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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Brugs Beste 2019 – ein CD-Adventskalender: XVII. Mit unbekanntem Offenbach im Walzertakt durch das Operettenmeer tauchen

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Eine der großen CD-Überraschungen des nicht wirklich ergiebigen Jacques-Offenbach-Jahrs zum 200. Geburtstag: Die Ersteinspielung einer halbstündigen Ballettmusik aus der Zweitfassung seines ersten großen Operettenerfolgs „Orpheus in der Unterwelt“. In „Neptuns Königreich“ tanzen freilich nicht nur die Fische. Denn 1874 peppte der clevere Unternehmer Offenbach seine Orphée-Erstling auf. Alles musste opulenter, länger, glamouröser und oft auch ein wenig nackter werden. Ganze Revuebilder dienten nur dazu, Ausstattungsaufwand und möglichst viel unbedecktes Tänzerinnenfleisch vorzuführen. Also durfte in der jetzt fünfaktigen „Orpheus“-Version Euridice mit Jupiter zu Neptun reisen. Hinterher verwertete der pragmatische Offenbach daraus einige Melodien noch einmal – wie etwa ein feines Hörnersolo als Thema in „Le Voyage de la Lune“. Später mutierte das von fremder Hand zur berühmten „Spiegelarie“ des Dapertutto, die in „Hoffmanns Erzählungen“ integriert wurde. Statt Neptun im feuchten Unterwasserreich schwingt dabei sehr gekonnt Howard Griffiths am Pult des Deutschen Symphonie-Orchester Berlin das Zepter respektive den Stab. Dieses feuchtfröhliche Offenbach-Divertissement ist ein schwungvoller Strauß mitreisender Tänze, voll Varianz, Eleganz und Einfallsreichtum. Da wedeln die Fische, scharwenzeln die Oktopusse und trippeln die Hummer. Das ist spritzig, blubbert und schlägt schönste Melodiewellen. Klarinetten schimmern, Flöten funkeln, Geigen oszillieren. Es galoppiert in Formation und baut sich zum lebenden Klangbild auf. Und einen weitausufernden, ozeanisch-satten Walzer gibt es natürlich auch. Nur Esther Williams fehlt als geschmeidige Hollywood-Wassernixe.

Jacques Offenbach: Le Royaume de Neptune. Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, Howard Griffiths (cpo)

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Theaterspielen als Tröstung: Lydia Steier und Demis Volpi machen am Genfer Grand Théâtre Rameaus Divertissement „Les indes galants“ gegenwartsrelevant

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Die Repertoireoper des Herbstes 2019? Vielleicht „Les Indes galantes“. Weil diese opéra-ballet von 1735 aus der klugen, feinsinnigen Feder Jean-Philippe Rameaus natürlich gar keine ist, eher selten gespielt wird – wenn auch mit steigender Tendenz. Und weil sie innerhalb von zweieinhalb Monaten gleich zweimal von denselben, großartigen Musikern aufgeführt wurde: von Leonardo García Alarcón am Pult seiner mal erweiterten, mal reduzierten Cappella Mediterranea. An der Pariser Opéra Bastille wurde der unverbundene Vierakter plus Prolog, zuletzt 1999 als knatschbunte Revue gezeigt, zu einem mitreißend zeitgenössischen Fest des Lebens. Das Paris heißt. Der bildende Künstler und Filmregisseur Clément Cogitore scherte sich nicht um Türken und Perser, Inkas und Indianer, die hier als exotische Plaissanterie die absolutistische Hofgesellschaft des 18. Jahrhunderts  unterhalten sollten. Er zeigte – natürlich äußerst kunstvoll stilisierte – Vignetten aus eine multikulturelle Metropole des 21. Jahrhundert namens Paris. Und die Musik rauschte auf, hatte Flow, klang festlich und groß. Ganz anders und dabei nicht weniger interessant wird am Genfer Grand Théâtre mit dem Stück umgegangen. In der Stadt des Humanismus wie des Geldes, wo Hilfsorganisationen und Großfinanz koexistieren, durchaus auch zum gegenseitigen Nutzen. Hierhin kehren Alarcón und die Seinen zum wiederholten Mal zurück. Und hier sind paritätisch als Inszenierungsteam die amerikanische, in Deutschland lebende Opernregisseurin Lydia Steier und der ebenfalls in Deutschland aufgewachsene argentinische Choreograf Demis Volpi am Start.

Fotos: Magali Dougados

Auch wenn das, die divergierenden Opernteile verbindende Konzept von ihr ist: Krieg, ein halbzerstörtes Theater als Zufluchts- wie Symbolort. Darin haben sich die Kunstschaffenden geflüchtet, kapseln sich spielend, vor allem aber wie in einer letzten Orgie liebend von der Realität ab. In deren Atmosphäre sie freilich ein brutaler Soldatentrupp aus dem Satyricon-Eskapismus jäh zurückholt. Sie werden unterdrückt, gequält, die anderen sind die stärkeren. Doch als die Außenwelt deren Einsatz fordert, geht im Theater das Spiel der Illusion weiter, um dann die traumatisieren Krieger am Ende tröstlich in die Arme zu schließen. Kann die Kunst gewinnen? Sicher nicht. Aber gemeinsam kann sie das Leben besser gestalten. Deshalb rauchen hier alle, nicht nur die „Sauvages“, die Wilden des letzten Divertissements, zu Rameaus meditativ repetitiven Hitklängen die Friedenspfeife. Wenigstens musikalisch wird es utopisch.

Wirklich neu ist diese szenische Klammer als Spiel mit Schein und Sein, Theater und Wirklichkeit natürlich nicht, aber sie macht Sinn, wird schön und schwelgerisch und scharf genutzt. Heike Scheele hat sich für ihr pittoresk angeschlagenes Theater, von dem ein halbes Logenrund und die Bühne zu sehen sind, in kleinen Details vom Genfer Theater inspirieren lassen. Liebevoll sind Medaillons, Lüster, Karyatiden aus der Belle-Epoque-Architektur integriert. Das sehr tanzlastige persische Divertissement „Les fleurs“ wird von einem großen, neoklassisch-modernistischen, raffiniert hebungsverschlungenen Pas de Deux vor der fein nachgemalten Prunkfoyerdecke mit Apollons Kunsttriumph als Zwischenvorhang eröffnet.

So wie auch schon zu Anfang der Tanz regierte, der dann erst durch den Auftritt der Jugendgöttin Hebé (mit sinnlicher Sopranpracht: Kristina Mkhitaryan) unterbrochen wurde; brutaler aber vom Offizier Bellone (angemessen raustimmig: Renato Dolcini). Amour (Roberta Mameli) beschwert sich, wird aber gleich verletzt und ausgeschaltet. Und so beginnt ein Spiel im Spiel, mit den Resten des Theaterfundus, die noch da sind. Liebeständelei soll von der bitteren Realität ablenken.

So lassen sich die harmlosen ethnisch inkorrekten Amouren des Textdichters Louis Fuzelier bestens einbauen, und man kann zwischen den komischen Türken, Inkas, Persern und Indianern („Indes“ meint hier einfach alles Exotische) einige Insider-Jokes platzieren. Etwa ein paar „Entführung aus dem Serail“-Requisitenkisten; steht doch Mozarts Oper als Nächstes in Genf an, und garantiert nicht mit solchen Pappbäuchen, Gummibrüsten und Monsterturbanen, wie sie Katharina Schlipf entworfen hat. Die jetzt umso grotesker wirken zwischen der behaupteten blutigen Realität. Die die Soldaten abzieht, weil es draußen wieder geschützedonnert; passend zu den musikalischen Erdbeben und Vulkanen des Südamerika-Teils, bei dem auch Leonardo García Alarcón ordentlich klanglich aufdreht.

Insgesamt aber geht es in Genf musikalisch intimer, zarter, leiser zu: Vorteil des kleineren, konzentrierten Raums. Wunderbar wechseln im Graben die Klangfarben, bei fast 50 Instrumentalisten nützt Rameau eine breite Palette. Als weitere, schnell wechselnde Charaktere in verschiedenen Kostümen sind auch Claire de Sévigné, Amina Edris, Gianluca Buratto, Anicio Zorzi Giustiniani, François Lis und Cyril Auvity mit edlem Stimmmaterial diverse Wilde, doch fast immer auch nicht singend beachtlich präsent. So wie zwischen Solisten, Tänzern und Chor kaum ein Unterschied besteht, das darstellerische Festpersonal stark gefordert ist.

Ungemein dicht, vielfältig und überraschend ist das erzählt. Subtil mit den Mitten des armen Theaters spielend, eine bisweilen fellinihafte Opulenz nur mit Fantatie und Effekten behaupten, wo fast gar nichts ist. Die wiederkommenden Soldaten müssen nun von den im Theater Verbliebenen Thespisjüngern gepäppelt und moralisch wiederaufgerichtet werden. Wozu sich Musik vorzüglich eignet. Ganz ungezwungen hat das musikalische Fülle und Stringenz, auch weil geschickt umgestellt, gekürzt und umverteilt wurde; trotzdem dauern auch diese „Les indes galantes“ fast dreieinhalb Stunden. Von denen keine Minute langweilig ist, belebt vom Genie Rameaus und einer klugen Adaption barocker Befindlichkeit in unsere weit rationaleren, aber sich ebenfalls wegduckenden Welt. Könnten wir nicht alle ein wenig Aufklärung gebrauchen?

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Brugs Beste 2019: XVIII. Mit John Nelson den wahren Berlioz in „La Damnation de Faust“ aufspüren

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„Faust“ ist schwer! Selbst der heftig romantisch aufwallende Hector Berlioz ist nie glücklich geworden mit seinem Opernzwitter, den er sich 1846 nach der seine Landsleute viel mehr begeisternden Goethe-Übersetzung von Gerard de Nerval zusammengeschustert hatte. Finanziell zerbrach er daran. Erst 1893 wurde die als Oratorium angesehene „La Damnation de Faust“ an der unter ihrem legendären Direktor Raoul Gunsbourg wagenmutigen Opéra de Monte Carlo szenisch uraufgeführt. Seither ist diese „dramatische Legende“ in sieben Bildern immer beliebter geworden. Berlioz lässt dabei seinen Zickzack-Sprünge schlagenden Handlungsfluss durch wie Stolpersteine wirkende Intermezzi und Tanzeinlangen elliptisch ins Stocken kommen. Kurkonzert-Inkunabel ist höchstens der Ungarische Marsch. Der gegenwärtig besten Berlioz-Experte John Nelson aber entfaltet alle Klangmagie dieses in verblüffenden Tableauxwelten erzählten Geschehen als ein Kaleidoskop fantasmagorisch irrlichternder Tonbilder. Davon profitiert der Méphistophélès, den Nicolas Courjal mit wohltönender Stimme gibt, auch mit Exaltation und den Mut zum Grellen, Verführerischen: Teuflischen Noten dämonisch schön gesungen. Der urmusikalische Amerikaner Michael Spyres ist einmal mehr in einer auf ihn klangzugeschnittenen Partie als Faust zu erleben, punktet mit seiner baritonal wohligen Mittellage und weiß doch die Klippen dieser heikel hochliegenden Partie geschickt zu umschiffen. Spitzentöne schallen klar, er ist ein Meister der so spezifisch französischen voix mixte. Während stückbedingt der Brandner von Alexandre Duhamel Randfigur bleiben muss, kann sich im zweiten Teil Joyce DiDonato als dunkel mezzowarmglühende, zarte Marguerite angemessen weiblichen Raum schaffen. Natürlich wird ihre vom Englischhorn begleitete Arie „D’Amour l’ardante flamme“ zu einem Höhepunkt der Einspielung, bei der jede Vokalnuance sitzt. Die meisterliche, wenn auch exzentrische Partitur als Fülle mitreißender Musikmomente, mal leise, mal extrovertiert. Und großartig tönend entfaltet vom Orchestre Philharmonique de Strasbourg, dem Coro Gulbenkian und Les Petits Chanteurs de Strasbourg. Nach dem Sinn in der Geschichte darf man nicht fragen, wenn Sylphen tanzen, Hexen meckern. Studenten Kanons leiern, es am Ende christlich wird. Dieses Werk, in dem es kaum um den Sinnsucher Faust, eher um den Romantiker geht, der am Ennui du Siècle leidet, bleibt Flickenteppich. Einer der schönsten im Opernrepertoire. Und nach der grandiosen „Les Troyens“-Einspielung derselben Truppe eines der schönsten CD-Jubiläumsgeschenke zum 150. Todestag des Komponisten.

Hector Berlioz: La Damnation de Faust. Michael Spyres, Nicolas Cujal , Joyce DiDonato Alexandre Duhamel, Orchestre Philharmonique, Coro Gulbenkian, Les Petits Chanteurs de Strasbourg, John Nelson (Erato)

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Brugs Beste 2019 – ein CD-Adventskalender: XIX. Mit Andrè Schuen Liszt-Lieder frisch und schön erobern

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Der junge Südtiroler Bariton Andrè Schuen ist von Anfang an seiner sich schön, aber nicht überhetzt entwickelnden Karriere immer zweigleisig gefahren: Lied und Konzert waren ihm, der der ladinischen Sprachminorität angehört, immer gleichwichtig; das Lied aber besonders teurer. Man merkt das seiner natürlichen Annäherung an, die doch auf höchster Kunstfertigkeit beruht. Nur so ist es möglich, dass die schweren, nachdenklichen Stücke  Franz Liszts nach Petrarca-Sonetten so liedhaft schlank und doch mit einer knorrigen Vehemenz seiner Kehle entströmen. Manchmal macht der 35-Jährige fast zu viel Druck, denn die Stimme hat auch so aufhorchend lassende Autorität, kann dunkel und schwer klingen, dann wieder lyrisch, ja verführerisch-erotisch. Was dieser gern zu trocken genommenen, kontemplativ in eine strenge Form gepressten Musik sehr gut tut. Eigenwillig sind die stellenweise kehligen Phrasen, auch das Italienischen hat einen ganz besonders weichen Einschlag. So hört man gebannt zu, auch weil sein Klavierpartner Daniel Heide ganz eng an ihm dran ist, auf einem Atem mitphrasiert. Der hält sich angenehm im Hintergrund, darf aber – kluge  Mischform – dann gleich noch einmal mit sanft frischer Attitüde die fast noch berühmtere Klavierfassung der drei Sonette 47, 104 und 123 vortragen. Und weil diese CD der Start einer bisher noch nicht vorliegenden Gesamtaufnahme aller Liszt-Lieder ist, die unter Heides Leitung entsteht, folgt zudem die Zweitfassung der neuerlich souverän servierten Liedversionen, die Liszt Jahre später komponierte, weil ihn Dichter und Sujet nicht losließen. Ein spannender Editionsanfang als Blick in die Werkstatt – der Hörlust auf mehr macht.

