Ein immer noch kaum bekanntes Meisterwerk aus Georg Friedrich Händels bester Opernzeit, Mitte der 1720er Jahre, ist dessen „Rodelinda“. Eine komplexe, klangsatte Intrigengeschichte mit Liebe, Hass und Meuchelmord am langobardischen Königshof im frühmittelalterlichen Mailand. Innerlich, düster, voll von melancholischer, selten glänzender Melodik. Von ihren spanischen Premierenursprüngen aus Madrid über Barcelona kommend, macht diese Koproduktion nun an der Opéra de Lyon Halt, bevor sie im Frühjahr die Oper Frankfurt erreicht. Und neuerlich geht es einem in der hochgelobten Inszenierung von Claus Guth als professioneller Zuschauer wie so oft: Man bewundert den Kunstverstand, die fast musterschülerhaft perfekte Umsetzung. Doch nach einer halben Stunde hat man das Prinzip verstanden, allzu schablonenhaft und vorhersehbar gleichförmig spult es sich dann ab. Da können auch die überwiegend vorzüglichen, darstellerisch wie vokal präsenten Sänger nicht gegen das Konzept aufbegehren. Irgendwo fehlt szenisch das bebende Herz, das hier musikalisch so schön zu spüren ist. Zumal Christian Schmidt einmal mehr seine klassizistisch kahlen Schmidt-Salons modifiziert hat – diesmal immerhin in Gestalt eines ganzen, natürlich rotierenden Weißen Hauses. Das erweist sich freilich – trotz vorherrschend gleißender Kühle – als sinistre Puppenstube. In der beschwört Flavio, sonst eine stumme Kinderrolle, zeichnerisch die Geister, welche seine dysfunktionale Familie umtreiben, und scheint sie dann real zu sehen.
Ein Sternenhimmel strahlt, doch dieses anonym anmutende Domizil mit seinem im Leeren hängenden Zimmern, seinem gigantisch sich türmenden Treppenhaus und seiner abweisend symmetrischen Fassade, es ist auf schwarzer Asche gebaut. Und es verdüstert sich immer wieder. Die dynastische Geschichte aus der Zeit der Langobarden wird in ein Fantasy-Hier-und-Jetzt verlegt, wo unten das manisch seine Alpträume zeichnende Kind (fantastisch präsent, wie eines dieser fiesen Gören aus dem John-Carpenter-Film „Das Dorf der Verdammten“: der kleinwüchsige Schauspieler Fabián Augusto Gómez Bohórquez) apathisch am Tisch sitzt und oben die Mutter Rodelinda sich depressiv im Bett in die Uniformjacke des vermeintlich vom Bruder und Nebenbuhler Grimoaldo getöteten König Bertarido kuschelt.
Dass es hier um Herrscher geht, deuten höchstens ein paar Pappkronen an. Diener und ratgebende Speichellecker wuseln zudem herum, komplettieren die überschaubare Personenzahl, gekleidet in unbarmherzig Gut und Böse trennendes Schwarz wie Weiß. Das erinnert mit seinen draculahaft hinkenden, buckelnden Männergestalten mal ein wenig an Kinderzeugs wie „Graf Zahl“ oder „Hotel Transsilvanien“, die totenschädelig grinsenden Gespenstermasken könnten aber auch von Tim Burton sein. Nur die schablonenhafte Reisbrett-Choreografie ist original Claus Guth/Ramses Siegl.
Als timider Tyrann Grimoaldo, der allerdings Charme hat, umwirbt der geschmeidig tenorstarke, aber ein wenig monochrom tönende Krystian Adam die abgesetzte Königin Rodelinda. Mit ihrem flackrigen Sopran gewinnt Sabina Puértolas immerhin im zweiten Teil an Gestalt und Vokalkontur. Zum Höhepunkt gerät das einzige Duett des Abends, die traumschöne Wiederkennungsszene des Ehepaars Rodelinda-Bertarido am Ende des zweiten Aktes, die Guth sehr poetisch auf halber Höhe, wie der Welt enthoben, platziert: „Io t’abbraccio“ – „Ich umarme dich“.
Den Ex-Potentat mit blonder Perücke singt gewohnt flexibel und wohltönend Xavier Sabata. Vor allem in seinem verzierten Kampfesruf „Vivi, tiranno“ darf er stimmlich abräumen. Als elegant-serviler Garibaldo gefällt der helle Bariton von Jean-Sébastien Bou mit seinen ewigen stelzefüßigen Nachstellereien, die beider Herrscher Schwester Eduige gelten. Die übernimmt mit sonorem, doch leichtem Mezzo kurzfristig die aus der Madrid-Besetzung importierte Lidia Vinyes Curtis. In seinen zwei zart kolorierten Arien lässt der feinstimmige Countertenor Christopher Ainslie als Unulfo aufhorchen.
Im Graben und an der Orgel gibt der in Lyon besten bewährte Geiger und Dirigent Stefano Montanari dem klanglichen Händel-Glück akustisch belebende Gestalt, so fein wie farbig. Die Continuo-Gruppe ist mit Spezialisten besetzt, doch ansonsten schlägt sich das Opernorchester mehr als wacker, tönt, mal festlich, mal melancholisch – auf jeden Fall abwechslungsbunter als es das schließlich in sich selbst kreiselnde Bühnengeschehen bis zum hier halbguten lieto fine vermag. Das nämlich beschwört ein letztes Mal hellsichtig die den gar nicht erlösten Jungen jagenden, Messer zückenden Kindergeister.
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