten Wiener
Philharmonikern, die ich seit bald 50 Jahren dirigiere, und zum
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, zu dem ich ja auch eine
langjährige, sehr gute Beziehung habe.“
So wäre also auch das geklärt. Jedes Konzert, auch auf Tournee, wird ab jetzt noch wertvoller. Ich aber mache noch einen Abstecher zur in einem riesigen Art-Deco-Hochhaus am Wacker-Drive gelegene Lyric Opera of Chicago. Die nahm nach diversen Pleiten erst 1954 ihren regulären Betrieb auf. Maria Callas machte immerhin den Anfang. Es regierten hier zwei starke Frauen Carol Fox und Ardis Krainik. Seit 2011 führt Anthony Freud das Haus mit viel Geschick. Stars gibt es immer noch die Menge, heute rührten Patrica Racette und Susan Graham in Jake Heggies Mördermelodram „Dead Man Walking“.
Gegenwärtig kommt die zweite „Ring“-Produktion überhaupt in
Chicago heraus, zum Ende der Saison füllt Freud seine 3.563 Plätze im
nobelgoldenen Art-Deco-Auditorium zusätzlich mit über 126.000 Musical-Besuchern.
Und er bekommt nun auch noch mit dem Joffrey Ballet eine weltberühmte, aber
lokale Institution als Mieter dazu. Nach 20 Jahren wird Musikdirektor Andre
Davies an Enrique Mazzola übergeben. Man streitet gern, ob die Lyric Opera of
Chicago nach oder vor San Francisco das zweitgrößte Opernhaus der Vereinigten
Staaten ist, Sitzemäßig auf jeden Fall. Und die sind gut ausgelastet. Aber auch
mit seinem Mosaiken an die Hagia Sophia gemahnende Auditorium Theatre, mit
seinem 3.875 Plätzen bisher Heimstatt des Joffrey, ist nicht ohne.
Da wird der Abend klein gehalten, mit einem Essen beim Armenier,
und einem gemütlichen Klarinettenquartett-Konzertset in einem stimmungsvoll
modernen Jazzclub in Seenähe. Morgen geht es nach New York auf Tournee. Und da
ist es wärmer!
Herrlich. New York empfängt mit Sonne und angenehm herbstlichen Temperaturen. Und mit Riccardo Muti, der brav im selben Flieger wie sein Orchester sitzt und das Chicago Symphony am Newark Airport spaßeshalber als Ein-Mann-Empfangs-Komitee mit einem CSO-Schild am Gate weiterleitet. Manche Musiker sind freilich schon früher angekommen, denn auch im Big Apple sind die Koryphäen aus der Windy City als Lehrer gefragt. Im Central Park schlägt hingegen wieder die Stunde der Hunde-Sitter. So viele neurotische Vierbeiner sieht man selten auf einem verstrahlt bellenden Haufen. New York, das ist immer auch Musical-Zeit. Denn der Abend ist frei und die uralter Met-„Bohème“ nicht wirklich lockend. Eine gute Wahl war „Hadestown“, der diesjährige Tony-Abräumer mit acht Preisen, darunter für bestes Stück, Partitur und Regie. Eigentlich ein kleines, durchaus zeitgeistiges Ding, das wunderbar in das intime Walter Kerr Theatre passt. Anaïs Mitchell hat das Buch, die Verse und die Musik geschrieben: Eine moderne Version des Orpheus-Mythos, angesiedelt während der großen Depression, düster, brechtisch, in einem Einheitskneipenset, das sich in eine Fabrik verwandeln kann – eben in die unterirdische Industriezone Hadestown. Hier herrscht Hades, seine Frau Proserpina bringt immerhin ab und an Blümchen nach oben. Die sechs Musiker, die eigenartig-anziehende Popfolkklänge produzieren, sitzen mitten im Bühnenbild.
Eurydice ist eine ortlose Göre, Orpheus ein
Gelegenheitsarbeiter mit Musikambition. Hermes, ein Typ wie Sporting Life,
erzählt das Geschehen. Unterstützt wird er von drei sexy Nornen, den three
Fates. Dann hat das großartige multiethnische Ensemble lediglich noch fünf
Chortänzer. Was jetzt leicht, witzig und schräg wirkt, die ungewöhnlich jungen
Besucher sofort packt, hat freilich die leider längst Broadway-üblich komplexe
Vorgeschichte. Uraufgeführt 2008 in Vermont, wurde daraus 2010 ein Concept
Album. 2012 stieß die jetzige Regisseurin Rachel Chavkin dazu, die „Natasha, Pierre
& the Great Comet of 1812“ inszeniert hatte, die ebenfalls schräge, halb im
Zuschauraum als Nachtclub angesiedelte Adaption von Tolstois „Krieg und Frieden“.