Franz Liszt: Petraca Sonette 47, 104, 123. Andre Schuen, Daniel Heide (CAvi)

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Brugs Beste 2019 – ein CD-Adventskalender: XX. Mit Jan Lisiecki atmend organisch die Beethoven-Klavierkonzerte neu und frisch hören

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Dezember 2018: Ein junger Pianist erhält nicht nur die Chance, für Murray Perahia gleich in allen fünf Beethoven-Konzerten im Berliner Konzerthaus einzuspringen. Er darf/muss/kann auch für den großen Klavierkönnen das Dirigat der diesem eng verbundenen Academy of St Martin in the Fields übernehmen. Und das wird auch prophylaktisch, so wie vorgesehen, von der Deutschen Grammophon mitgeschnitten. Ein Alptraum, zumal dem auch noch kurzfristigst anberaumte, mit äußerst komplexen (Greta, weghören!) Flugbewegungen verbundene, dabei knapp bemessene Proben vorausgingen? Mitnichten! Der junge kanadisch-polnische Pianist Jan Lisiecki lässt sich auf das Abenteuer ein, zu verlieren hat er ja nichts. Im schlimmsten Fall wäre eben nichts veröffentlicht worden. So aber erscheint nun im Vorfeld des Beethoven-Jahr dieser Konzertbündel-Auftakt als hinreißend spontane Hommage an den Mut und die Jugend, die diese aus der Wiener Klassik sich in neue, autonomere, mit dem Orchester wirkungsmächtiger dialogisierende Gefilde vorantastende Werke immer schon manifestieren. Und die oft im Klassikalltag von irgendwelchen selbstsicheren Altvorderen weggespült und -gepflügt werden. Dabei herrscht hier doch über weite Strecken spontane Meinungsäußerung, Improvisationsfreude, Dialoglust, Kommunizier-Elan vor. Und gerade Jan Lisiecki verbindet ganz besondere Momente seines Lebens mit diesem Ludwig van B.-Bündel. So debütierte er etwa 2017 mit dem 4. Konzert in der Carnegie Hall unter Yannick Nézet-Séguin und dem Philadelphia Orchestra. Lisiecki sagt über die Klavierkonzerte: „Beethoven hat diese Werke sicher nicht zusammenhängend konzipiert. Dennoch sind sie sich nahe, denn sie zeigen ein unglaublich differenziertes Bild von Beethoven, angefangen mit den beiden ersten Konzerten, die noch das Erbe Mozarts verraten. Über die so unterschiedlichen Werke Nummer drei und vier bis hin zum majestätischen Es-Dur-Konzert.“ Hier mischen sich nun rhythmischer lässiger Puls mit gezielt gesetzter Agogik, durchsichtige, fein solistisch vom Orchester erspürte Struktur und Balance mit einem heiteren, doch tiefsinnigen Klavierspiel. Das nichts Exzentrisches, aber sehr viel neugierige Offenheit und – darf man das noch sagen? – apollinische Freunde verströmt. Also  wird nichts problematisiert, dafür wird musiziert, mit allem Risiko einer deutlich hörbaren, aber umso lebendigeren Liveaufführung, gemeinsam, auf Augenhöhe, freundvoll und schön. Ja, das darf, das muss sein! Eine willkommene Ergänzung etwa für Mitsuko Uchida oder Leif Ove Andsnes.

Ludwig van Beethoven: Sämtliche Klavierkonzerte. Jan Lisiecki, Academy of St Martin in the Fields (Deutsche Grammophon)

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Brugs Beste 2019 – ein CD-Adventskalender: XXI. Sich mit Merian zu den schönsten Musikfestivals entführen und verführen lassen

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Samstag ist Multimedia-Tag. Heute als keine CD, aber auch keine DVD, sondern – ein Buch. Ganz altmodisch. Was muss man über die mythenschwere Geschichte Bayreuths wissen? Gibt es Salzburger Festspielgeheimnisse? Wo ist in Glyndebourne bei Regen der beste Picknickplatz? Welches sind relevante Opernfestivals? Was gibt es dank des grünen Daumens von Bill Christie in dessen wunderfeinen Gärten in der Vendée musikalisch zu entdecken? Wann ist der pink moment beim Ojai Festival, dem kalifornischen Donaueschingen? Kann eine Kreuzfahrt musikalisch beglückend sein? Warum ist Ostengland ein Pilgerziel nicht nur für Benjamin-Britten-Liebhaber? Hat die Münchner Biennale für zeitgenössisches Musiktheater eine Zukunft? Worin unterscheiden sich die beiden Rossini-Opernfestivals im italienischen Pesaro und der Ex-Schwarzwaldperle Bad Wildbad? Diese und andere, für den Opern- wie Klassikfan weltbewegende Fragen beantwortet erschöpfend und übersichtlich illustriert ein schöner, repräsentativer Bildtextband, der sich als individueller, sehr persönlich geschriebener Guide zu 50 Opernfestspielen und Klassikfestivals versteht, die eine Reise weit sind. Auch eine weite. Man wird in bewährter Merian-Qualität mit atmosphärischen Impressionen eingestimmt auf das tolle Kammermusiktreiben in Heidelberg am Neckar und erfährt, dass man am schönsten mit dem Schiff zum Opernfestival im schwedischen Schloss Drottningholm mit seinem dem Dornröschenschlaf entrissenen Barocktheater tuckert. In Bad Ischl sollte man sich hingen vor dem Operettengenuss eine Lehár-Schnitte an der Traun-Esplanade in der legendären Konditorei Zauner gönnen (und sich mit reichlich Zaunerstollen bevorraten). Man kann es groß und touristenrummelig mit Verdi in Verona haben, oder intim und erlesen historisch mit von Friedrich dem Großen präferierter Musik bei den Schlossfestspielen Potsdam. Es gibt so viele schöne Orte auf der Welt, nei denen sich touristischer, leiblicher und klanglicher Genuss auf das Harmonischste Verbinden. Gern auch abseits der Trampelpfade. Dorthin will dieser, von kompetenten Autoren geschriebene, auch gut in der Hand liegende, Lust auf mehr machende Band, an dem auch meine Wenigkeit mitwirkend dufte, entführen und verführen. Auch mit ganz praktischen Reise- und Termintipps. Denn die Lust auf mehr steigt beim Genießen. Und es gibt weltweit so viele hinreißende Musikmöglichkeiten zu erkunden. Dieser Führer will Anstöße geben, dann kann jeder weitersuchen. Und ein ideales Last-Minute-Weihnachtsgeschenk für unter 30 Euro ist er allemal!

Opernfestspiele & Klassikfestivals. Merian, München 2019, 240 Seiten; 29,90 Euro

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Brugs Beste 2019 – ein CD-Adventskalender: XXII. Mit den Berliner Philharmonikern in edlen Kisten Furtwängler und Bruckner verwahren

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Eingesargt. Weggesperrt. Diese Kisten mit den eleganten Magnetverschlüssen, sie laden zum Hören, Umblättern und Schmökern ein, die Manufaktum-Abteilung unter den CD-Boxen. Audiophil, exklusiv, wertig. Made by Berliner Philharmoniker, gespielt, konzipiert, vertrieben. Super Weihnachtspräsente – auch für einen selbst. Die beiden jüngsten, in diesem Jahr erschienen Boxen, sie wurden ganz unterschiedlich befüllt, mit sehr altem Furtwängler und jüngerem Anton Bruckner. Die erste Kiste enthält kontaminiertes, historisches Material mit einer bewegten Geschichte aus der dunkelsten Epoche des 20. Jahrhunderts: die übrig geblieben, vom Reichsrundfunk mitgeschnittenen Konzerte, die der Dirigent und Philharmoniker-Chef Wilhelm Furtwängler zwischen 1939 und 1945 in Berlin mit den Orchester gemacht hat. Hier sind sie zum ersten Mal vollständig veröffentlicht und High-End-aufgearbeitet, zudem klug kommentiert und eingeordnet. Das ist auch nötig, denn als beispielsweise die 5. Beethoven-Sinfonie in der Alten Philharmonie an der Bernburger Straße dokumentiert wurde, da war der 2. Weltkrieg zwei Wochen alt. Diese Versionen sind fehlerhaft menschlich, von heutiger Virtuosität und Brillanz keine Spur, aber sie sind herausragende Zeitdokumente. Hier atmet man über die Musik hinaus gehende Dramatik, wenn das Orchester im Bombenalarm Mozart spielt. Und womöglich später Hitler auf seinem ihm 1944 zum Geburtstag geschenkten Magnetophon nachhörte, so wie heute digital die Nachgeborenen. Selbst nachdem die Philharmonie am 30. Januar 1944 bei einem zerstört wurde, spielten die Philharmoniker weiter vor Mikrophonen. Das letzte Mal vor Kriegsende führte Furtwängler am 23. Januar 1945 im Admiralspalast sein Orchester. Nach dem Bombenalarm gab es Brahms 1. Sinfonie. Insgesamt 21 Konzertprogramme wurden damals mitgeschnitten, kunstsinnigen russischen Offizieren waren sie offenbar so teuer, dass die Bänder konfisziert und nach Moskau transportiert wurden. Bis in die Neunziger blieben sie dort. Und jetzt wurden sie als eine Art untergegangenes, weil sehr viel freieres und weniger partiturgläubiges Klassikverständnis der alten Schule einem Facelifting unterzogen. Auf 22 CDs gibt es hier Musik von Händel, Gluck, Beethoven, Mozart, Weber, Schubert, Schumann, Brahms, Bruckner, Ravel, Strauss, Wagner, Sibelius, Pepping und anderen zu hören.

Nur Bruckner, alle Neune, sind hingegen auf ebenso viele Dirigentenschultern verteilt. Die Maßgabe, Aufnahmen aus den letzten 10 Jahren, als die Digital Konzert Hall und damit auch die Videoaufzeichnung der philharmonischen Konzerte Standard wurde. Das Ergebnis ist ein interessanter, aber auch ein gemischter Beutel mit Sternstunden und wenig inspirierter Routine. Man erlebt acht  Dirigenten, große Alte, abgetreten wie Bernard Haitink (der zweimal darf), Seiji Ozawa oder der eben verstorbene Mariss Jansons. Einen faden Zubin Mehta, das Suchen der Mittelalten wie Christian Thielemann oder – besonders persönlichkeitsstark – Paavo Järvi. Simon Rattle ist mit der vervollständigten Neunten dabei, und alle überstrahlt Nestor Herbert Blomstedt.

Wilhelm Furtwängler:  The Radio Recordings 1939 – 1945; Anton Bruckner: Sinfonien 1-9, Ozawa, Järvi, Blomstedt, Haitink, Jansons, Thielemann, Mehta, Rattle, Berliner Philharmoniker (Berliner Philharmoniker)

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Brugs Beste 2019 – ein CD-Adventskalender: XXIII. Wie uns Dina Ugorskaja über ihren allzu frühen Tod hinaus mit Schubert beschenkt

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Natürlich gab es auch im Jahr 2019 einige teure Tote zu beklagen: Mariss Jansons, Jessye Norman, Hans Zender, Theo Adam, Michael Gielen oder André Previn. Fast alle wurden sie sehr alt, ihre Mission war vorangeschritten oder erfüllt. Aber es gab auch die, die viel zu jung aus dem Leben gerissen wurden, so wie die Straßburger Opernintendantin Eva Kleinitz, die am 30. Mai erst 47-jährig den Kmapf gegen den Krebs verloren hat. Sie immerhin war schon in ihren jungen Jahren eine Leuchte des Betriebs, beliebt, geschätzt, geachtet. Und dann sind auch noch die, die vielleicht nie wirklich die Beachtung erfahren hatten, die sie eigentlich verdient hätten. So wie beispielsweise die Pianistin Dina Ugorskaja, die am 19. September erst 46-jährig ebenfalls an Krebs gestorben ist. Die in Leningrad geborene Tochter des Pianisten Anatol Ugorski hatte ihren ersten öffentlichen Auftritt im Alter von sieben Jahren in der Leningrader Philharmonie. Mit 14 Jahren bestritt sie ihr erstes Orchesterkonzert mit Beethovens 4. Klavierkonzert. Mit 15 gab sie ihr Debüt als Komponistin, als ihr Streichquartett in der Leningrader Philharmonie aufgeführt wurde. 1990 reiste die jüdische Familie nach Deutschland aus, Dina studierte in Berlin und Detmold. 2016 wurde sie Professorin Wien. Daneben war sie auch regelmäßig öffentlich zu hören, aber aus dem Schatten ihre Vaters trat sie nicht wirklich. Es gab einige CDs bei dem kleinen Label CAvi, späten Beethoven, Händel, Schostakowitsch und eine gemeinsame Aufnahme mit ihrem Vater der Doppelkonzerte von Bach und Mozart. Aber erst ein posthum veröffentlichtes Doppelalbum mit Schuberts Sonate Nr. 21, Moments musicaux und weiteren kleinen Klavierstücken offenbarte noch einmal die ganze, wunderbar reiche Fülle und Tiefe ihrer Begabung und ihres analytischen Denkens, das dann aber umso mehr zu organischer, natürlicher Interpretation wurde. Das spielt jemand ganz ehrlich, einfach und durchsichtig. Glasklar sind die Noten gesetzt, schnörkellos ist die Phrasierung. Und da lässt sich jemand viel Zeit, horcht dem Verklungenen nach, wie hören ihren Atem. Ein Traurigkeit, gepaart mit Unendlichkeit, ist da zu spüren, eine Gefasstheit in der schmerzlich lächelnden Moll-Schönheit Schuberts, der ebenfalls wusste, dass er früh sterben muss. Und auch wenn man das nicht weiß: Dina Ugorskajas Spiel ist so essentiell auf das Wesentliche reduziert, dabei weich, reich und lebensfroh. Es soll, es muss weitergehen, nachklingen, zumindest in der Musik aus Schuberts letztem Lebensjahr. „Schuberts himmlische Längen begleiten mich mein Leben lang“, teilt Dina Ugorskaja im Booklet der CD mit, „die Zeit scheint in dieser Musik manchmal ganz stehen zu bleiben. Der Schmerz, das Unerträgliche, Abgründe, Ausweglosigkeit überwältigen uns.“ Bach und Beethoven waren ihre Favoriten am Klavier, doch mit dieser schönen, weisen Schubert-Platte hat sie die Nachwelt gerührt und beschenkt.

Franz Schubert: Klaviersonate D.960, drei Klavierstücke D.946, Moments musicaux D.780, Dina Ugorskaja (CAvi)

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Brugs Beste 2019 – ein CD-Adventskalender: XXIV. Mit Joana Mallwitz und der „Lustigen Witwe“ intelligent-zärtliche Operettenfreude erleben

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Weihnachten ist erreicht und damit fast schon Silvester, also wird heute bereits CD-champaganisiert! Ausgerechnet der sonst so konzeptstrenge Regisseur Claus Guth serviert nämlich zart Operetten. So auch die Königin der Gattung: Franz Lehárs „Lustige Witwe“, herausgekommen 2018 und mitgeschnitten von Oehms Classics als süffige wie schlüssige Filmdreh-Parodie an der Oper Frankfurt. Der namenlose Regisseur (Klaus Haderer), der auch den Spielmacher Njegus gibt, hat alle Hände voll zu tun, seine emotional aufgewühlte Truppe zusammenzuhalten. Marlis Petersen hält ihre elegante, auch elegische Hanna wunderbar in der Schwebe. Sie singt diese gebrochene Figur entsprechend: mit fadenfeiner Höhe, irreal schwerelos, dann wieder mit realistisch zupackendem Klang in hysterisch überdrehten Tanzrevue. Großartig ist Iurii Samoilov als baritoncremiger Strizzi Danilo, ein Frauenverführer und -verächter, der vor sich selbst ins Maxim flieht. Martin Mitterrutzner bleibt als Rossillon der ölige Frackträger mit geschmeidigem Tenor, Kateryna Kasper muss ihre Valencienne mit grotesker Fröhlichkeit als brachialknallige Soubrette markieren. Joana Mallwitz am Pult kann es präzise zackig, ja grell, sie lässt aber auch fein abgeschmeckt die Geigen schmalzen und walzerselig schluchzen, das Holz dudeln, dass es eine intelligente, klangfeine Operettenfreude ist. Bisweilen scheint die Zeit stehen zu bleiben, nur ein überlautes Metronom lässt die Sekunden vertickern. So wechseln sich gespielte Partyfreude und Herzeleid ab. Und so rangiert diese Frankfurter Operettentat weit über dem Dreiviertel-Takt-Durchschnitt, obwohl es eine eher melancholiesatte statt lustige „Witwe“ geworden ist. 

Franz Lehár: Die lustige Witwe. Marlis Petersen, Iurii Samoilov, Kateryna Kasper, Martin Mitterrutzer, Klaus Haderer, u.a., Chor und Orchester der Oper Frankfurt, Joana Mallwitz (Oehms Classcis)

Ich wünsche alle meinen zahlreichen Lesern Schöne Weihnachten und ein glückliches neues Beethoven-Jahr!

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Dieser Drache ist ein dolles Drama: Weimar und Erfurt haben mit Peter Konwitschnys Regiehilfe Paul Dessaus und Heiner Müllers böse Politoper „Lanzelot“ revitalisiert

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Draußen werden die Dioskuren auf Kufen umflitzt, drinnen stehen sie verzweifelt Schlange. Denn während bei Weimar on Ice vor dem Nationaltheater die Kids vor dem Goethe/Schiller-Denkmal kurven, sind dahinter Opernkarten wieder mal Bückware. Zu viele wollen die Ausgrabung „Lanzelot“ sehen. Dabei handelt es sich um Paul Dessaus dritte Oper in 15 Bildern nach Motiven von Jewgeni Schwarz und Hans Christian Andersen auf einen satirisch-bösen Text von Heiner Müller. Seit der Steinzeit wird das Land von einem Drachen bedroht, dem jedes Jahr eine Jungfrau geopfert werden muss. Als dann freilich Ritter Lanzelot als Retter auftaucht, will außer der als nächste auserkorenen Elsa, kaum einer so richtig was von ihm wissen. Die Gesellschaft, die Nomenklatura ganz besonders hat sich eigentlich ganz gut mit dem Übel eingerichtet…1969 hatte das schräge, treffsichere Stück an der Deutschen Staatsoper in Berlin Premiere, in der Regie von Dessau-Gattin Ruth Berghaus natürlich. Die offizielle DDR dachte zunächst, mit dem Drachen sei der Westen gemeint und jubelte über diese „sozialistische Revolutionsoper von der Selbstbefreiung der Menschheit“. Dann aber sah man doch klarer, nach nur zweimaligem Nachspielen (Dresden und 1971, erstaunlich, in München) verschwand das farcenhafte Märchenspiel sehr nachhaltig in der Versenkung. Erstaunlich, dass es nicht einmal der Trüffelsucher Udo Zimmermann in seiner Leipziger Intendantenzeit anfasste. Womöglich, weil die Noten- und Materiallage höchst bescheiden war. Nur der gestrenge, aber eben auch kluge Peter Konwitschny wollte die Oper immer mal machen. Jetzt war es soweit: In einer glücklichen Anstrengung des DNT Weimar und des Theater Erfurt wurde das personenintensive, vor allem chor- und instrumentalistenreiche Werk auf die Bühne gebracht. Und es ist ein rauschender Überraschungserfolg! Nur noch eine Vorstellung steht – vorläufig – am 19. Januar in Weimar an; ab 16. Mai grunzt das Opernungeheuer dann in Erfurt.

Fotos: Candy Weltz

Ganz stark involviert: der junge Dirigent Dominik Beykirch, der die Massen supersouverän zusammenhält, die Bühnenmusik (allein acht Perkussionisten als personifizierte Drachen-Krachmacher in zwei roten, lichtleinumranken Käfigen auf der Szene) koordiniert, bei den viele Zuspielungen und Soundeffekten dranbleibt und nie den Klangfaden verliert. Paul Dessau tönt hier seht buntscheckig, das volle Orchester knall bruitistisch, die Chöre parodieren staatstragende Hymen. Manchmal will er sich einen Jux machen, es gleitet ab ins Happening und in die Schauspiel-wie Filmmusik. Das alles höchst effektvoll, dann wieder fein konzentriert, wenn etwa der desillusionierte, halbtote Sieger Lanzelot eine ganze melancholisch-intime Szene lang nur mit einem Cello dialogisiert. Und im Finale sehr müde mit Kind und Frau zum verlogenen Happy End dasteht.

Dessau pflegt hier, im raren Beispiel einer gelungenen, überzeitlich gültigen Politoper, und darin etwa Jacques Offenbach und einem eben wiederentdeckten „Bakouf“ nicht unähnlich,  einen ganz freien, frechen Stilpluralismus, immer dramatisch, stets nah dran am Bühnengeschehen. Das barockisiert und tanzmusikt – und hat doch immer eine sehr spezifische, von der Staatskapelle Weimar so wuchtig wie furios ausgespielte Klangnote.

Die Elsa der koloratursprühenden Emily Hindrichs gibt dauernd exaltierte Noten von sich. Maté Sólyom-Nagys Lanzelot, einst als die Arbeiterklasse befreiender „Genosse der Thälmann-Kolonne“ missdeutet, ist ein echter Heldenbariton, der doch immer gebrochener klingt. Oleksandr Pushniak hat es sich als baritonbrummelnder Drache zunächst im grauen Anzug im bürgerlichen Wohnzimmer vermenschlicht bequem gemacht, bevor er wieder sein Angstmach-Szenarium aus Grollen und Scheinwerferbatterien auffahren muss. „Der Drache spukt in wechselnden Gestalten“, weiß Heiner Müller, schreit mit Hitlers heißerer „Heil“-Stimme und gleicht am Ende gespenstisch Lanzelot. Elsas Papa Charlemagne (Juri Batukov) ist ein schwacher Kriecher, die Funktionäre wie der Bürgermeister (Wolfgang Schwaninger) und Heinrich (Uwe Stickert) sind wetterwendische Typen, die sich den Kopf noch aus jeder Schlinge befreien.

Peter Konwitschny inszeniert das ganz episch und nüchtern, auf fast leerer Bühne von Helmut Brade, der auch die zweckmäßigen Kostüme entworfen hat. Schon in der Steinzeit wird das konsumgeile Fellvolk mit Tauchsiedern als Drachenersatz ruhig gestellt, mit denen man Cholerakeim abkochen und –töten kann. Ein paar zusammengenagelte Wände sind mal die gute Spießerstube, mal die Shoppingwand aus dem Comicbuch. Und selbst der Kater (Daniela Gerstenmeyer) bekommt einen gestrickten Pussy Hat. Es gibt Filmeinspielungen und Texteinblendungen. Diese bittere Puppenstubenwelt, wo der Drache im Anzug mal schnell mafiagleich drei Musiker mit der Wumme wegpustet, die dann als Engelein filmisch entschweben, ist freilich gar nicht so weit weg von der nach rechts driftenden Realität, wo das Trio der fiesen Elsa-Freundinnen vom BDM wie von der FDJ sein könnten.

Vor allem die spielfreudigen Chöre beider Kooperationspartner tragen diesen Abend als klatschfreudige, zustimmungswütige, dann wieder aufmüpfige, nicht lange fackelnde Masse, die nur schwer im Zaum zu halten ist. Jens Petereit und Andreas Ketelhut schaffen das zumindest chorleitermäßig.

Am Ende, wenn wir bei den Bootsflüchtlingen und Fridays for Future angekommen sind (Kinderchor gibt es auch noch), werden alle vom Politbüro per Kalschnikow niedergemäht. Und stehen dann doch wieder auf. „Der Rest ist Freude, Freude der Rest“ lässt Müller alle skandieren. Naja. Und Trotzdem: Ein großes wichtiges, zeithistorisches, doch auch zeitgemäßes Gesamtkunstwerk. Schlagkräftig, witzig, unterhaltend, auch nachdenklich und aufrüttelnd. Von starker Aussage, brillant und überzeugend wiedergegeben. Ein eminente Ausgrabung! Und das zum 50. Stückgeburtstag.

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Der Ballettbastler: zum 70. Geburtstag des avantgardistischen Bewegungsartisten William Forsythe

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William Forsythe wird heute 70 Jahre alt. Früher hätte man da Jubelranken gewunden, hätte ihn als neben Pina Bausch und Hans van Manen bedeutendsten Choreografen nach Georg Balanchine gefeiert. Die Bausch hatte mit dieser Tanzwelt sehr deutlich gebrochen, das Spektrum Choreografie aber entscheidend erweitert, van Manen, heute 87, hat Balanchine umschifft, integriert, neu interpretiert, ist aber, neben einigen Experimenten in den Siebzigern, dem Tanz treu geblieben und produziert heute noch auf altersgemäß reduzierter Flamme. Und Forsythe? Der hat als Choreograf, der das Erbe pflegt, den radikalsten Spagat gemacht, Klassik und Neoklassik, zerstoßen, zerbrochen, zerpulvert, aber ihr gleichzeitig – auch dem Spitzenschuh – gehuldigt, sie modern und hipp gemacht. Die Perspektiven und Schaurichtungen, die Symmetrie und Hierarchie existierte nicht mehr. Die Körperachse war obsolet, Schwerpunkt war überall, die Glieder wurden unabhängig, ebenso Raum und Zeit. Daraus ergab sich eine unendliche Bewegungs- und Raumvielfalt, die dem Balletttänzer so bis dahin fremd war. Befreit von Ablenkendem hat sich so das Ballett neu konstituiert. Avantgardistisch. Technoid.

Michael Simon entwarf oft die Raumobjekte, das Licht kam von irgendwo. Kostüme waren nicht selten von Modeschöpfern wie Issey Miyake oder Yohji Yamamoto. Der peitschende Computersound, von Thom Willems, der gern auch Sprache mit einschloss, wurde schnell ein akustisches Markenzeichen. Das Frankfurter Ballett, das war in den Mittachtziger- und Neunzigerjahren die radikalste, innovativsten Balletttruppe der Welt. Ja – Ballett! Tempi passati.

Man hat das dort ab 2004 als Sparmaßnahme die ganze, weltberühmte Tanzherrlichkeit strukturell zerstört und abgewickelt. Forsythe selbst wollte aber auch nicht mehr: Die Verantwortung für die Riesentruppe, dauernd unter Produktionszwang zu stehen, das hatte ihn ausgelaugt. Und so willigte er freiwillig in das Danaergeschenk einer reduzierten Truppe namens Forsythe Company ein, die sich Sachsen, Hessen und die Bundeskulturstiftung teilten. Fans und Jünger fuhren also weiter nach Hellerau oder in Frankfurter Depot, und mussten zusehen, wie ihr Idol von einst immer lustloser, schräger, esoterischer, hermetischer, pantomimischer und performativer wurde. Und irgendwann schien sein szenischer Elan gänzlich zum Stillstand gekommen, seine Bewegungskreativität ausgetrocknet.

Gleichzeitig hat sich William Forsythe für digitale Archivierung, Computerkunst, künstliche Bewegungsintelligenz interessiert, ohne dass dabei wirklich Bahnbrechendes, seinen so wandelbaren, ideensprühenden, mutigen, klugen, neugierigen Tanzkreationen etwas Gleichwertiges entgegengesetzt worden wäre. Stattdessen wurde er, der einen ganzheitlichen Kunstbegriff suchte, auf Ausstellungen und Biennalen als der jüngste hot shit herumgereicht. Er machte dort lustige Mitmachkunst mit Bällen, Ballons und Seilen, meist Selbstbespiegelung, durchaus voll gefälliger performativer Möglichkeiten. Solche „choreografischen Installationen“  lieben die zudem nach großen Namen und schicken Quereinsteigern gierenden Kuratoren.  

Einmal noch, 2016, kehrte Forsythe für eine Variation, ein Aufblitzen seiner alten Möglichkeiten an die Pariser Oper zurück, ehrwürdiger Ursprungsort des Balletts und Ort einige seiner größten Triumphe („In the Middle, Somewhat Elevated“,  1987 mit Sylvie Guillem, die Beine hinter den Ohren, und Nicholas LeRiche, vielleicht sein definitives Stück überhaupt, klassisch und geil, cool und gefährlich). Auch gastierte das Frankfurter Ballett regelmäßig im Théâtre de la Ville. Doch „Blake Works“ zu Popsongs von James Blake war nur noch ein hübsches, nostalgisches Nachglimmen, man labte sich an den beau restes des lange entbehrten, Neues kam nicht mehr.

Selbst dieses, eigentlich schon skelettierte  Stück für eine jüngere, ihm unbekannte Tänzergeneration, hat William Forsythe dann nochmals als „A Quiet Evening of Dance“ für seine alten Tänzer und ihre Rentnertruppe entbeint, zerlegt und geteilt, aufgesplittet, in Einzel-Pas-de-Deux und –Momente. Wie es ja schon sowieso sein Bauprinzip einmal additiv, einmal dekonstruktivistisch war, viele Stücke quasi aus einer Zelle gewachsen sind, manche zu ehrfurchtgebietenden Abendfüllern. Die heute noch gern von vielen klassischen Kompanien lizensiert werden, ein Teil des Forsythe-Repertoires ist also noch höchst lebendig und sieht gut aus bei jeder neuerlichen Begegnung. Auch haben sich viele seiner zur Eigenverantwortung und zum Mitmachen erzogenen Tänzer später emanzipiert, sei es als Ballettdirektoren wie Aron Watkin in Dresden oder als Choreografen wie die gegenwärtig vielgefragte Chrystal Pite.