2016 gab es einen kurzen Off-Broadway-Lauf, danach Inszenierungen in Kanada und
London, bevor „Hadestown“ im März endlich in New York startete. Und inzwischen
ihr Investorengeld eingespielt hat. Denn es ist originell, talentvoll und
musikalisch glorios, „a love song /f or anyone who tries“, wie es darin heißt.
Am nächsten Morgen ist Generalprobe in der Carnegie Hall, alle spielen auf der Stuhlkante, denn dieses so schön tönende Podium, der wunderbar luftig helle Raum, ist eben immer noch ein ganz besonderer Auftrittsort. Bei der Bläsertruppe, der Soloposaunist ist 80 Jahre alt, man spielt auf den Instrumenten der Vorgänger, alle Hörner kaufen ihre Instrumente bei der gleichen Manufaktur in Chicago, kommt der Corpsgeist durch, aber auf wunderbar souveräne, gelassen selbstbewusste Art. Aufmerkam registrieren sie, wie Muti mit dem neuen, ausdrucksstarken Soloferntrompeter Esteban Batallán im Katakomben-Teil der „Pini di Roma“ ein wenig herum experimentiert.
Auch lässt er die gern etwas amerikanisch emotional übertreibende Joyce DiDonato noch nicht wirklich aussingen. Alle sind wach, aber schonen sich, die Maschine läuft sich warm, aber noch nicht auf vollen Touren. Erstaunlich, wie viele Leute schon als Proben-Spiecker im Saal sind. Und eine Enttäuschung: Weil die „Pini“ selbst so eine gewaltige Marsch-Apotheose haben, gibt es keine Zugabe. Dabei hätte man so gern das von Muti veredelte „Fedora“-Intermezzo aus dem Giordano-Schluchzer gehört.
Die einen ruhen sich anschließend aus, die anderen erkunden die Neuerungen in der Nähe: das vergrößerte Museum of Modern Art, das jetzt mit seiner Überfülle an Inkunabeln noch mehr einschüchtert, auch noch mehr ernüchtert durch seine allzu neutralen, verwinkelten Räume. Diversity ist die neue Parole, die thematische Hängung interessant, mit vielen Künstlerinnen, die aus ihrem Depotdasein erlöst wurden. Ein wenig nerven die diversen, meist ziemlich banalen Performances, die die Kuratoren als immersives Must in den Parcours geschoben haben. Immer noch einen Wucht sind die Ausblicke (für Schwindelfreie) von en Glasbrücken in die mehrstöckige Agora und nach draußen, in den Skulpturengarten, hinter dem sich alle Baustile des 20. und 21. Jahrhunderts zu klumpen scheinen.
Gemischte Gefühle auch beim neuen Touristen-Hotspot Hudson Yards über dem ehemaligen Güterbahnhof hinter der Pennsylvania-Station an der 35th Street, nur zwei Subway-Stationen downtown. Noch mehr glitzernde Investorentürme, die Manhattan von seinen normalen Bewohnen entvölkern. Ein austauschbares Shopping Center mit überteuerten Coffee Shops. Hinter dessen Panoramascheibe als weiteres Selfie-Lockmittel The Vessel lockt, eine hässliche, als Skulptur getarnte Treppe im Wabenlook.
Für die man Zeittickets ziehen und eine Stunde warten soll. „That’s
the policy“ erklärt das unterbezahlte Personal. „Not mine“, antworte ich und
schaue mir die Reflektionen des zugegeben intensivroten Sonnenuntergangs über
den Hudson auf der Spiegelstruktur auch so und ohne weiteren Aufenthalt an.
Nebenan wartet The Shed, das neue, poshe Kulturzentrum mit dem fahrbaren Konzertsaal samt schlechter Akustik. Ein Loch ist der Eingang, kein Plakat, keine Flyer locken. Das Personal sieht abweisend aus. Keiner geht hinein. Und dahinter zieht sich die High Line bis zum Meat Packing District. Eine populäre im Sommer von Touristen überrannte Stadtverschönerungsmaßnahme, die leider nur die Gentrifizierung brutalst vorangedrückt hat. Dann lieber wieder zurück auf einen Kaffee in die Penn Station. Da herrscht das wahre, jetzt sehr geschäftige New Yorker Pendlerleben. Laut, aber ehrlich, hektisch, aber echt.