Der am 30. Dezember 1949 in New York geborene William Forsythe liebte Rock’n’Roll, Fred Astaire und Musicalfilme. Er tanzte nach seinem Studium an der Joffrey Ballet School und der Jacksonville University in Florida ab 1971 für das Joffrey Ballet, 1973 verpflichtete ihn John Cranko für das Stuttgarter Ballett. Schon in Stuttgart fing er 1976  an zu choreografieren, bereits damals wurden seine Werke in München, Den Haag, London, Basel, Berlin, Frankfurt am Main, Paris, New York und San Francisco  aufgeführt. Mit seiner am klassischen Ballett orientierten, streng mathematischen, aber bildhaft-sinnlichen Tanzsprache war er schnell vielgefragt. Leider lässt er viele dieser frühen Stücke wie das lässige „Love Songs—alte Platten“ heute nicht mehr gelten und zeigen.

Der spätere Stuttgarter Opernintendant Klaus Zehelein erkannte als Chefdramaturg an den Städtischen Bühnen Frankfurt bei Forsythe das entwicklungsfähige Ausnahmetalent und leitete den Ruf nach Frankfurt ein. Der Rest sind 20 gloriose Jahre Ballett- und Tanzgeschichte mit so schräg betitelten Stücken wie „Artifact“, „Isabelle’s Dance“, „Die Befragung des Robert Scott“, „Impressing the Czar“, „Limb’s Theorem“, „The Loss of Small Detail“, „The Second Detail“, „A L I E / N A(C)TION“, „Eidos:Telos“, „The Vertiginous Thrill of Exactitude“, „Three Atmospheric Studies“, „One Flat Thing Reproduced“, „Kammer/Kammer“ Oder „Decreation“.

Dann folgte der zehnjährige Abgesang. Jacopo Godani führt die Truppe seiter ohne größeres Aufsehen als Dresden Frankfurt Dance Company weiter. Seit 2015 ist William „Billy“ Forythe Professor of Dance und künstlerischer Berater des choreografischen Instituts an der University of Southern California in Los Angeles. Im März hat er sich sogar noch zu einem allerjüngsten Stück für das Boston Ballet bequemt: „Full on Forsythe“. Ansonsten lebt er mit seiner zweiten Frau Dana Caspersen auf einer Farm in Vermont.

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Paul Abraham boomt swingend wie sentimental weiter: Aktuell mit „Märchen im Grand Hotel“ in Hannover und „Dschainah“ an der Komischen Oper Berlin

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Abraham ist aktuell. Das lässt sich ganz einfach mit Aufführungszahlen belegen. Seit die Komische Oper als Durchlauferhitzer und Kernschmelzer einer sehr besonderen Berliner Operetten-Renaissance fungiert, vermehren sich die Vorstellungen. Und auch die Stücke werden variiert. Plötzlich ist der Anfang der Dreißigerjahre besonders in Berlin so gefeierte ungarische Komponist eben nicht nur mit „Die Blume von Hawaii“ und „Victoria und ihr Husar“ präsent. Barrie Kosky hatte schon 2013 mit dem „Ball im Savoy“ seine Berliner Recherche begonnen, der inzwischen auch wieder anderswo nachgespielt wird. Der Fußball-Jux „Roxy und ihr Wunderteam“, vorher schon in Dortmund und Augsburg neuerlich ausgegraben, folgte – leider ist die erst im Sommer herausgekommene Produktion mit den Geschwistern Pfister schon wieder abgesetzt. Gerüchte besagen gleichwohl, es gäbe bald noch eine szenische „Blume“. Und im Rahmen der weihnachtlich konzertanten Kurzpräsentationen gab es zuletzt „Märchen im Grand Hotel“, inzwischen auch szenisch in Mainz, Luzern, Hannover und bald Meiningen zu besichtigen, „Victoria“ sowie zum Abschluss der Reihe jetzt das exotische „Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus“, 1935 im Wiener Exil uraufgeführt und seither nie mehr gespielt. Warum, das versteht kein Mensch. Denn zwar ist dieser zwischen Paris und Saigon pendelnde Dreiakter politisch gar nicht korrekt, rassische Stereotypen werden weidlich ausgeschlachtet. Das aber auf überaus unterhaltsame Weise.

Die bewährten Librettisten Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda zimmerten eine Art vietnamesische „Madama Butterfly“ mit gutem Ende zusammen. Und erfanden eine weitere asiatische Geisha-Variante, eben die Dschainah, das Saigon-Sing-Song-Girl aus dem Tanzhaus. Die heißt Lylo und wird im zweiten Akt von einem schneidigen französischen Marineoffizier aus den Fängen eines Mädchenhändlers freigekauft. Dumm nur, dass der in Paris eine Verlobte sitzen hat. Die reist ihm samt Mutter und französisch-ponischem Buffopaar nach, um die Dinge wieder ins Liebeslot zu bringen. Was – Operette! – gelingt. Alle treffen sich später in Paris wieder, denn auch Lylo hat sich inzwischen mit einem indischen Maharadscha getröstet.

Fotos: Ilko Freese

Sonderlich sympathisch ist keiner vom Personal, aber unterhaltsam und mit wundersamen Klängen ausgestattet. Abraham bietet Puszta-Zauber auf, Walzer, Jazz und viel schwüles Orientgeklingel mit in Pentatonik schwelgender Celesta und Harfe. Und Lylos getragenes Abschiedslied „Ohne Liebe kann ein Herz nicht glücklich sein, ein Herz braucht Sonnensein“, hat absolute, sofort nachträllerbare Hitqualität.

Der die Berliner Aufführung absolut Appetit machend gerecht wurde. Ein altes Problem ist wieder nur die mangelnde Koordination mit dem zu weit hinten platzierten, textunverständlichen Chor. Als schnoddriger Erzähler, der im Schnellgalopp durch die gerafften 100 Singminuten führt, fungiert ordentlich amüsant der Schauspieler Klaus Christian Schreiber. Der Offizier, der auch Romane schreibt, heißt Pierre Claudel, der in diesem Format der Komischen Oper über Jahre tenorbewährte Johannes Dunz hat die genau richtige und wichtige leichte Höhe sowie die fesche Frack- wie (weiße) Uniformfigur.

Seine Braut Ivonne gibt soprankompakt im blauen Glitzerdress Mirka Wagner. Ihre Mutter, Madame Hortense Cliqot, natürlich champagnersprudelnde Witwe, spielt mit wenig Tönen und reduzierter Gestik Zazie de Paris. Die sollte zwar ursprünglich auch als Conférenciere fungieren, sieht sich aber selbst als grüner Glamour-Weihnachtsbaum mit Boa und rotem Haarfeuer furios an; dazu wackelt sie mit ihrem Dritten-Akt-Couplet von der männlichen „Dancing Doll“ ganz allerliebst mit den transsexuellen Hüften.

„Bei 40 Grad im Schatten schmilzt die Treue“, lautet hier das Motto, dem folgt auch das lockere Buffopaaar Musotte (in brombeerfarbener Robe: Talya Lieberman) und der vokal wie körperlich bewegliche Dániel Foki als baritonsamtiger Baron Bogumil Barczewsky. Als Überraschungsstar entpuppt sich freilich die mit dem Fächer wie ihrem cremig-opaken Sopran gleichgut umgehende Koreanerin Hera Hyesang Park als Dschainah. Die war – Kuriosum der Operettengeschichte – einst eine auf die japanische Sängerin Michiko Tanaka zugeschnittene Auftragsrolle. Bezahlt hatte dafür ihr 40 Jahre älterer Gatte, der Wiener Kaffee-König Julius Meinl II. Der wollte mit dieser Operette seiner Frau das Theater an der Wien zu Füßen legen.

Michiko Tanaka muss eine ungewöhnliche Person gewesen sein. Nach einem Techtelmechtel mit einem verheirateten Cellisten sahen sich ihre Eltern zunächst genötigt, die 19-Jährige von Tokio nach Wien zu schicken. Wo sie sich noch während ihres Gesangstudiums bei Maria Ivogün den nächsten Erben angelte. Und der Herr Meinl bezahlte vor Abraham bereits Richard Tauber als karrierefördernden Partner für einen Spielfilm! Trotzdem ließ sie sich 1941 nach wenigen Ehejahren scheiden. Nach Affären mit dem Dramatiker Carl Zuckmayer und dem Schauspieler Sessue Hayakawa heiratete sie Viktor de Kowa, Julius Meinl war Trauzeuge. Später brachte sie noch Seiji Ozawa mit Herbert von Karajan zusammen. 1988 ist sie in München gestorben, begraben liegt sie auf dem Berliner Friedhof Heerstraße.

Doch zurück zur wiedererstandenen „Dschainah“: Unter der beswingt-sanftmütigen Leitung des Esten Hendrik Vestmann der das Orchester auch als Tanzkapelle animiert, kann man nur dem Chor zustimmen: „Hier ist was los“ – und die Komische Oper hat einen weiteren Paul-Abraham-Hit gelandet.

Fotos: Ralf Mohr

Wieviel stärker noch freilich eine szenische Version gegenüber den bisweilen auch chorlosen semikonzertanten Lustmachern der Komischen Opern wirkt, das ist gerade an der Staatsoper Hannover im „Märchen im Grand Hotel“ zu erleben. Dort spielt man die zuvor bereits in Luzern in die Innerschweizer Hotellerie verlegte „Lustspieloperette“ im Outfit eines frühen Filmmusicals mit viel Step und Foxtrott. Erstaunlich, wie nah diese 1934 ebenfalls in Wien von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda ersonnene Chose musikalisch den klassischen Astaire/Rodgers-Titeln ist. Zudem wird ganz aktuell mit echten, aber verarmten europäischen Aristokraten „gedreht“, die nach die diversen Liebesscharmützeln mit viel Geld nach Hollywood gelockt werden.

Stefan Huber inszeniert das so routiniert beweglich wie glamourös, indem er einfach die Zeitachse aus den Reality-TV-Shows von heute in die eskapistische Zelluloid-Unterhaltung der Dreißiger zurückdreht. Es kreiselt zudem die Bühne, die ein ganzes Hotel offeriert, wie schon zuvor das Mackintosh-Filmstudio, in dem Sänger, Tänzer und Choristen höchst professionell durcheinanderwirbeln. So wie auch Carlos Vázquez dies prickelnde Abraham-Mischung aus Walzer, Tango, Schlager, Charleston und Jazz schön moussieren lässt.

Valentina Inzko Fink ist Flapper-frech und fußflink Marylou Mackintosh, die sich am Ende eher unfreiwillig mit dem k.u.k-Prinzen Andreas (Philipp Kapeller) tröstet. Der als Kellner inkognito durch Papis Riviera-Luxusschuppen in Cannes wieselig wuselnde Hotelerbe Albert ist bei Alexander von Hugo mit leichtem Tenor bestens aufgehoben. Und natürlich bekommt er zum Finale seine klamme Exil-Königin, die strahlend-schmissige Mercedes Arcuri, die auch wehmutsvolle Sehnsucht kann. Auch wenn hier der typische Abraham-Ohrwurm fehlt, das Ganze macht sehr viel Laune!

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Auf der Suche nach der neuen Menschin: In Monte-Carlo hat Ballettchef Jean-Christophe Maillot eindrücklich „Coppél-I.A.“ ins Androidenzeitalter gepusht

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Eigentlich ist es doch ganz einfach. Klar, man kann, die 1870 an der Pariser Opéra uraufgeführte  „Coppélia“ von  Arthur Saint-Léon als eine alberne, kaum abendfüllende romantische Geschichte abtun. So wie beispielsweise in Berlin geschieht, wo eines der wenigen, kontinuierlich gespielten Ballette der romantischen Ära trotz der hinreißend populären Léo-Delibes-Musik seit mehr als 30 Jahren ignoriert wird; dafür gab es dort in dieser Zeit mindestens fünf, meistenteils schlechte, aber immer teure „Dornröschen“-Produktionen. Man kann die in ihrem Kern auf E.T.A. Hoffmann zurückgehende Geschichte von der mechanischen Puppe des geheimnisvollen Doktor Coppélius, die in einem galizischen Dorf (Folklore! Pittoresk!) für echt gehalten wird, bis die kesse Swanilda, deren Verlobtem Frantz das Ding auch den Kopf verdreht, hinter das Geheimnis dieses quasi prähistorischen Roboters kommt, natürlich auch einfach mal wieder in eine historischen Produktion ansetzten. Aber dann kommen auch schnell die Flauheiten des Librettos heraus, von der Choreografie sind sowieso nur Teil überliefert. Das hat etwa das Bayerische Staatsballett mit der allzu knappen, flach-flauen und ziemlich verstaubten Fassung von Roland Petit aus den Siebzigern übernommen. Oder man schafft die „Coppélia“ (so heißt übrigens auch eine Eisdielenkette auf Kuba mit einer schrillen Fifties-Beton-Hauptfiliale in Havanna) einfach konsequent neu. Ist gar nicht so schwer, denn im Kern ist die Geschichte von der seelenlosen Frau ja durchaus futuristisch. Das hat er jetzt mit aufgepeppten, modernisierten alten Handlungsballetten sehr versierte Jean-Christophe Maillot jetzt in Monaco mit seinen Les Ballets des Monte-Carlo unternommen: Das Ergebnis ist so stimmig wie radikal schick. Und wird schon im zugespitzten Titel deutlich „Coppél-I.A. Ja Maillot, der dieses Jahr sechzig wird und seit 1993 höchst erfolgreich unter der wohlwollenden Schirmherrschaft von Princesse Caroline de Hanovre, das seit den seligen Ballets russes-Winterquartierzeiten als neuer Diaghilev die Tradition der Tanzkunst an diesem legendären Riviera-Ort wiederzubeleben wusste, er hat seine Version dabei auch sehr hintergründig lokal angelegt.

Fotos: Sebastien Botella

Den gerade zum Jahreswechsel präsentiert sich dieser superkünstliche Hot Spot mit falschen Winterlandschaften zwischen Palmen, Lichterorgien und Projektionskunstwerken vor dem historischen Casino/Opernbau, dem brutal neureich aufgemöbelten Hotel de Paris samt neuen Appartementaufsätzen, neuen Wohnblocks und High-End-Luxusgeschäften noch absurder als sonst. Hier flanieren fies rücksichtslose Russinnen und botoxaufgepumpte Italienerinnen. Auf den öffentlichen Strand freilich können sie nicht schauen, da wird geraden drei Jahre lang schon wieder eine neue Halbinsel aufgeschüttet, auf dass die superreichen Brexit-Flüchtlinge eine neue Appartement-Bleibe finden werden. Allein drei Milliarden Euro investiert das Grimaldi-Fürstentum nur in die Grundierung.

Zwischen Eisbären, Rentieren und Kunstschnee geht es auch hinunter, sieben Stockwerke unter dem Mittelmeer, in die Salle des Princes im Forum Grimaldi, das ebenfalls erweitert werden soll. Keine Überraschung, dass die super glossy Bühne der Ausstatterin Aimée Moreni auch aus weißen, coolen konzentrischen Ringen besteht. Das ist so abstrakt wie aseptisch, erinnert an ein Auge, an Star Wars oder James Bond-Welt. Die Werkstatt des Coppélius ist dann schwarz und atmet spooky gothic. Und auch die Kostüme in Weiß, Grau, und Creme haben etwas exterrestrisches. Natürlich hat Coppél-I.A., die künstliche Intelligenz in Replikantenform, die Katrin Schrader ganz wunderbar fischfluid, knochenlos, aber trotzdem berührend tanzt, dank ihre silbrig fluoriszierenden Metallbänder auch etwas von der klassischen Maschinenfrau Brigitte Helms in „Metropolis“. Science Fiction, riviera-glamourös eben.

Der frosty look wird verstärkt durch die vom Band ertönende Klangcollage von Maillots Bruder Bertrand, der die Mitsing-Melodien von Delibes durch den Computer gejagt und mt Glasharmonika und Synthesizer virtuell angenehm verfremdet hat. So könnte es auch in einem Kühlschrank klingen, würde der Musik spielen.

Jean-Christoph Maillot hat zwar nur die störrische, willensstarke Coppé-l.A. die verführen kann, aber erst bei Frantz so etwas wie echte Leidenschaft empfindet, als Avatar ausgepreist, aber auch das andere Personal kann eine starke Künstlichkeit nicht verleugnen. Frantz (kraftvoll: Francesco Mariottini) Swanilda (edle Linien: Alessandra Tognolini) kämpfen um ihre Beziehung, hinterfragen ihrer humanen Gefühle. Was für eine Art Macher ist dabei Coppélius? Der vielschichtige Jaeyon An lässt das in der Schwebe, er könnte, mit seiner Roboter-Amanda auch ein Choreograf sein? Geht es uns nicht allen um Selbstoptimierung, Perfektion? Was macht in solchen Machtspielen noch den menschlichen Faktor aus?

Fragestellungen, die alle subkutan durch Jean-Christophe Maillots starke, moderne „Coppél-I.A.“ als einem Gesamtkunstwerk aus Bildern, Bewegungen und Tönen schwingen. Die Choreografie beantwortet sie weniger klassisch, oft pantomimisch, als Revue sich entfaltend, technoider als sonst, auch bewusst kühl, aber doch soghaft faszinierend. Maillot kann Tableaux auffächern, sich dann aber auf einzelne konzentrieren. Auch die neue Musik hilft da viel mit. Die alte „Coppélia“ als wiedergeborene, zunächst staksige Frankenstein-Kreatur im Laboratorium des neuen Menschen.

Zum Finale drückt das künstliche, human berührte Wesen den ihr verfallenen Coppélius zurück und auf die Knie. Sein Stecker ist gezogen, die Energie entladen, sie läuft in eine unbekannte Zukunft. Die sich wiedergefunden habenden,  lebend Liebenden sind ebenfalls in ihrer Welt zurück. Vorerst. Aber ist das wirklich das Ende der Geschichte?

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Mozart y Mambo I: Mit Hornistin Sarah Willis bei Plattenaufnahmen in Havanna – angekommen

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Keine Politplakate mehr am Flughafen, nur müde vor schweinchenrosa Abendrot flatternde Palmwedel. Davor karibische Geschäftigkeit. Vor sechs Jahren war ich zuletzt auf Kuba, die Insel hat sich natürlich schon wieder verändert. Aber immer noch ist da diese sehr spezielle Mischung aus sozialistischer Rückständigkeit, Farben, Oldtimern, einem ungewissen Aufbruch, Mojitos und groovenden Salsahüften. Weniger Touristen sieht man in Havanna seit die großen amerikanischen Kreuzschiffe nicht mehr anlegen dürfen. Die Renovierung im Weltkulturerbe Habana vieja ist weiter fortgeschritten, auch wenn manche Straßen immer noch trübe vergammelt aussehen, Balkone bröckeln, ganze Fassaden abgestützt werden. Das ehrwürdige Kloster St. Franziskus von Assisi, heute ein prächtig sanierter Konzertsaal, präsentiert in seinen zwei mächtigen Innenhöfen spanische Goldmonstranzen und silberne Marienbilder. Ein Steinwurf weg, hin zur Plaza vieja mit ihren immer spielenden Musikkapellen, liegt das kleine Kloster der schleierkrönchentragenden Brigittinnen, die auch Zimmer vermieten. Einfach, aber sauber, mit blaugestrichenen Innenhöfen, wo man zwischen dem immer noch blinkenden Weihnachtsschmuck, diversen Krippen (hier sehr beliebt, vor der Kathedrale steht sogar eine lebensgroße) und Papstbildern schön in Schaukelstühlen relaxen kann. Sogar Internet gibt es inzwischen, mit Rubbelkarten, eine Stunde zwei CUC der Touristenwährung. Kein Vergleich, als man früher selbst im ehemaligen Mafia-Hotel Nacional in einen Raum im obersten Stock musste, mit altersschwach schnarrenden Terminal und dauernd zusammenbrechender, trotzdem teurer Verbindung. Ich bin freilich nicht als Tourist da, Kuba fasziniert nach wie vor Musiker, ganz besonders die der Klassik. Claudio Abbado, Simon Rattle, das Mahler Chamber Orchestra, das Mahler Jugendorchester, das Lucerne Festival, sie alle waren hier. Man hat unterrichtet, Geld gespendet, Instrumente mitgebracht, aber irgendwie sind alle Good Will-Mühen versickert. Und immer wieder hat man das Label Cuba und alle sich damit verbindenden Assoziationen für Crossover Projekte genutzt. „Parsifal goes la Habana“, „Mozart meets Cuba“, das hat meist nichtklassische Musiker involviert. „Mozart in Havanna“ war hingegen 2016 eine reine Klavierkonzert-CD der nicht so tollen amerikanischen Pianistin Simone Dinnerstein. Das stellte freilich das Orquesta del Lyceum de la Habana und seinen Dirigenten José Antonio Mèndez Padrón, den alle nur Pepito nennen, in den Mittelpunkt. Sogar auf US-Tour waren sie. Und mit denen will jetzt die Hornistin Sarah Willis von den Berliner Philharmonikern aufnehmen. In Kuba. Mozart y Mambo. Jawohl. Lasset das Abenteuer beginnen.

Keiner wartet auf mich, die Klostertür geht erst nach langem Läuten auf. Alle sind fort oder beschäftigt. Doch dann steht Sarah in der Lobby, Mohnblumenkleid zwischen den künstlichen Weihnachtssternen und lacht ganz entspannt. „Vor ein paar Tagen war ich noch verzweifelt. Aber alles fügt sich. Weil man mich hier inzwischen kennt. Dann geht auf Kuba das Meiste, irgendwie.“ Im Sessel sitzt schon ihre Maskenbildnerin, eine erfahrene TV-Frau weiß, was nötig ist. Auch Top-Fotografin Monika Rittershaus taucht mit ihrer Tochter auf. Sie ist seit Silvester da, davor hat sie noch beim Jahresendkonzert der Berliner Philharmoniker gearbeitet. Eigentlich ist kein Geld da, aber Chefin Sarah wollte trotzdem das Beste, das lohnt sich hinterher auch.

Sarah Willis ist am 26. Dezember geflogen, „ich musste mich vor Ort um alles kümmern, die Flüge für die Crew garantieren, denn die Visa kamen erst in letzter Sekunde“. Doch, eine Zitterpartie. Viel privates Geld, eine Menge Arbeit, noch mehr Enthusiasmus sind dabei, aber jetzt beginnt „Mozart y Mambo“ langsam zu rocken. Es muss, denn es ist ein vielsaitiges Projekt – auf mehreren Ebenen.

„Ich bin gern Tutti-Schwein“, gluckst Sarah Willis. „Ich mag die Soli gar nicht so gern, das überlasse ich anderen. Aber trotzdem hat die in den USA geborene Engländerin, die am Londoner Royal College wie an der Guildhall School studierte und sich in Berlin bei Philharmoniker Fergus McWilliam den letzten Instrumentalschliff holte, sich danach distinguierte Posten ausgesucht: als erste Westlerin stieß sie 1991 zu Daniel Barenboims Staatskapelle, spielte 2. Horn; das tut sie – als erste Frau in der Gruppe – seit 2001 auch bei den Berliner Philharmonikern.

Sie hat gastiert, das Übliche, aber dann ein weitere Berufung entdeckt: ihr Kommunikationstalent, ob sie nun unterrichtet, Kollegen, Gastdirigenten und –solisten für die Digital Concert Hall interviewt, diverse Fernsehprojekt sowie ihr wöchentliches Klassikmagazin „Sarah’s Music“ bei der Deutschen Welle dirigiert. Das kommt nicht immer bei allen gut an, der Klassikteich ist eigentlich ein Haifischbecken, besonders wenn sich eine Orchestermusikerin ungewöhnlich exponiert, aber Sarah Willis hat das noch nie gestört. Ok, natürlich ist das alles auch eine Sarah Show, ein bisschen Geltungsdrang, Mitteilungsbedürfnis sollte man auf einem Podium schon haben. Aber die 50-Jährige macht eben was, sucht Perspektiven und Projekte, bläst nicht nur ihre Dienststunden herunter. Und sie engagiert sich – so wie jetzt auf Kuba.

Wir müssen los. Nach einem schön scharfen Essen samt sehr buntem Cocktail im fruchtverzierten XXX-Monsterglas auf der Plaza vieja geht es ein paar Mal um die Ecke, in der Ferne glitzert märchenhaft Havannas Capitolkuppel, zum in der Dunkelheit weißleuchtenden Oratorio San Felippe Neri. Der Orden hat an seiner Versammlungsstätte in Rom einer neuen Musikform den Namen gegeben: dem Oratorium. Also passt die Location super. Auch sie ist längst ein Konzertsaal, der dem darüberliegenden Lyceum Mozart gehört.

Durch die Glastür sieht man bereits die Musiker sich warmspielen. Ab heute gilt es. Nun wird aufgenommen, „Mozart y Mambo“ geht vom Stapel. Mit dem Schwersten: Mozarts 3. Hornkonzert. Das ist der rein klassische Teil. Sarah ist nervös. So viel Vorbereitung. Und jetzt muss sie als Solistin ran. Sie will es hinter sich haben: „Das Stück ist ein Trauma, denn es war natürlich auch mein Probespielstück, Kadenz, danke, der nächste. Das steckt auf ewig in einem.“ Und wenn das jetzt flutscht, wird der Rest leichter.

Es ist 10 Uhr nachts, die Kirche ist natürlich kein Studio, man hört jedes Geräusch von der Straße. Aufnehmen kann man erst, wenn Havanna einigermaßen zur Ruhe kommt, sich schlaffertig macht. Was seltsamerweise doch lange vor Mitternacht der Fall ist, wenn alle Bars schließen.

Konzentriert geht es durch den ersten Satz. Dirigent José Antonio Mèndez Padrón, der ein wenig aussieht wie ein sehr spilleriger Fidel Castro, ist die Ruhe selbst. Als Tonmeister ist Christoph Franke dabei, der sonst ebenfalls bei den Berliner Philharmonikern die Digital Concert Hall fährt und die eigenen Aufnahmen betreut. Er sitzt in einem marmorstarrenden, aber kakerlakenbelebten Kabuff hinter der Apsis. Meist hört man nur seine Stimme als die des Herren aus dem Lautsprecher. Der dann spielverderbend säuselt: „Das war fast schon gut, aber..“ Und wenn es gut war, dann hat draußen punkgenau wieder ein Oldtimer eine Fehlzündung.

Die Geigen müssen sich erst warmstreichen, es wird stetig synchroner. Das Orchester ist motiviert, die jungen Musiker spielen mit Körper und Seele. Jede Bemerkung saugen sie wie die Schwämme auf, setzten sie sofort um und irgendwie hört man da Akzente, ein Spiel mit dem ganzen Körper, das eben doch anders ist als bei europäischen, amerikanischen oder asiatischen Musikern. Sarah läuft der Schweiß in den Mund, Hornspielen ist nicht nur eine ästhetische Angelegenheit. Doch die Klimaanlage wäre zu laut.

Nach etwas über einer Stunde ist der erste Satz inklusive Kadenz im Kasten. Gleichzeit wird aber auch fotografiert und von bis zu vier Kameramännern gedreht. „Mozart y Mambo“ wird von Alpha Classics aufgenommen und von der Deutschen Welle als Konzertfilm mit dazwischen geschnittenen Kuba-Bildern gesendet werden. Alle strömen in den kleinen, räudigen Innenhof, Handy leuchten in der Nacht. Es gibt Birnensaft (Alkohol erst nach den Aufnahmen) und Kekse, Sarah verziert einen mitgebrachten Lebkuchenmann mit Smarties. Das warme Essen dauert noch. Also fangen sie lieber schon mal mit dem Adagio an. Und ich geh ins Bett. Das Jetleg fordert seinen Tribut.

Der Beitrag Mozart y Mambo I: Mit Hornistin Sarah Willis bei Plattenaufnahmen in Havanna – angekommen erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

Mozart y Mambo II: Hornistin Sarah Willis kommt auf Touren und Töne – aufgenommen

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Projekt. Früher hatten die Kubaner ein Projekt. Was aber machen Sie heute? Im Post-Fidel-Zeitalter, mit Trump vor der Tür. Darüber unterhalten wir uns, Sarah Willis schläft noch, es wurde sehr spät für sie, lebhaft am Frühstückstisch bei den Brigittinnen. Da ist es bescheiden, aber ausreichend gedeckt (Tuchmotiv: Weihnachtssterne). Sonst regiert oft wirklicher Schmalhans. Die Fleischereien sind leer, Gemüse gibt es wenig, letzten Monat blieb mal wieder das Benzin aus. Die Touristen merken das kaum, die Einheimischen sitzen (noch) freundlich vor ihren pittoresken, aber eigentlich abgeranzt ruinösen Häusern mit den besseren Wohnlöchern im unrenovierten Teil von Habana veija. Wobei das hier scharf aufeinanderstößt. Selbst in der Flaniermeile Obisbo gibt es schöne Schnörkelbauten ohne Fenster und komplette, verrammelt leerstehende Hochhäuser. Wie lange wird das noch gut gehen? Wo ist die Frustration? Später werden die Musiker vom Orquesta del Lyceum de la Habana erzählen, dass sie zum Teil nachts, nach Ende der ersten Aufnahmesession, noch bis zu 90 Minuten im Sammeltaxi nach Hause gefahren sind. Manche leben immer noch bei ihren Eltern. Und die, die enttäuschte Generation, die Großeltern, die noch in der Revolution aktiv waren, die Eltern, Akademiker, die sich nichts leisten können, sie raten ihren zur Individualität, zum Weggehen. Aber diese Musiker, Postgraduierte der Kunstuniversität ISA, zu der auch die Musikfakultät gehört, die das Lyceum Mozart seit 2009 mitbetreibt, sie wollen bleiben. Sie haben sich eingerichtet, mit mehreren Jobs. Manche gehen regelmäßig auf Auslandstourneen, wie der wildgelockte Saxophonist Yuniet Lombida, ein kleiner Star, der bei der Tourshow „Carmen Cubana“ auch in Deutschland schon aufgetreten ist, wo es ihm sehr gefallen hat – „aber es ist eben nicht Kuba“. Andere, wie Jenny Peña Campo von den zweiten Geigen, spielen in mehreren Ensembles, und sind auch ab und an projektweise in Europa unterwegs.