Abends endlich Konzert. Die Carnegie Hall brummt. Und ist dann mehrheitlich sehr erstaunt über die Kraft, die Schön und Sensibilität, mit der der junge George Bizet in seiner „Roma“-Sinfonie Stadtendrücke schlüssig in die vier Sätze einer musikalischen Großform gegossen hat. Riccardo Muti ist in seinem Element, präzise, gespannt, aber auch das Orchester, etwa das einleitende auf einem Atem fast Unisono spielenden Hornensemble, ruhig atmend von der Leine zu lassen. Ein feines Einspielstück, das fast niemand im Saal je gehört hatte.
CSO-Gründer Theodore Thomas hat es 1894 in Chicago erstmals
gespielt, in der Carnegie Hall erklang es zum ersten Mal 1911 unter Gustav
Mahler. Die Stimmung ist gut. Auch bei den zwei anderen, für New York neuen
Ersten Solisten William Welter (Oboe) und David Cooper (Horn). Letzter spielte
vorher freilich im Met Orchester.
Nach der Pause wird die Stimmung noch besser mit Joyce DiDonato, einer in New York natürlich populären Amerikanerin. Ihr Auftritt mit „La Mort de Cléopâtre“ ist der Beginn ihres Perspektives-Serie in der Halle, ein paar Tage später ist sie mit Yannick Nézet-Séguin und seinem kanadischen Hausorchester samt Mozart-Arien wieder da; damit zieht sie weiter nach Chicago. Und Anfang des Jahres kommt sie als Händels Agrippina wieder an die Met. Sehr klug terminiert das – und schon bei ihren europäischen Konzert-Auftritten in der Händel-Oper (nach denen die CD eingespielt wurde, szenisch hat sie Dame dann in London im Herbst erprobt) trug sie sie gleiche, wohlmöglich selbstgebatikte Robe – ihr Kaiserinnenkleid, egal ob Alexandria oder Rom. Sie singt die Szene mit dramatischer Allüre und Grandezza, Muti folgt mit Temperament, harschen Akkorden, holt emotional alles raus aus diesen dicht aufgeladenen Tragödinnenminuten bis hin zum finalen Schlagenbiss. Die Chicago-Musiker, inzwischen durch jährliche konzertante Aufführungen wieder opernerfahren, reagieren schnell und kraftvoll.
Sein effektvolles Finale erlebt das mit für New York langen,
ehrlich begeisterten Beifallssalven aufgenommene Konzert mit Respighis immer
funktionierender Trilogie. Doch Muti ist bei den „Pini di Roma“ jedes Detail
der vorzüglichen Orchestrierung wichtig, die zart lasierte, ineinander
verfließende Stimmungsmalerei, insbesondere die butterzarte Klarinette des
jungen Stephen Williamson, die das Nachtigallen-Tschilpen antizipiert, genauso
wie die martialischen Akkorde des Finales. Die Solisten brillieren in warmen
Glanz, die Tutti wölben sich, aber explodieren nicht. Da hat einer Spaß an der
Feinmalerei und am großen Alfresco-Geschehen. Und er beherrscht vor allem souverän
beide Spielarten. Das Nehmen und Geben in diesen äußert gesunden
Orchesterorganismus ist mit den Händen zu greifen, mit den Ohren zu genießen
sowieso.
Schade, dass ich den drauf sicher glorios aufbauenden, jetzt mit einer besonders motivierten Truppe zu absolvierenden All-Prokofiew-Folgeabend nicht hören kann. Abgesehen von den orchestralen Herausforderungen eine kluge Zusammenstellung zweier Bühnenwerke in Konzertform, der auf dem „Feurigen Engel“ beruhenden 3. Sinfonie und der selbst zusammengestellten „Romeo und Julia“-Musik. Dafür gibt es, auch New York wurde kälte, aber sonniger, noch zwei Akte „Le Nozze di Figaro“-Wiederaufnahme am frühen Nachmittag in der Met. Antonello Manacorda gibt ein frisches, sprühendes Hausdebüt, gut platziert zwischen altmeisterlichem Schwelgen, so wie es das Orchester kennt, und vorantreibender, historisch informierten, plastisch akzentuierter Spielpraxis. Das klingt schön, ein jugendliches Ensemble hat seinen Spaß; aus dem die ebenfalls erstmals hier zu hörende Gaëlle Arquez als erotisch vibranter Cherubino herausragt.
Zur Pause aber steht das Taxi nach Newark bereit. New York, CSO, es ist wieder mal schön gewesen. Möge die Europa-Tournee Anfang Januar nur kommen!