Möglich machen das die Salzburger Stiftung Mozarteum, die sich auch an ihrem kubanischen Namensableger nachhaltig engagiert. Vor allem aber die Balthasar-Neumann-Stiftung des Balthasar Neumann-Ensembles, zu dem Jenny, zusammen mit zwei anderen, immer wieder eingeladen wird. Das ist eine Herzensangelegenheit von Thomas Hengelbrock, der mehrere Mal da war, und der wirklich hilft – durch Kontinuität.

Das möchte auch Sarah Willis. Viermal hat sie für ihre Fernsehsendung „Sarah’s Music“ hier schon gedreht, einmal auch über das 2016 gegründete Lyceumsorchester, das sie sogleich gepackt und fasziniert hat. „Ich wollte ihn helfen, das sind so wunderbar ehrliche und enthusiastische Musiker, die bessere Instrumente und Aufträge brauchen. Darüber finanzieren sie sich nämlich.“ Aber man kommt in Kuba nur weiter, wenn man bekannt ist, sich Vertrauen erobert hat. Das hat Sarah schnell kapiert. Und ist einfach nach einer Masterclass beim New World Symphony von Miami nach Havanna weitergeflogen: „Das ist ganz billig, nur dauert es auch dieser Richtung Stunden bei der Immigration“.

Vor Ort ist sie mit offenen Armen empfangen worden. Nur was wie machen? Also hat sie auch erstmal Masterclasses gegeben: „The Girl with the French Horn from Berlin. Wer da wohl kommen würde?“ Sie kamen zahlreich aus der ganzen Insel, die Community ist dank What’s Up inzwischen auch hier gut vernetzt. Profis wie Studenten. Und schwupps, waren die Havana Horns gegründet. Klar, dass sie auch auf der CD dabei sein werden.

CD, ja das wurde dann das Kuba-Projekt von Sarah Willis – für sich wie für die Insel. Von einem Teil den Platteneinkünfte für das Orchester sollen Instrumente gekauft werden Die Outhere Music Foundation wird Streichersaiten spenden. Im Sommer, parallel zur Veröffentlichung geht es auf Europatournee nach Amsterdam, zum Schleswig Holstein und zum Rheingau Musikfestival, zu Young Euro Classics nach Berlin.  Sie hat das alles organisiert, die Unterkunft gefunden, Fotografin becirct, sehr gute Technik ausgewählt, Tourneeveranstalter, Platten und Fernsehproduzenten sowie TV-Sender überredet. Und sogar noch für den letzten Rest Finanzierung hat sich eine kleine Stiftung in Gestalt des ebenfalls hornspielnden, jetzt sich hier freuenden Roland Goeder gefunden. Mozart y Mambo, seriös klassisch aber mit Cuba Touch. Es darf in Hüften wackeln, und gesungen wird auch.

Zum Beispiel heute Abend, den es gibt zu den CD-Aufnahmen diverse Nebenaktivitäten, zum Beispiel ein öffentliches, mitgefilmtes Konzert, einen Flashmopp und eine 30-Minuten-Dokumentation. Alles mit und über Sarah. Und weil sie das als Frontfrau auch zum Teil selbst vorfinanziert, ins hohe Risiko geht, ist es erstaunlich, wie sehr sie es doch auch trotz der deutlich spürbaren Anspannung genießen kann. Sie ist Star, Vehikel, aber auch Anschieberin. Erstaunlich viel klappt und fügt sich, alle sind gut gelaunt, und der launische Solotrompeter, der kurzfristig abgesagt hat, der wird einfach durch den aus dem Orchester ersetzt. Der hat zwar Muffensausen, macht es dann aber ganz prima. Seine Freundin ist mächtig stolz.

Zunächst aber schwirrt Sarah Willis mit Monika Rittershaus durch die Stadt, Fotos für das Booklet machen. Ich gewöhne mich hingegen entspannt an den karibischen Rhythmus, lese und döse. Die Nonnen haben dafür verschiedene Patios, später stelle ich mir einen Stuhl aufs Dach. Da gibt es einen kleinen, liebes- und schleckbedürften Hund, der schwanzwedelnd aus dem Klosterkräutergärtchen herbeitrippelt.

Nachmittags gehe ich ein wenig durch die Altstadt, wo sich Verfall und Touristenlack abwechseln, urige Privatkneipen sich gegenseitig mit ihrer Musikbeschallung duellieren, Cafés einen letzten Rest von Grandezza bewahren, das koloniale wie revolutionäre Erbe gepflegt wird. In manchen Straßen flattern bedruckte Betttücher wie ein Mobile über den Fußgängern, in anderen schweben Schirme: alles fantasievolle Deko von Restaurants, die auf sich aufmerksam machen wollen.

Und um acht Uhr brummt dann das Oratorio, auch Kinder gluckern, es wird viel fotografiert. Beim Mozart-Konzert ist der Applaus noch verhalten, auch die Musiker kommen allzu vorsichtig noch nicht aus der Reserve. Dann folgen die adaptierten und arrangierten Teile, zunächst eine Rondo alla Mambo, das auf dem letzten Satz des 3. Hornkonzerts basiert und zwischen Deutschland, Kuba und Australien seine kreative Geburt erlebte. Jetzt ist das Eis gebrochen, das Publikum geht mit, die lächelnd mitschwingenden Musiker haben sich freigespielt.

Nach der Pause gibt es die Sarahnade Mambo für Horn, Saxophon und kubanisches Krachmachensemble. Furios legen da schon die Kongas los, statt eines kaum aufzutreibenden ständig verstimmten Klaviers swingt ein Keyboard. Jetzt ist Stimmung in der Kirchenbude. Sarah tanzt und singt und spielt, die Erleichterung, dass es so gut aufgeht, ist ihr ins Gesicht geschrieben. Es gibt zwei hübsch arrangierte Lieder, bei denen alle mitsummen.

Dann erheben sich als Zugabe die 14 Hornisten samt Instrumenten aus dem Publikum und spielen im Halbkreis auf dem Podium. eine salsapfeffrige Sahrabanda. Zum Finale trötet dann, deutlich erkennbar, die kleine Mambomusik. Alles wird professionell von Sarah wegmoderiert und noch nonchalanter gespielt. Ihre dritte CD wird das werden, und natürlich die bisher verrückteste und persönlichste.

Doch noch ist es nicht vorbei. Das Konzert schon, das immer wieder zu Erinnerungsfotos innehaltende Publikum lässt sich nur schwer zum Gehen bewegen. Trotzdem wird Muskel- und Nervennahrung im Hof serviert, Audio- und Videoabteilung verständigen sich währenddessen, was wann und wie noch einmal gemacht werden muss.

Und schon geht es weiter, Korrektur- und Neuaufnahmen wechseln sich ab. Zuviel Musik. Mit einem Teil der Crew klingt der zweite Abend in einer nahen Bar bei frittierten Kochbananen mit Salsa und Mango-Daiquiris in milchflaschengroßen Gläsern aus – denn daran herrscht auf Kuba nie Mangel!

Der Beitrag Mozart y Mambo II: Hornistin Sarah Willis kommt auf Touren und Töne – aufgenommen erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


Mozart y Mambo III: Hornistin Sarah Willis schließt auf Kuba ein Herzensprojekt ab – aufgehört

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Es ist vorbei. Sarah Willis verteilt nachts um halb eins im Oratorio Filippo Neri von Havanna Dankeskarten an alle, selbst die Katze, die nachts zuvor in mitten in die Kadenz gejault hat, würde jetzt eine bekommen. Und angestoßen wird im Kleinen Hof hinter der Kirche, die dem Lyceum Mozartiano als Konzertsaal dient, nicht mit Cuba Libre oder Mojitos, sondern mit eiskaltem Budweiser. Und selbst die Küchenhilfen bekommen noch eine eigens geducktes Bildbillet. Ja, es war sehr anders, hier Mozart und Mambos, aber eben auch Mozart-Mambos aufzunehmen, das war schon ein sehr besonderes Unterfangen. Aber es hat sich gelohnt. Zwei Wochen, in denen man sich immer fragte, wann die umtriebige Hornistin der Berliner Philharmoniker, die nicht nur dauernd spielen musste, sondern auf deren sehnigen Schultern auch ziemlich viel Verantwortung lastet, einmal schläft. Nun aber ist eine ziemlich mitreißende CD im Computer, so zumindest der animierende Eindruck beim Mithören. Und auch Tonmeister Christoph Franke und sein Assistent vom Berliner Teldex Studio sind zufrieden. Die Mozart-Werke, darunter auch das etwas apokryphe Rondo KV 371 klingen plastisch und mitreißend, Sarah, die sich sonst eher als Animatorin denn als Solistin sieht hat ihr Bestes gegeben. Und die jungen Musiker des Orquesta del Lyceum de la Habana klingen saftig, sind rhythmisch im Lot, spielen mit Verve und Esprit. Jetzt werden an jeder Ecke Fotos gemacht und gleichzeitig Kabel gerollt, letzte Honorare bar bezahlt. Und die sehr gut deutschsprechende Orchestermanagerin Gabi wundert sich einmal mehr, wie deutsch effizient das alles funktioniert hat: „Wie haben zum Beispiel gar keine Tonmeister, bei uns schaut man nur das das Equipment richtig aufgebaut ist, ob wir richtig oder falsch spielen, darum müssen wir uns selbst kümmern.“

Für „Mozart y Mambo“  war freilich mehr zu tun und zu organisieren als nur Aufnahmen. Sarah Willis hat das gut durchgeplant und erkannt. Auch die Optik ist für eine solche exotische Location wichtig, hier wird nicht nur Musik präsentiert, sondern auch eine Geschichte erzählt. Die Major haben da schnell abgewunken, zu komplex, passt nicht ins Konzept, aber Outhere mit seinen diversen Labeln, fand das ein spannendes Projekt und beteiligte sich für sein Inprint Alpha Classcis.

Der aus dem operativen Geschäft ausscheidende Gründer Charles Adriaenssen ist auch vor Ort, sucht nach kubanischen Verbindungsleuten, interessiert sich für die Konzertarchive. Danach geht es für ihn nach Mexiko weiter, Südamerika, das ist für ihn künstlerisch und marktstrategisch noch ein Platz mit Zukunft.

Nach dem erstem Aufnahmetag, Konzert plus Korrekturen, stand für alle Beteiligten etwas Ruhe auf dem Programm, auch der Himmel schickte nachmittags einen kräftigen Schauer, der die Luft klärte. Doch vor dem Kloster spielten die Salsabands und Perkussionstruppen in den Restaurants und auf den Straßen von Habana Veja einfach weiter. Und auch im Domizil von Sarah & Friends sangen Kinder eine ziemlich bunte Weihnachtsliedermischung.

Währenddessen gibt die technische Arbeit weiter. Die Dokufilm-Crew  war mit Sarah und allein in der Stadt unterwegs um schönen Kubabilder zu finden, andere checkten schon mal das Material durch. Audio-Files wurden nach Deutschland geschickt, Pläne und Kalkulationen gemacht. Für die meisten hier war das harte Arbeit, trotz der nach wie vor traumhaften Urlaubskulissen. Abends, natürlich wieder erst ab zehn Uhr wurde bis spätnachts weiter aufgenommen. Jetzt die populären Songs. Auch das mit großem Enthusiasmus wie Disziplin.

Am nächsten Morgen steht für Sarah Willis das Cover Shooting mit Monika Rittershaus an, man hat einen blauen Oldtimer gemietet, es geht, gut sichtbar mit Horn vor die Kuppel des Capitols und vor diverse Graffiti, die hier in Cuban Style die bröckelnden Hauswände zieren. Und um halb vier am Nachmittag gibt es einen für die Kameras lohnenden Flashmob vor dem Oratorium.

Lieber hätte man den vor der Kathedrale von Havanna abgehalten, aber diese Genehmigung war dann doch nicht zu bekommen. Die Konzertkirche liegt zwar nur einen Block neben der Osbisbo, die die Altstadt in Querrichtung von Hemingways La Floridita-Bar mit den angeblich besten Daiquris bis zum schön historischen Platz der Armeen durchschneidet, aber trotzdem verlaufen sich hierher nur wenige Menschen.

Doch das stört nicht. Das Orchester hat auch Outdoor seinen Spaß, spielt unverdrossen, Sarah tanzt, die Geigen marschieren separat ein, immer wieder bis Bildregie und Fotografen zufrieden sind.

Und noch zwei weitere Nächte lang wird aufgenommen. Sarah Willis verteilt Smarties und Schweizer Schoggi, die sie beim Umsteigen in Zürich immer für Kuba en gross einkauft. Und schon lächeln wieder alle. Mit dem Ersatztrompeter, der launische Star, der zum Konzert absagte, hat sich nur andeutungsweise entschuldigt, verbindet sich Sarahs Horn klanglich ganz fabelhaft. Man spielt auf einem Atem.  

Später sind dann die Kadenzen für das Hornkonzert dran. Erstaunlich ausgeruht bläst Sarah Willis, die mit großer Ruhe. Und dann ist Dirigent José „Pepe“ Antonio Mèndez Padrón dran,  auch der bekommt sein Säckchen von Sarah – mit Leinsamen und anderen Körnern, ebenfalls aus Deutschland mitgebracht, denn er backt sein Brot selbst. Ist solches das Ergebnis, wenn man bei Peter Gülke und am Salzburger Mozarteum studiert hat?

In einer Pause erzählt Pepe vom Klassikleben auf Kuba. Erist Chef eines weiteren regionalen Klangkörpers und dirigiert auch das Nationale Sinfonieorchester, doch mehr Zukunft sieht er in den Projekten des Lyceums. Hier hat er seit 2015 jährlich sein eigenes Festival Mozart Habana, dieses Jahr hat man sogar „La Clemenza di Tto“ gestemmt, natürlich mit diesem Kammerorchester. Nächstes Jahr gastieren sie damit im Kennedy Center in Washington. Seine Musiker sind so gut wie motiviert: „Sie brauchen nur bessere Instrumente. Und Saiten. Ein Mädchen, das auf einem Elektrokabel spielte hat sich schrecklich verletzt, als das riss und ihr scharf ins Gesicht schlug.“

Es geht in die Zielgerade. Keine Müdigkeit ist zu erkennen. Die TV-Leute und die Fotografin sind schon abgereist. In der letzten Session gibt es nochmals einheimische Musik, nur noch ein kleines Ensemble ist da. Und dann tönt die Stimme des Tonherren: Fertig. Alles gut. Das war’s.“ „Dies war die tollste Sache meines Lebens“, jubelt Sarah. „Ich danke euch allen. Wir sehen uns wieder zur Tournee im Sommer.“ Darauf ein Bud. Und ein letztes Mal durch die Straßen des fast menschenleeren Havanna. In denen es irgendwie nach Mozart klingt.

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Nicht ohne meine Puppe: Nikolaus Habjahns ungewöhnliche „Salome“-Inszenierung im Theater an der Wien

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Wir lieben sie, die Wiener Weltopernprovinz. Da steht am gleichen Abend die fast 50-jährige „Salome“-Inszenierung von Boleslaw Barlog in der Staatsoper auf dem Spielplan. Die hat den bereits dritten Dirigenten angekündigt, und so richtig frisch riecht die einst neue Idee Jürgen Roses, den Strauss-Schwulst in den heute zum Touristenkitsch geronnenen Wiener-Klimt-Jugendstil zu kleiden, auch schon lange nicht mehr. Immerhin kommt Pultmeister Dennis Russel Davies pünktlich – anders als abends zuvor zum „Lohengrin“ der notorisch verspätete Valery Gergiev, der von Opernchef Dominique Meyer prompt durch einen anderen ersetzt wurde. Im Theater an der Wien, da spielen sie freilich auch die nagelneue „Salome“, in einer provinziell reduzierten Version. Was für den geschäftstüchtigen Strauss Recht und für die Theater von Plauen bis Kiel billig war, um auch in den klangekstatischen Genuss der verworfenen, prophetenkopfkürzenden Prinzessin von Judäa zu kommen, das funktioniert jetzt, wo Strauss gerade rechtefrei wurde, in dem trockenen Raum so gar nicht. Obwohl man extra Eberhard Kloke mit dieser neuen Rumpffassung beauftragt hat. Statt 105 spielen jetzt 59 Musiker, trotzdem wurde neue Instrumente wie Heckelphon, Altflöte, Kontrabassklarinette und Wagnertuben hinzugefügt. So grummelt es noch vehementer und expressiver in der Bläserfraktion, zuungunsten der Streicher, denen jeder Pailettenflitter, alle tönende Sinnlichkeit und Erotik-Raffinesse verlorengeht. An der ist freilich der meist ziemlich pauschal dreinschlagende, sich in lauten Klangballungen gefallende Leo Hussain am Pult des rustikal aufspielenden ORF-Radio-Symphonieorchesters nicht sonderlich interessiert. Und auch Regisseur Nikolaus Habjahn nicht. Der will aber erklären und entschuldigen: Salome als Opfer, statt Täterin. Nicht ohne ihre Puppe.

Fotos: Werner Kmetitsch

Habjahn steht in dieser zweiten Vorstellung sogar mit auf der Bühne. Er spielt den Narraboth, während der mutige Paul Schweinester, eigentlich nur und später dann auch der Erste Jude, von der Seite ansprechend für den erkrankten Martin Mitterrutzner singt. Dieser Hauptmann ist gekleidet wie ein Portier, sein diensteifrig verzitterter Page (Tatiana Kuryatnikova) wie ein Bell Boy: Willkommen im Themenhotel Dekadenz.

Dessen Exterieur Julius Theodor Semmelmann freilich eher minimalistisch und streng symmetrisch gestaltet hat. Alles betonklare Kontur, eine hohe, fast schmucklose Fassade, die nachher drei Öffnungen hat. Davor eine von rohen Mauern gerahmte und von der Außenwelt abgeschottete Treppenanlage, in der Mitte die Prophetenzisterne, erlaubt vielfältige Bespielung. Einzige Elemente, die von früheren Orgien künden: Blütenblätter und ein toter weißer Pfau, die aus einem Historienschinken von Lawrence Alma-Tadema übrig geblieben sein könnten.   

Habjahn inszeniert hier, die zweckdienlichen Kostüme von Cedric Mpaka machen wenig her, ganz zeitgenössisch geradlinig, ohne größte Deutungspirouetten. Sein Markenzeichen, die Puppen, sind doch wieder vertreten. Allerdings nur zweimal und sie machen Sinn. Zum einen trägt Salome, pornchic gekleidet in eine geraffte Seventies-Robe und lila Blockabsatztreter, ihr Alter ego als Klappmaul mit sich – so etwas wie ihr hässlich in die Jahre gekommenes, schlechtes zweites Ich, verschrumpelt, mit schlangenkalten Glitzeraugen der verdorbene Teil dieser verführten Kindfrau. Der sich an Naraboth wie den Propheten heranmacht.

Jochanaan erscheint wirklich als ausgemergelter, vielleicht mal schöner Puppenjüngling, bei dem man jede Rippe zählen kann, nur die Augen glühen tief in den Höhen. Er hängt als fast nackter Fetisch wie leblos am Zisternendeckel, welcher in der Untersicht spiegelnd nun als Mondersatz über der Szene schwebt, bis er zum Schluss hinter dem Palast vom monströs käsigweiß durchlöcherten Himmelstrabanten ersetzte wird. Bewegt wird dieser Prophetenpopanz nur ganz wenig vom mit ordentlichem Volumen, aber wenig balsamisch singenden Johan Reuter. Der ist in einem schwarzen Ganzkörperanzug quasi nicht vorhanden, bleibt aber auch dann noch da, als Jochanaan wieder im Loch verschwunden ist, nimmt Anteil, hält die Salome-Puppe, und später auch sein abgeschlagenes Haupt. Nur als dieses endgültig von der lebendigen Salome okkupiert und mit Küssen überhäuft wird, während es mit seinem stetig fließenden Kunstblut ihren weißen Unterrock nässt und färbt, da fällt des Propheten Leib leblos auf die Stufen.   

Salome, jetzt nur noch Prinzip, auch den lustzuckenden Herodes (etwas tenorüberdreht: John Daszak, mit Michael-Jackson-Glitzerhandschuhen), den noch die Puppe befriedigte, hat sie hinter sich gelassen, das ist, mit rotem Bubikopf, fast ungeschminkt, mehr Mädchen als Verführerin – Marlis Petersen. Und nach ihrem Münchner Debüt unter dem zurückhaltenden Kirill Petrenko singt sie diese Grenzpartie neuerlich sehr besonders und anders: Wieder gibt  sie sich unschuldig und doch wissend, raffiniert und intuitiv, schutzbedürftig und angriffslustig, passiv und offensiv. Klein, fein, durchdringend. Ein weißliches, nicht sinnliches Timbre, aber mit einer leuchtenden, sirrend klaren Kraft im Vokalkern. Aber diesmal  ist sie geradliniger, mehr Medium als Täterin, reflektierend. Eine schöne Teilnahmslose, die sich wundert, wohinein sie da geraten ist.

Ihre Mutter kann ihr auch nicht helfen. Die orgelnde Michaela Schuster sitzt mit flammendroter Sonia-Rykiel-Perücke meist statuarisch rum, am Ende krümmt sich Salome in der Ecke, wartet auf den tödlichen Schuss oder Stoß. Der kommt nicht. Sie muss weiterleben, die Puppe liegt wie tot in der Ecke. Was aber bleibt von Salome?

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Ausgetanzt: Johannes Öhman und Sasha Waltz flüchten bereits Ende 2020 vom Staatsballett Berlin

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Und schon wieder steht der Tanz in Berlin – und auch die damit betraute Kulturpolitik in Berlin – vor einem Scherbenhaufen, es ist der erste nicht: Die beiden Intendanten Johannes Öhman und Sasha Waltz schmeißen ihre Posten beim Staatsballett zum Ende 2020 hin und treten damit vor allem ihre Tänzer mit den Füßen. Überraschend kommt das kaum. Das teure Doppelduo war überflüssig und fehl besetzt. Vor allem mit der der längst kreativ nachlassenden, sich von ihren Fans gern als Pina-Bausch-Nachfolgerin feiern lassenden Sasha Waltz. Die in Berlin auf kaum glaubliche Weise gepäppelte Künstlerin ist einfach zu ballettfern, um hier am richtigen Platz zu sein. Anderseits suchte man für sie offenbar einen Versorgungsposten, weil die Kulturpolitik es nie geschafft hatte, für die in den Neunziger- und Nullerjahren für die Stadt mit ihrer Truppe Sasha Waltz & Friends weltweit Ruhm einfahrende Künstlerin eine stabile Arbeitssituation zu schaffen. Anderseits wollte Waltz auch lieber autonom bleiben, trat schon nach vier Jahren Kointendanz mit Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne im Streit dort wieder ab. Mit ihrem Mann und gewiefte Kulturnetworker Jochen Sanding okkupierte sie stattdessen ein altes Industriedenkmal am Spreeufer und ließ es sich als Radialsystem schön herrichten.

Nachdem die ebenfalls von Anfang an schlecht laufende Intendanz des ausgebrannten Extänzers und Choreografen Nacho Duato am Staatsballett 2018 vorfristig endete, zog die Politik als lokale Lösung Sasha Waltz aus der Namenskiste. Die freilich konnte nicht sofort anfangen und holte sich als Ballettfachmann den ihr gewogenen, nicht sonderlich bekannten Schweden Johanes Öhman mit ins Boot, der in Göteborg und Stockholm mit leidlichem Erfolg die Ballettkompanien geführt (und gern auch Waltz eingeladen) hatte.

Öhman begann relativ rasch im verunsicherten Staatsballett, wo man zunächst mit spektakulären Demos einiger Ballettschulenmütter und Petitionen in den eigenen Tänzerreihen den Aufstand geprobt hatte, in einer absurden, Zeitgenossenschaft versus Tradition auszuspielen vergiftete Atmosphäre. Die toxischen Wolken klärten sich rasch, sein Notspielplan griff. Die Truppe fing sich wieder, mit Alexei Ratmanskys „Bajadere“-Rekonstruktion und einer ebenfalls historistischen „La Sylphide“ wurden die wunden Klassikgemüter besänftigt, und auch die Moderne-Fans bekamen moderat Futter.

Zum Sommer 2019 stieß dann La Waltz verantwortlich dazu. Kurz darauf wurde freilich bekannt, dass die einzige geplante Klassikproduktion dieser Spielzeit, Marcia Haydees altes Stuttgarter „Dornröschen“, auf 2020/21 verschoben werden musste, da man sich offensichtlich beim Ausstattungsetat verhoben hatte. Sasha Waltz hingegen hat sich beste Bedingungen ausgemacht, um zu einer Auftragspartitur von Georg Friedrich Haas eine neue, spektakuläre Uraufführung zu stemmen. Mit Staatballettmitteln, aber nicht zu dessen Konditionen, war zu hören.

Während Öhman in dem einen Jahr Alleinintendanz einigermaßen angekommen war, funkte nun die Walz dazwischen, nicht eben als Teamplayerin bekannt. Von Auseinandersetzungen mit den Tänzern, Gruppen in der Gruppe, war zu hören, und auch von Friktionen mit Öhman, den sie eifersüchtig beäugt haben soll. Derweil lief es im Spielplan nicht richtig rund. Eine Uraufführung des bereits am Berliner HAU eingeführten Jefta van Dither musste wegen Terminproblemen durch ein altes, sehr performatives Stück ersetzt werden. Eine Dreierabend wurde auf zwei Premieren gestreckt, die beiden Uraufführungen von Sharon Eyal und Alexander Ekman blieben weit unter deren sonstigem Niveau. Ein extra engagierter klassischer Startänzer wie Daniil Simkin hat bis heute keine einzige Premiere getanzt.

Trotzdem wurde das alles schön geredet, mit viel Geklüngel und nur vier Stimmen wurde man gar von der Fachzeitschrift „tanz“ zur „Kompanie des Jahres“ hochgejodelt. Während hinter den Kulissen offenbar bereits alles auseinanderbracht. Was natürlich auch eine Flucht nach vorn ist, kann Johannes Öhman nun als Gewinn verbuchen: Er hat seine Berliner Zeit offenbar auch mit Jobsuche verbracht und verbessert sich jetzt – zumindest für einen Schweden. Er wird mit Beginn des kommenden Jahres das Dansens Hus in Stockholm als neuer Geschäftsführer und zugleich künstlerischer Leiter führen. Das ist so etwas wie skandinavischer Tanzpapst. Schön für ihn.

Und weil Sasha Waltz ohne ihn kaum Rückhalt hat und nicht in der Lage ist, den Laden allein zu schmeißen, wirft sie eben auch hin. Verantwortung eines Intendanten? Egal! Die eigene Karriere geht vor, es leben das Job-Hopping. Die Leidtragenden? Die Tänzer natürlich, die jetzt kopflos in der Luft zappeln. Mal wieder.

Es ist so traurig: In Zürich reüssiert der choreografisch gar nicht so tolle, aber offenbar als Direktor sehr gute Christian Spuck. Der deutschsprachige Starchoreograf Martin Schläpfer, der durchaus an Berlin interessiert war, hat sich inzwischen auf einen Himmelfahrtskommandoposten an die Wiener Staatsoper engagieren lassen, wo er zudem noch für die von #MeToo-Skandalen erschütterte Ballettschule verantwortlich ist. Das verwaiste Düsseldorf hat sich Demis Volpi geangelt, die Dramaturgin BettinaWagner-Bergelt hat Wuppertal übernommen (auch wenn dort die Skandalsauce um die unrechtmäßige Entlassung von Adolphe Binder weiter köchelt); selbst der schwierige Marco Goecke scheint in Hannover gut angekommen.

Und was ist jetzt in Berlin? Neuerlich eine Zeit der sehr kleinen Tanzsprünge. Und wer soll ab Januar den in den Dreck gefahrenen Staatsballett-Karren übernehmen? Man weiß es nicht!!

Wahrscheinlich muss jetzt wieder die graue, unkündbare Eminenz Christiane Theobald ran, die schon den ukrainischen Starballerino Vladimir Malakhov als Kodirektorin schlecht coachte und für das Duato-Debakel verantwortlich ist. Der Morgen des Tanzes scheint also weiterhin anderswo gedacht zu werden als in Berlin.

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Mahler mit Röntgenblick: 2014 hat er sie abgesagt, jetzt dirigierte Kirill Petrenko bei den Berliner Philharmonikern endlich die Sechste

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Mehr Erwartungshaltung geht nicht: Mit Gustav Mahlers 6. Sinfonie, der „Tragischen“ debütierte Simon Rattle einst bei den Berliner Philharmonikern und damit beendete er auch nach 16 Jahren seine Chefdirigentenzeit 2018. Seither hat das Orchester sie nicht mehr gespielt. Das 80-Minutenwerk war aber auch Ende 2014 für ein Kirill-Petrenko-Konzert angesetzt, das er dann freilich absagte. Trotzdem wurde der Russe zum neuen Chef gewählt. Und jetzt, diese Saison hat er endlich begonnen, begann stand diese, den ersten Weltkrieg so brutal und fatal vorausahnende Sechse also nun mehr als fünf Jahre später endlich an. Es ist gerade Petrenko-Zeit. Der Chef, den man sich noch mit der Bayerischen Staatsoper teilen muss, er hat ein überraschendes Silvesterkonzert mit Musik des Great American Songbook hinter sich, von Rodgers, Loewe, Weill (wunderbar melancholisch: die „Lady in the Dark“-Suite), Bernstein, Gershwin und – ein Säbeltanz muss sein – Waxmans Kosakenritt aus „Taras Bulba“. Auch Diana Damrau sang ganz liebreizend in wechselnden, nicht immer geschmacksicheren Kleidkreationen. Dann folgte ein alter Bekannter aus Komische-Opernzeiten, Josef Suks „Asrael“-Sinfonie, gepaart mit dem altersmüden Daniel Barenboim in Beethovens 3. Klavierkonzert. Als nächstes unternimmt Petrenko ein Jugendprojekt rund um Puccinis „Suor Angelica“, die er mit den beiden anderen „Trittico“-Teilen auch schon München dirigiert hat, Strawinsky, Zimmermann und Rachmaninow stehen auf dem nächsten Abbo-Programm im Februar, dem eine Deutschland-Tour folgt. Und Anfang April geht es schon mit Beethoven in Baden-Baden los!

Mahler also. In der Binnenreihenfolge gibt es erst das Andante, dann das Scherzo, der dritte Hammerschlag fehlt. Dafür geht es gleich mit beängstigender Perfektion los, was die übermotivierten Philharmoniker natürlich spielend beherrschen und auch hyperpräsent performen. Allegro energico. Heftig, aber markig, hier eher markig und heftig. Das ist Mahler in 4K, gestochen scharf, hart, konturenklar, wie gemeißelt. Mit militärkapellmeisterlicher Akkuratesse marschiert die Hundertschaft voran, wenn sie nicht sitzen würde. Petrenko ist ganz da, hat alles im Griff, lässt aber auch nie nach. Sicher, liefert das Choralthema ein wenig Entspannung, dann kann er auch weniger geben, das Wienerische in Mahler kann er schon, aber lange Leine ist nicht.

Er will alles richtig machen besteigt trittsicher diesen sinfonischen Achttausender, aber irgendwie macht das auch gruseln, so fehlerfrei und instinktpunktiert tönt das. Gefährlich pulsieren die Grellheiten, aggressiv lösen sich die Stimmgruppen ab, brodeln gemeinsam in diesem pessimistischen Klanggebirge.

Das Adagio bringt kein Nachlassen, nur weitere tiefenpsychologische Analyse über Masse und Macht innerhalb eines Monsterklangkörpers. Es fehlt dabei das Mythische, das Metaphysische, auch die Melancholie, die mögliche Melodik, die diese Musik momenteweise markiert. Makellos hält Petrenko die Balance im Scherzo, selbst die Ländler-Augenblicke bleiben aber grimmig blitzend, der nostalgische Blick auf die Welt von Gestern ist einer mit dem Röntgenauge.

Unangenehm unentspannt türmt sich schließlich das Finale, ein Exzess bockiger Durchdringung. Da wird viel gearbeitet, das hört man, dieser Mahler ist selten ein philosophischer Trip, da wird in klarstem Licht Struktur analysiert, nachgebildet, geformt. Und man meint, die Brillanz, mit der Kirill Petrenko das vollführt, fast greifen zu können, so deutlich steht sie im Raum. Atemberaubend ist das, aber irgendwie noch unerfüllt mit einer tieferen Bedeutung.

Wenn es mal sackt, wenn sich Abgründe der Moderne, Löcher vergangener Romantik auftun, dann eher weil die Musiker mit ihrer überreichlichen Mahler-Erfahrung wenigstens menschlich phrasieren, Atem spürbar wird, der Wunsch, innezuhalten. Petrenko aber eilt leichtfüßig, ja tänzelnd, aber gnadenlos wuchtig voran. Und selbst die Herdenglocken scheppern nur, die Bläserchöre knattern, höchstens die Posaunen gestatten sich kurz vor Schluss ein paar Schleifer. Wie oft hat sich Kirill Petrenko diese Sinfonie schon untertan gemacht? In Vorarlberg, 2014 in München und jetzt. Seine Schicksalssinfonie. Der nun noch sehr viel mehr Mahler-Praxis folgen muss. Das Visionäre, nicht nur das Gekonnte. Aufregend, dabei zu sein.  

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Wuppertaler Frauen und Männer passen nicht zueinander: Endlich darf Pina Bauschs radikaler „Blaubart“ von 1977 wieder gespielt werden

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Beim Wuppertaler Tanztheater wird weiterhin gekämpft. Auf der Bühne ist das nichts Neues, gehören doch die Auseinandersetzung der Geschlechter zum festen Standardthemenrepertoire eines Pina-Bausch-Stücks. Doch auch hinter den Kulissen kracht es nach wie vor. Adolphe Binder, die auf beispiellose Art innerhalb des Hauses gemobbte und mit willfähriger Pressehilfe von der Stadt geschasste Intendantin, hat auch die dritte gerichtliche Auseinandersetzung gewonnen. Ende Januar steht das endgültige Arbeitsgerichtsurteil an, nachdem Stadt und die von ihr massiv instrumentalisierte neue Kompanieleitung sich weigern, wie vom Gericht angemahnt, auf Binder zuzugehen. Ein Kompromiss scheint nicht mehr möglich. Einige der sich nicht weiter bevormunden lassen wollenden, wie Statisten behandelten Tänzer haben inzwischen gekündigt. Die Vertragsauszahlung samt einer saftigen Abfindung für den fast ruinierten Ruf Binders wird wohl fällig werden. War aber die intrigenstadelige Stadt Wuppertal nicht fast pleite? Egal, jetzt hat man, die aktuelle Spielzeit ist dem 10. Todestag der Gründerin gewidmet, erst einmal die letzte Premierenplanung Binders umgesetzt: weil endlich die deutsche 70-Jahre-Schutzfrist des letzten, am Werk rechtlich Beteiligten abgelaufen ist, wurde nach 26 Jahren im Opernhaus endlich der 1977 herausgekommene, seit 1986 nicht mehr gesehene „Blaubart“ wiederaufgenommen, ja rekonstruiert. Es wurde ein mit stehenden Ovationen begeistert beklatschter Triumph – für das revolutionäre Werk, wie auch für das beglückend junge Ensemble.

Fotos: Klaus Dilger, Heinrich Brinkmöller-Becker, Evangelos Rodoulis

Was für eine Wucht muss diese wütende, kaum komische Arbeit vor 43 Jahren gehabt haben! „Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper ,Herzog Blaubarts Burg’“, so der komplette Titel, bricht auch heute noch mit vielen Regeln der Theaterkonvention. Es ist eben keine Operninszenierung mit tänzerischen Mitteln, es ist eine fragmentierte und gleichzeitig verlängerte Auseinandersetzung mit dem Blaubart-Mythos unter stark atmosphärische Zuhilfenahme und gleichzeitiger Respektierung des Bartók-Einakters, der hier auf die doppelte und damit abendfüllende Spielzeit kommt. Und zum vollgültigen Opus wird, das sonst immer verlängert werden muss – durch die veränderte Wiederholung (Herbert Wernicke), die lakonische Alleinausstellung (Peter Konwitschny), die Ergänzung durch andere Einakter, zum Beispiel Poulencs „La vox humaine“ (Krzysztof Warlikowski) oder Schönbergs „Erwartung“ (Götz Friedrich, Robert Wilson), eher schräg durch Schubert-Klaviermusik (Andrea Breth) oder gar mit Peter Eötvös’ extra dazu komponiertem Ehedrama „Senza sangue“.

Hier aber, in Wuppertal, bedient der eine Hauptdarsteller ein über die Bühne geschobenes Tonband, hält es an, spult – vor allem in der ersten Hälfte – insistent zurück, beginnt immer wieder von Neuem, reagiert darauf, aber oft auch szenisch anders. Hören sie zu, dieses ineinander verstrickte Paar, plus die elf Männer und zehn Frauen, die sich nach etwa 15 Minuten dazugesellen? Oder spielen Sie da ihren ganz eigenen „Blaubart“?

Es geht um Wahrheit, um eheliches Vertrauen, eben um Mann und Frau. In der Oper will Judith es wissen, sie fragt und fragt, quetscht aus ihrem neuen Mann alle Geheimnisse und Besitztümer, die er hinter sieben Türen verborgen hält, wobei die Musik immer machtvoller, heller und orgiastischer wird. Die letzte Tür offenbart seine anderen, für totgehaltenen Frauen. Das Vertrauen ist zerstört, Blaubarts Macht gebrochen, aber auch die Beziehung am Ende. Judith sitzt allein da, eine Zukunft gibt es nicht.

Hier schleichen erst einmal die beiden namenlosen Protagonisten in den vom schon 1980 verstorbenen Pina-Bausch-Gefährten Rolf Borzik gebauten Raum: ein heruntergekommenes, abgewohntes, ausgeräumtes, schmutzigweißes Zimmer, verkanntet, drei Fenster, zwei Türen, durch die nie jemand herein oder heraustritt. Auf dem Boden raschelt trockenes Laub, der via eines Deckenkabels und einer Rolle auf der ganzen Spielfläche mühelos verschwenkbare, heute total altmodisch anmutende, ja dinosaurierhafte Tonbandwagen, der so auch die Schallrichtung ändert, steht bereit. Lauernd tasten sich die zwei herein, sie in einem fast herunterrutschenden roten Kleid, er in einem feldgrauen Mantel. Oleg Stepanov und Tsai-Chin Yu, eine von aktuell drei Besetzungen, spielen das in der Premiere mit nie nachlassender Intensität in einer dieser wenigen Pina Bausch-Protagonistenrollen.

Kürzlich war – erstmals bei einer fremden Kompanie – beim Dresdner Semperoper Ballett die „Iphigenie auf Tauris“ zu sehen, 1973, im ersten Bausch-Jahr in Wuppertal uraufgeführt. Hier, in Glucks fast um die Hälfte gekürzter Oper mit starken Ballettanteil, stehen Tänzer wie Sänger auf der Bühne, nur der Chor sitzt im Graben, da sind die Ahnen des deutschen Ausdruckstanzes und auch Martha Graham noch stark spürbar. Die Bausch, die wir kennen, ist in dieser wirklichen, durchaus auch heute noch beeindruckend strengen Choreografie, nur in Andeutungen spürbar. Und es ist – ein Stück der Frauen: Iphigenies, der Priesterin, Klytemnästras, Dianas. König Thoas hat wenig zu tun, Bruder Orest und sein Freund Pylades wirken inniger, weicher, als die Damen.

Das ist im „Blaubart“ ganz anders. Yu liegt am Boden, Stepanov sitzt da, Herr über die Musik, kuschelt und krümmt sich aber auch auf dem Bauch seiner, der Frau. Und ist im nächsten Moment brutal zu ihr. Dann kommt die Gruppe hinzu, die Männer in einer sinistren Polonaise, die Frauen, die immer wieder ihre seltsam kostümhaften Kleider fallen lassen, meist unter ihren offenen Haaren verborgen. Das wird, je mehr Judith, die drauf besteht, Blaubart zu lieben, gerade deshalb nach Erkenntnis über ihn sucht, zusehens aggressiver. Der Tanz greift immer mehr um sich, zieht Kreise, die Paare verschlingen und verkeilen sich, im Gesellschaftstanz, aber eben auch im Geschlechterkampf – bis die Frauen buchstäblich die Wände hochgehen, die Füße in kleinen Klappen.

Ein frühes Bild einer Dystopie samt Kissenschlacht, zu abstrakt aufgefassten, aber eben auch durch ihre deutsche Textfassung sehr konkret gespiegelten klassischen Bartók-Aufnahme von 1958 mit Dietrich Fischer-Dieskau und Hertha Töpper unter Ferenc Fricsay. Es wird das letzte Pina-Bausch-Stück mit erkennbaren Rollen sein, das letzte mit einer klassischen Musikvorlage, das finale nach einem bekannten Stoff. Denn hier hat sie ihre Sprache gefunden, es wird auch schon ein wenig gesprochen, ihr nächstes Werk ist dann Programm: „Komm tanz mit mir“. Dieses einzigartige choreographische Theater aus Improvisation, Spiel, Sprechen, Tanzen zur einer süffigen Musikcollage, hier steht es vor der Tür, mit den typischen Bausch-Momenten, wenn sich die Frauen an Blaubart kuscheln und „danke, danke“ schnurren. Oder wenn die Männer in bunten Slips machomäßig lächerlich an der Rampe posieren. Sogar die „Reise nach Jerusalem“ wird erstmals gespielt. Aber noch einmal misst sich dieses Tanztheater in the making an einem Klassiker. Und besteht.

Weil Pina Bausch die Vorlage als Material ernst nimmt, sie aufbricht und intensiviert. Das blumig symbolistische Libretto aus den Zwanzigerjahren abstrakt, nüchtern, kalt und doch grandios klar wie im Labor seziert, auf seine Essenz reduziert, kommentiert, choreografiert. Man rennt gegen die Wände – aber mit und zu Bartók. Eminent musikalisch übrigens, und trotzdem abstrakt, nie nacherzählend. Am Ende, in der letzten halben Stunde, wenn  – das Saallicht ist angegangen – Blaubart über die plötzlich passive Judith, die Kleider der anderen Frauen zieht, sie in einem Kokon aus Stoff dingesfest macht und ruhig stellt, dann aber die Bewegungslose über die Bühne zieht, bis sie an der hinteren Tür enden, während die Gruppe immer wieder in Posen einfriert, wenn Blaubart klatscht, dann läuft die Musik soghaft durch, verdichten und überlagern sich Klänge, Aktionen und Bewegungen. Judith und Blaubart haben einander verloren, die Bausch-Paare aber werden, immer neu gemischt, sich streiten und weitertanzen.

Nachher, bei der Premierenfeier, da standen sie da, die vier Einstudierer, Jan Minarik, der damals den Blaubart getanzt hatte, Beatrice Libonati, Barbara Kaufmann und Heléna Pikon. Alt gewordenen Tanztheaterheroen. Ganz im Gegensatz zu der energetischen, radikal jungen Besetzung, fast die Hälfte Folkwang-Schüler, die sich mit Furor die Bühne und die Bausch erobern. Keinen Moment ist dieser „Blaubart“ alt geworden. Die 43 Jahre Lebenszeit stehen ihm ganz wunderbar, frischer denn je. Und am Ende, da läuft lakonisch die abgespielte Tonbandspule schlackernd leer. Und eine nackte Kinderpuppe schaut zu.

Mal sehen, wie gleich diesen Samstag an der Bayerischen Staatsoper die gern mit Kameras arbeitende Katie Mitchell mit dem „Blaubart“ umgehen wird. So puristisch macht sie es jedenfalls nicht. Sie schaltet Bartóks Konzert für Orchester dem Einakter vor, macht „Judith – ein Opernthriller“ daraus. Die Pina-Bausch-Latte aber, sie liegt sehr weit oben.

Der Beitrag Wuppertaler Frauen und Männer passen nicht zueinander: Endlich darf Pina Bauschs radikaler „Blaubart“ von 1977 wieder gespielt werden erschien zuerst auf Brugs Klassiker.

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